Leitsatz (amtlich)
Wer Invalide und deshalb nach RVO §§ 1236, 1443 aF nicht berechtigt war, Pflicht- oder freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung zu entrichten, hat auch dann keinen Anspruch auf Anrechnung einer Ersatzzeit, wenn er gleichzeitig arbeitsunfähig krank gewesen ist.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, Abs. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1236 Fassung: 1938-09-01, § 1443 Fassung: 1937-12-21
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. September 1972 und des Sozialgerichts Koblenz vom 7. Juli 1971 aufgehoben. Die Klagen gegen die Bescheide der Beklagten vom 12. Februar und 2. Dezember 1971 werden abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob auf die Rente des Klägers wegen Erwerbsunfähigkeit die Zeit seiner Erkrankung nach dem Wehrdienst vom 6. Juli 1944 bis 31. Januar 1945 als Ersatzzeit anzurechnen ist.
Der am 10. Januar 1916 geborene Kläger, der vor und in dem zweiten Weltkrieg in verschiedenen Tätigkeiten, zuletzt als Bahnunterhaltungsarbeiter, versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist, wurde wegen der Folgen einer Feldnephritis, die er sich als Soldat im November 1943 in Rußland zugezogen habe, am 5. Juli 1944 als dienstuntauglich aus dem Wehrdienst entlassen. Vom 6. Juli 1944 bis 7. Januar 1945 bezog der Kläger, für den auch während der Zeit seines Wehrdienstes in den Jahren 1943 und 1944 an die Reichsbahnversicherungsanstalt Beiträge entrichtet worden sind, von der Reichsbahn-Betriebskrankenkasse Krankengeld. Mit Wirkung vom 1. Februar 1945 gewährte ihm die Reichsbahnversicherungsanstalt Invalidenrente nach § 1253 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF. Invalidität wurde ab 6. Juli 1944 angenommen. Der Rentengewährung lag ein ärztliches Gutachten vom 10. September 1945 zugrunde, wonach der Kläger an einer chronischen Nierenentzündung mit Ödemen um die Orbita (Augenhöhlen), Tachycardie des Herzens (beschleunigte Herzfrequenz) und Hypertonie (Bluthochdruck) litt, deren Symptome seit dem Jahre 1943 bestanden hätten. Nachdem dem Kläger diese Rente zum 31. Januar 1954 entzogen worden war, war der Kläger in der Folgezeit in der Arbeiterrentenversicherung pflichtversichert.
Bei der Berechnung der dem Kläger für die Zeit vom 23. Dezember 1970 bis 30. September 1971 gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit berücksichtigte die Beklagte die Wehrdienstzeit des Klägers in den Jahren 1943 und 1944 als Beitragszeit (Bescheid vom 12. Februar 1971).
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 6. Juli 1944 bis 31. Januar 1945 als Ersatzzeit zu berücksichtigen (Urteil vom 7. Juli 1971). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen, den während des Berufungsverfahrens erlassenen Bescheid vom 2. Dezember 1971, durch den die Beklagte die mit Bescheid vom 12. Februar 1971 festgestellte Rente in der bisherigen Höhe weitergewährt hat, abgeändert und die Beklagte verurteilt, auch bei der Festsetzung der ab dem 1. Oktober 1971 gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit die Zeit vom 6. Juli 1944 bis zum 31. Januar 1945 als Ersatzzeit zu berücksichtigen. Das LSG hat die Revision zugelassen (Urteil vom 29. September 1972).
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1251 RVO.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29. September 1972 und das Urteil des SG Koblenz vom 7. Juli 1971 aufzuheben und die Klagen gegen die Bescheide vom 12. Februar und 2. Dezember 1971 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
Die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet.
Das LSG hat den während des Berufungsverfahrens erlassenen Bescheid vom 12. Februar 1971 gemäß §§ 96, 153 SGG mit in das Verfahren einbezogen und über diesen Bescheid mit entschieden. Es hat dies damit begründet, es widerspräche dem Sinn des § 96 SGG, den Kläger wegen der Anfechtung des Bescheides vom 2. Dezember 1971 auf ein gesondertes Klageverfahren zu verweisen.
Nach dem Wortlaut des § 96 Abs. 1 SGG ist der neue Verwaltungsakt (Bescheid vom 2. Dezember 1971) zwar nicht auch Gegenstand des Verfahrens geworden, denn der zweite Bescheid ändert oder ersetzt den ersten Bescheid vom 12. Februar 1971 nicht, wenngleich der Streitstoff in beiden Bescheiden derselbe ist. Zu beiden Bescheiden ist nämlich im Kern zu entscheiden, ob dem Kläger die oben bezeichnete Zeit als Ersatzzeit anzurechnen ist, mögen auch die beiden streitigen Rentenzeiten aufeinanderfolgen. Den Kläger jedoch in einem solchen Falle zur gerichtlichen Nachprüfung des zweiten Bescheides auf ein getrenntes Gerichtsverfahren zu verweisen und die Anwendbarkeit des § 96 Abs. 1 SGG abzulehnen, wäre sachwidrig und würde mit dem Grundgedanken des § 96 SGG, der Prozeßwirtschaftlichkeit zu dienen, nicht in Einklang stehen. Deshalb ist es verfahrensrechtlich bedenkenfrei, daß das LSG auch den zweiten Bescheid mit in seine Sachprüfung einbezogen hat (vgl. auch BSG SozR Nr. 3 zu § 624 RVO).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG sind aufzuheben und die Klagen gegen die Bescheide der Beklagten vom 12. Februar und 2. Dezember 1971 sind abzuweisen.
Das LSG hat zu Unrecht ausgesprochen, daß die Beklagte bei der dem Kläger gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit die Zeit vom 6. Juli 1944 bis zum 31. Januar 1945 als Ersatzzeit zu berücksichtigen hat. Gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten u. a. Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist, der Kriegsgefangenschaft und einer anschließenden Krankheit angerechnet. Der Anwendbarkeit dieser Vorschrift steht nicht entgegen, daß die Beklagte die Zeit des Wehrdienstes des Klägers in den Jahren 1943 und 1944 als Beitragszeit angerechnet hat, weil auch die an eine Kriegswehrdienstzeit anschließende Krankheit einen selbständigen Ersatzzeittatbestand (Anschlußersatzzeit) darstellt, ohne daß es darauf ankommt, daß die voraufgehende Wehrdienstzeit als Ersatzzeit angerechnet wird. Zeiten einer an den Kriegsdienst anschließenden Krankheit (vgl. BSG 26, 274 = SozR Nr. 28 zu § 1251 RVO) sind aber nur dann Ersatzzeiten im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO, wenn infolge der Krankheit auch Arbeitsunfähigkeit bestanden hat (BSG SozR Nr. 16 zu § 1251 RVO). Dies erklärt sich daraus, daß Ersatzzeiten ihrem Wesen nach als Zeiten ohne Beitragsleistung (§ 1250 Abs. 1 Buchst. b RVO) Beiträge ersetzen sollen, die sonst entrichtet worden wären, wenn der Ersatztatbestand nicht eingetreten wäre. Das LSG hat zutreffend festgestellt - auch die Beklagte räumt dies ein -, daß der Kläger in der Zeit vom 6. Juli 1944 bis 7. Januar 1945 arbeitsunfähig krank gewesen ist.
Allerdings ist eine an den Kriegsdienst anschließende Krankheitszeit dann keine Ersatzzeit, wenn es dem Versicherten rechtlich unmöglich war, während dieser Zeit Pflicht- oder freiwillige Beiträge wirksam zu entrichten (vgl. u. a. BSG SozR Nr. 22 zu § 1251 RVO). Mit Recht hebt die Beklagte hervor, daß es dem Versicherten rechtlich unmöglich gewesen sei, in der Zeit vom 6. Juli 1944 bis 31. Januar 1945 Beiträge zu entrichten. Wenn zu beurteilen ist, ob Beiträge wirksam entrichtet werden konnten, ist auf die Vorschriften abzustellen, die in dem Zeitraum gegolten haben, für den Beiträge entrichtet oder ersetzt werden sollen (vgl. BSG 1, 52, 54; 10, 156, 158). Hier kommt es also auf die Gesetzeslage in der Zeit vom 6. Juli 1944 bis 31. Januar 1945 an. Die einschlägigen, damals gültigen Vorschriften waren die §§ 1236 und 1443 RVO a. F.. Nach § 1236 RVO aF war u. a. versicherungsfrei, wer invalide (§ 1254 RVO aF) war. Nach Eintritt des Versicherungsfalls der Invalidität durften freiwillige Beiträge nicht mehr entrichtet werden (§ 1443 RVO aF). Der Kläger konnte also in der streitigen Zeit weder Pflicht- noch freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung entrichten. Zwar ist § 1236 RVO aF durch Art. 4 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (Vereinf.VO) vom 17. März 1945 aufgehoben worden, so daß auch invalide Personen, die bisher nach § 1236 RVO aF versicherungsfrei waren, rentenversicherungspflichtig sein konnten. Jedoch galt dies nicht für die hier streitige Zeit. Während dieser Zeit ist nämlich § 1236 RVO aF in Kraft gewesen, da die Vereinf.VO dem Art. 4 keine Rückwirkung beigelegt hat; nach Art. 25 Abs. 1 trat sie, was Art. 4 angeht, am 1. Juni 1945 in Kraft.
Da das LSG auch festgestellt hat, daß der Kläger in der streitigen Zeit nicht nur arbeitsunfähig krank, sondern darüber hinaus auch invalide im Sinne des § 1254 RVO aF war, insofern also die Voraussetzungen der §§ 1236, 1443 RVO aF erfüllt waren, steht fest, daß der damals invalide Kläger weder Pflicht- noch freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung entrichten durfte. Damit kann die streitige Zeit bei der Rentenberechnung nicht als Anschlußersatzzeit gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO angerechnet werden.
Das LSG hat sich indes für das gegenteilige Ergebnis ausgesprochen: Im Wortlaut des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO sei nur von einer "anschließenden Krankheit" die Rede. Auf sie allein müßte es zurückzuführen sein, daß der Versicherte nicht fähig sei, eine ersatzpflichtige Tätigkeit zu verrichten und zwar mit der weiteren Folge, daß keine Beiträge geleistet worden seien. Dieser Nachteil reiche aus, ihn durch Anrechnung der Ersatzzeit auszugleichen. Ob derselbe Nachteil im Einzelfall durch eine gleichzeitig eintretende oder überholende Kausalität eingetreten sei, sei unerheblich. Der durch die Arbeitsunfähigkeit hervorgerufene Nachteil in der Versicherung des Klägers habe nicht wieder durch den zusätzlichen gleichzeitigen oder nachfolgenden Eintritt einer Invalidität beseitigt werden können.
Dieser Auffassung des LSG ist nicht zu folgen. Das Berufungsgericht verkennt, indem es die in der streitigen Zeit bestehende Invalidität und die damit unmittelbar zusammenhängende Frage, ob der Versicherte in der fraglichen Zeit überhaupt Beiträge zur Invalidenversicherung entrichten durfte, beiseite lassen will, sowohl das Wesen der Ersatzzeiten als auch Sinn und Zweck ihrer gesetzlichen Regelung. Die Ersatzzeiten sollen Beitragszeiten ersetzen. Diese Ersatzfunktion von Beitragszeiten führt zwingend zu der Prüfung, ob der Versicherte in der in Betracht kommenden Zeit rechtlich imstande war, Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten. Wenn Rechtsgründe die Versicherungsmöglichkeit ausschlossen, fehlt es an der Ausgangslage, nämlich der versicherungsrechtlichen Benachteiligung, die gerade Sinn und Zweck der Ersatzzeiten ist. Diesen Rechtsstandpunkt vertritt das Bundessozialgericht (BSG) in gefestigter Rechtsprechung (SozR Nrn. 7, 8, 16, 21, 22, 28, 33, 42, 43, 44, 53, 54, 61, 66 zu § 1251 RVO). Der Senat sieht keinen Grund, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Ein solcher kann auch nicht aus dem Umstand abgeleitet werden, den das LSG als unbefriedigend empfindet, daß ein Versicherter, der im Anschluß an den Wehrdienst arbeitsunfähig krank gewesen ist, in den Genuß der Rechtswohltat der Anrechnung einer Ersatzzeit gelangt, während derjenige, der darüber hinaus dauernd derart gesundheitlich beeinträchtigt war, daß er invalide war, die sich daraus ergebenden versicherungsrechtlichen Nachteile selbst tragen müßte. Daß dem so ist, erklärt sich allein aus dem damaligen Recht. Solche Rechtsfolgen kann die Rechtsprechung entgegen der Auffassung des LSG nicht beseitigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen