Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 19.02.1974) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Februar 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Es ist umstritten, ob sich der Sohn der Klägerin nach Vollendung seines 180 Lebensjahres in Berufsausbildung befand und deswegen die Versichertenrente der Klägerin um den Kinderzuschuß zu erhöhen war (§ 39 Abs. 1 und 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes – AVG –).
Die Klägerin erhält von der Beklagten seit September 1968 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Zu dieser Rente wurde bis zum 31. August 1970 ein Kinderzuschuß für ihren am 10. Juni 1950 geborenen Sohn R. P. (künftig: R.P.) gewahrt, der bis dahin eine Lehre zum Verwaltungsangestellten bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Frankfurt/Main durchlief. Ab 1. September 1970 bezog R. P. eine monatliche Vergütung nach der Gruppe VII des Bundesangestelltentarifvertrages/Ortskrankenkassen (BAT/OKKen) in Höhe von 1.071,– DM. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1970 wurde er zum Vorbereitungsdienst für den gehobenen Verwaltungsdienst zugelassen. Durch Beschluß des Vorstandes der AOK vom 16. April 1971 wurde R.P. ab 1. Mai 1971 in das dienstordnungsmäßige Angestelltenverhältnis auf Widerruf als Inspektor-Anwärter übernommen. Die zuletzt bezogene BAT-Vergütung erhielt er als Unterhaltszuschuß in unveränderter Höhe bis zur Ablegung der Inspektorenprüfung und Übernahme in das Beamtenverhältnis im April 1973.
Den im Oktober 1970 gestellten Antrag auf Wiedergewährung des Kinderzuschusses lehnte die Beklagte ab, weil die Ausbildung für den gehobenen Verwaltungsdienst mit der Zahlung von vollen Dienstbezügen nach dem BAT/OKKen verbunden sei (Bescheid vom 5. Januar 1971).
Auf die Klage verpflichtete das Sozialgericht (SG) die Beklagte, der Klägerin für ihren Sohn R.P. ab 1. Oktober 1970 während der weiteren Dauer der Berufsausbildung – längstens bis zur Vollendung seines 25. Lebensjahres – Kinderzuschuß zu ihrer Rente zu zahlen (Urteil vom 13. Juli 1972). Das Landessozialgericht (LSG) wies die von der Beklagten eingelegte Berufung im wesentlichen mit folgender Begründung zurück: Der Sohn der Klägerin habe sich von Oktober 1970 bis März 1973 in einer echten Berufsausbildung im Sinne von § 39 Abs. 3 Satz 2 AVG befunden. Ebenso wie die anderen Inspektoren-Anwärter habe er in der vorgeschriebenen Zeit des Vorbereitungsdienstes verschiedene Abteilungen der AOK zu seiner Information durchlaufen. Dabei sei er – ohne eigenverantwortliche Tätigkeit – zu praktischen Unterweisungen eingesetzt gewesen. Daneben habe er an theoretischen Ausbildungskursen teilgenommen. Einen Teil der schriftlichen Hausarbeiten habe er im Rahmen eines ihm zur Pflicht gemachten Fernkurses nach Dienstschluß erbringen müssen. Seine Arbeitskraft sei durch die Ausbildung voll in Anspruch genommen worden. Entgegen der Ansicht der Beklagten habe R.P. während der Dauer seiner Ausbildung keine Dienstbezüge, sondern einen Unterhaltszuschuß erhalten. Ihm sei 3 worauf die ausbildende AOK hingewiesen habe, die „bisherige” Angestellten-Vergütung nach den geltenden Bestimmungen der neuen Dienstordnung der AOK als Unterhaltszuschuß weiter gewährt worden, ohne daß sie an den üblichen Steigerungen und allgemeinen Vergütungserhöhungen teilgenommen habe. Daraus erhelle, daß ein echter Unterhaltszuschuß, nicht aber ein Arbeitsentgelt gewährt worden sei. Die Hohe des bezogenen Unterhaltszuschusses sei im Hinblick darauf, daß § 39 Abs. 3 Satz 2 AVG keinerlei Einschränkungen bezüglich eines etwaigen Einkommens der in der Berufsausbildung Befindlichen enthalte, genauso unbeachtlich wie die Form, in der sie gewährt werde (Hinweis auf BSG 25, 276, 278). Entgegen der Behauptung der Beklagten habe der Unterhaltszuschuß auch nicht dem Einkommen im angestrebten Beruf entsprochen. Auch dem Hinweis der Beklagten auf die Unterhaltsersatzfunktion des Kinderzuschusses sei nicht zu folgen. Eine Regelung, wie sie der Beklagten vorschwebe, hätte der Gesetzgeber zwar treffen können. Ihm sei es jedoch auf den Nachweis eines Einkommens des Auszubildenden nicht angekommen, Vielmehr sei in § 39 Abs. 3 AVG der Leitgedanke der Unterhaltsersatzfunktion außer Betracht geblieben. Jedenfalls hätte die gegenteilige Auffassung der Beklagten eine ausdrückliche, also wörtliche Regelung finden müssen. Es sei nicht Aufgabe der Sozialgerichte, durch eine einengende Auslegung des § 39 Abs. 3 AVG von der gesetzlichen Regelung abzuweichen. Schließlich beträfen die von der Beklagten zur Unterstützung ihrer abweichenden Rechtsauffassung angeführten Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) – insbesondere BSG 25, 289 – andere Sachverhalte, die mit dem vorliegenden nicht vergleichbar seien (Urteil vom 19. Februar 1974).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine unrichtige Anwendung des § 39 Abs. 3 Satz 2 AVG sowie eine Verletzung der dem Berufungsgericht nach § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) obliegenden Aufklärungspflicht.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Frankfurt/Main vom 13. Juli 1972 die Klage abzuweisen; hilfsweise beantragt sie, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin ist nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 Abs. 2 SGG) vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil läßt keinen Rechtsfehler erkennen.
Nach § 39 Abs. 1 AVG (= § 1262 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung – RVO –) war die Versichertenrente der Klägerin für ihren Sohn R.P. um den Kinderzuschuß zu erhöhen, solange sich dieser nach Vollendung des 18. und vor Beginn des 26. Lebensjahres in Berufsausbildung befand (§ 39 Abs. 3 Satz 2 AVG = § 1262 Abs. 3 Satz 2 RVO). Insoweit hat das LSG für die Zeit von Oktober 1970 bis einschließlich März 1973 mit zutreffenden Gründen eine Berufsausbildung im Sinne des Gesetzes bejaht.
Das BSG hat im Urteil vom 22. November 1966 (BSG 25, 276, 278) zu einem mit dem vorliegenden Fall im wesentlichen gleichen Sachverhalt entschieden, daß einem Inspektoren-Anwärter die Waisengrundrente nach § 45 Abs. 1 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) über den Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres auch dann zustehe, wenn ihm für die Zeit der Berufsausbildung der nach den maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften gewährte Unterhaltszuschuß in Höhe der zuletzt bezogenen Angestelltenvergütung gezahlt wird. Der Einwand der Beklagten, dieser für den Bereich des Versorgungsrechts ergangene Ausspruch sei von der „jüngeren” Rechtsprechung des BSG nicht auf die entsprechenden Normen des Sozialversicherungsrechts übertragen worden, übersieht, daß dies gerade durch das Urteil des 12. Senats des BSG vom 27. Juni 1973 (BSG 36, 83 = SozR Nr. 52 zu § 1267 RVO) geschehen ist. Nach dieser Entscheidung, welche zu der mit § 39 Abs. 3 Satz 2 AVG inhaltsgleichen Vorschrift des § 1267 Satz 2 RVO (= § 44 Satz 2 AVG) ergangen ist, steht der Gewährung der Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus nicht entgegen, daß einem im Vorbereitungsdienst befindlichen Beamten auf Widerruf während der Berufsausbildung ein monatlicher Unterhaltszuschuß gewährt wird, der möglicherweise für seinen Lebensunterhalt ausreicht. Der 12. Senat hat dies vorwiegend damit begründet, daß Kinder und Waisen in Berufsausbildung nicht nur in der Sozialversicherung, sondern auch in anderen Bereichen des öffentlichen Rechts bei der Gewährung von Leistungen zu berücksichtigen seien und dort die Unterhaltszuschüsse, die nach beamtenrechtlichen Grundsätzen den Personen im Vorbereitungsdienst zustehen, einheitlich nicht wie Arbeitseinkünfte behandelt würden. Auch werde dort nicht nach der Höhe solcher Unterhaltszuschüsse unterschieden. Da die Gewährung von Leistungen für Kinder oder Waisen bei Berufsausbildung über ein bestimmtes Lebensalter hinaus auf den einzelnen Gebieten des öffentlichen Rechts dem gemeinsamen Zweck diene, die Berufsausbildung zu erleichtern, sei auch eine einheitliche Beurteilung der Unterhaltszuschüsse für Beamtenanwärter im Vorbereitungsdienst erforderlich, wenn davon die Gewährung von Kinderzuschüssen oder Waisenrente abhänge. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Die hiernach gebotene einheitliche Beurteilung der Unterhaltszuschüsse unabhängig von ihrer jeweiligen Höhe würde aber bei der von der Revision vertretenen Ansicht zur Unterhaltsersatzfunktion des Kinderzuschusses und der Waisenrente durchbrochen.
Die Beklagte hat zwar die für die Entscheidung des LSG über eine echte Berufsausbildung mit bloßer Gewährung eines Unterhaltszuschusses maßgeblichen Feststellungen mit der Rüge einer unzureichenden Sachaufklärung durch das Berufungsgericht angegriffen. Das Vorbringen der Revision, das LSG habe es unterlassen, die zur Grundlage seiner Rechtsauffassung dienenden Tatsachen „aufzuhellen”, es hätte sich insoweit nicht auf die informatorische Anhörung des Sohnes der Klägerin zum Umfang seiner im streitigen Zeitraum ausgeübten Tätigkeit beschränken dürfen, greift nicht durch. Die von R.P. in der mündlichen Verhandlung vom 19. Februar 1974 gemachten ausführlichen Angaben über Art und Umfang der Tätigkeit sowie der Vergütung während des Vorbereitungsdienstes, die das LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, sind laut Sitzungsniederschrift vom Vertreter der Beklagten „nicht bestritten”, vielmehr ausdrücklich „für richtig” gehalten worden. Auch unter Berücksichtigung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) brauchte das LSG keine weitere Aufklärung eines zwischen den Beteiligten unstreitigen Sachverhalts zu betreiben (vgl. hierzu BVerwG in Samml. BVerwG Nr. 83 zu § 310 § 86 Abs. 1 VwGO und Buchholz BVerwG 310 § 132 VwGO Nr. 3114).
Unter Beachtung der somit für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG betreffen die von der Beklagten zur Stützung ihrer Rechtsauffassung angeführten Urteile des BSG sämtlich abweichende Sachverhalte, die der Entscheidung des LSG nicht entgegenstehen. Anders als hier beim Sohn der Klägerin sind nämlich dort jeweils die vollen beamtenrechtlichen Dienstbezüge (so BSG 25, 289 und SozR Nrn. 15, 31 zu § 1267 RVO) bzw. das normale Entgelt für eine wahrend der Ausbildung ausgeübte berufliche Tätigkeit (so SozR Nr. 44 zu § 1267 RVO) weiter gezahlt worden. Schließlich geht auch der Hinweis der Beklagten auf die Entscheidung des BSG vom 22. Juni 1972 (Az.: 12 RJ 174/71) fehl, weil das Angestelltengehalt des dortigen Klägers während der Vorbereitungszeit zum Verwaltungsinspektor regelmäßig erhöht wurde (bis Gruppe V c BAT). Nach den von der Revision nicht mit begründeten Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG sind aber dem Sohn der Klägerin während der Vorbereitungszeit weder derartige Höhergruppierungen noch die allgemeine Erhöhungen der zuletzt vor Beginn des Vorbereitungsdienstes bezogenen Vergütung zuteil geworden. Die daraus vom LSG gezogene Folgerung, daß R.P. während seiner Ausbildung zum Inspektor einen echten Unterhaltszuschuß und kein Arbeitsentgelt erhalten hat, ist auch materiell-rechtlich nicht zu beanstanden (vgl. hierzu auch Urteil des BSG vom 30. Oktober 1974 – 5 RJ 77/73 –).
Nach alledem muß der Revision der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Dr. Wannagat, Dr. Schubert, Burger
Fundstellen