Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.01.1994) |
SG Dortmund (Urteil vom 27.01.1992) |
Tenor
Die Revision der Klägerin wird zurückgewiesen, soweit Leistungen bis zum 30. Juni 1990 begehrt werden.
Im übrigen wird auf die Revision der Klägerin das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Januar 1994 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Klägerin, die die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, lebt seit 1970 in der Bundesrepublik Deutschland. Am 14. Januar 1990 wurde sie – angeblich von ihrem Ehemann – niedergeschossen, wobei sie schwere Verletzungen erlitt. Einem Strafverfahren entzog sich der mutmaßliche Täter durch die Flucht. Den im April 1990 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewaltopferentschädigung lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 8. Mai 1990 idF des Widerspruchsbescheids vom 20. August 1990 ab, weil Gegenseitigkeit iS des § 1 Abs 4 Opferentschädigungsgesetz (OEG) nicht gegeben sei. Klage und Berufung der Klägerin blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Dortmund ≪SG≫ vom 27. Januar 1992 und Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen ≪LSG≫ vom 19. Januar 1994). Das LSG verneinte auch Leistungsansprüche der Klägerin nach der Neufassung des § 1 OEG durch das 2. OEG-Änderungsgesetz (2. OEG-ÄndG), weil die Klägerin die Schädigung vor dem im 2. OEG-ÄndG vorgesehenen Stichtag erlitten habe. Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht die Klägerin insbesondere die Verfassungswidrigkeit des in § 1 Abs 4 OEG aF (= § 1 Abs 4 Nr 4 OEG nF) bestimmten Erfordernisses der Gegenseitigkeit geltend.
Sie beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts vom 19. Januar 1994 und des Sozialgerichts vom 27. Januar 1992 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. Mai 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. August 1990 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr wegen der Folgen der Gewalttat vom 14. Januar 1990 vom Tage der Schädigung ab Versorgungsleistungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
II
1. Die Revision der Klägerin ist teilweise iS der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet. Anspruch auf Versorgung kann die Klägerin unter noch festzustellenden Voraussetzungen frühestens für die Zeit ab 1. Juli 1990 haben. Für die vorangehende Zeit hat es bei den ablehnenden Bescheiden des Beklagten zu verbleiben.
Vor dem 1. Juli 1990 standen der Klägerin Ansprüche auf Entschädigungsleistungen nach dem OEG schon deswegen nicht zu, weil sie weder Deutsche war noch zum Personenkreis der “privilegierten Ausländer” gehörte, dh derjenigen Ausländer, deren Ansprüche nach dem OEG den Ansprüchen von Deutschen vollständig gleichgestellt waren (vgl § 1 Abs 4 OEG). Nicht privilegierte Ausländer (vgl dazu insbesondere § 1 Abs 5 und 6 OEG in der seit dem 1. Juli 1990 geltenden Fassung) können Ansprüche nach dem OEG frühestens seit Inkrafttreten des 2. OEG-ÄndG (1. Juli 1990) haben (vgl § 10c OEG idF des OEG-ÄndG). Bis zum 30. Juni 1990 gehörten zum Kreis der privilegierten Ausländer nach dem Wortlaut des § 1 Abs 4 OEG aF nur solche Ausländer, deren Heimatstaat das Erfordernis der Gegenseitigkeit erfüllte. Zu den privilegierten Ausländern gehörten aber auch schon vor dem 1. Juli 1990 kraft höherrangigen Rechts Angehörige von Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften (EG: vgl EuGHE 1989, 195 = SozR 6030 Art 7 Nr 3 sowie die – nur klarstellende – Bestimmung des § 1 Abs 4 Nr 1 OEG in der ab 1. Juli 1990 geltenden Fassung).
Die Türkei ist weder Mitglied der EG noch sind auf ihre Staatsangehörigen Rechtsvorschriften der EG anzuwenden, die eine Gleichstellung mit Deutschen erforderlich machen (vgl dazu die – ebenfalls nur klarstellende – Vorschrift des § 1 Abs 4 Nr 2 OEG nF; diese Bestimmung bezieht sich auf das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 ≪BGBl 1993 II S 267 und 1294≫). Die Klägerin kann auch nicht verlangen, nach dem zwischen der EG und der Türkei geltenden Assoziationsrecht bei der Entschädigung als Gewaltopfer mit deutschen Staatsangehörigen gleich behandelt zu werden. Das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Türkei vom 12. September 1963 (Abk), verkündet mit Gesetz vom 13. Mai 1964 (BGBl II, 509), enthält ebenso wie das später abgeschlossene Zusatzprotokoll vom 23. November 1970, verkündet mit Gesetz vom 19. Mai 1972 (BGBl II, 385), im wesentlichen nur Programmsätze zur schrittweisen Aufhebung der Beschränkungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs bis zur völligen Rechtsangleichung. Gemäß Art 12 Abk vereinbaren die Parteien, sich von den Art 48, 49 und 50 des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen. Art 36 des Zusatzprotokolls sieht vor, daß die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen dem Ende des 12. und dem Ende des 22. Jahres nach Inkrafttreten des Abk schrittweise hergestellt wird. Der von den Vertragsparteien eingerichtete Assoziationsrat soll die dafür erforderlichen Regeln festlegen. Die Vertragsparteien waren sich somit darüber einig, daß das Abk der weiteren Umsetzung bedarf; selbst nach Ablauf der vorgesehenen Übergangsphase begründet das Abk allein noch keine Rechtsansprüche auf Sozialleistungen (BSG SozR 3-6935 Allg Nr 1 mwN).
Die Beschlüsse Nr 1/80 und Nr 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 (ANBA 1981, 4 und ABI EG 1983 Nr C 110 S 60) enthalten keine Umsetzung für das Gewaltopferentschädigungsrecht. Nach Art 10 Abs 1 des Beschlusses 1/80 räumen die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft den türkischen Arbeitnehmern, die ihrem regulären Arbeitsmarkt angehören, eine Regelung ein, die gegenüber den Arbeitnehmern aus der Gemeinschaft hinsichtlich des Arbeitsentgelts und der sonstigen Arbeitsbedingungen jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausschließt. Auf diese Regelung kann die Klägerin sich nicht berufen, weil die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten weder zum Arbeitsentgelt noch zu den sonstigen Arbeitsbedingungen zählt. Auch Art 3 Abs 1 des Beschlusses 3/80 stellt für diese Sozialleistung türkische Staatsangehörige den Angehörigen von EG-Staaten nicht gleich. Das Gleichstellungsgebot gilt nur für die in Art 4 Abs 1 des Beschlusses 3/80 genannten “Zweige der Sozialen Sicherheit” (vgl zur wortgleichen Vorschrift der Art 3 Abs 1, 4 Abs 1 EWGV 1408/71 ≪ABI EG Nr L 149 S 2≫ EuGHE 1985, 1881 = SozR 6050 Art 2 Nr 8). Dazu rechnet das Gewaltopferentschädigungsrecht nicht, weil nicht davon ausgegangen werden kann, daß bei übereinstimmendem Wortlaut die an der Fassung des Beschlusses Nr 3/80 beteiligten Mitglieder des Assoziationsrates den türkischen Staatsangehörigen weitergehende Rechte einräumen wollten, die EG-Angehörige erst durch Art 7 Abs 2 EWGV 1612/68 (ABl EG Nr L 257 S 2) für sonstige soziale und steuerliche Vergünstigungen erhalten haben (BSG SozR 3-6935 Allg Nr 1).
Auch sonstige internationale Vereinbarungen führen nicht zur Gleichstellung der Klägerin mit deutschen Staatsangehörigen (vgl dazu § 1 Abs 4 Nr 3 OEG nF). Das gilt insbesondere für das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 24. November 1983 (vgl dazu BR-Drucks 508/95). Dieses Abk ist bisher weder von der Bundesrepublik Deutschland noch von der Türkei ratifiziert worden.
Im Verhältnis zur Türkei fehlt es schließlich an der Gegenseitigkeit (vgl § 1 Abs 4 OEG aF und § 1 Abs 4 Nr 4 OEG nF), weil das türkische Recht kein staatliches Entschädigungssystem kennt, welches den Leistungen des OEG entsprechende Leistungen für Folgen von Gewalttaten auch für Deutsche vorsieht. Das ergibt sich aus den Feststellungen des LSG, die als Ermittlung fremden Rechts das Revisionsgericht ebenso binden wie Tatsachenfeststellungen, wenn sie nicht mit zulässigen Rügen angegriffen werden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫; vgl BSGE 44, 221, 222 = SozR 5050 § 15 Nr 8).
Der Senat teilt ebensowenig wie das LSG die verfassungsrechtlichen Bedenken der Kläger gegen die Gegenseitigkeitsregelung in § 1 Abs 4 OEG in den verschiedenen Fassungen. Bei dem Gegenseitigkeitsvorbehalt handelt es sich um ein im Völkerrecht übliches Rechtsinstitut, das zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen zugrunde liegt und das auch für Inlandstatbestände mit Auslandsbezug verwendet werden kann (vgl dazu auch Art 25 Grundgesetz ≪GG≫ und Urteil des Senats BSGE 60, 186, 188; BVerfGE 30, 409, 414 – Verfassungsmäßigkeit des Gegenseitigkeitsvorbehalts bei der Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft; BVerfG, Beschluß vom 5. Oktober 1982, EuGRZ 1982, 508 – zum Gegenseitigkeitsvorbehalt bei Staatshaftung; BVerfG, Beschluß vom 17. Januar 1991, NVwZ 1991, 661 – ebenfalls zur Gegenseitigkeit im Staatshaftungsrecht).
Die in dem Gegenseitigkeitsvorbehalt liegende Ungleichbehandlung der Ausländer ist auch im Bereich der Gewaltopferentschädigung nach wie vor durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, die bisherige Praxis habe erwiesen, daß der Gegenseitigkeitsvorbehalt ein untaugliches Mittel ist, deutschen Staatsbürgern im Ausland einen gleichwertigen Schutz zu verschaffen, weil zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des OEG nur wenige Staaten ein vergleichbares Opferentschädigungssystem aufwiesen. Dieser Einwand verkennt, daß der Gegenseitigkeitsvorbehalt auf eine langfristige Wirkung angelegt ist und als ein ständiges Angebot an ausländische Staaten zum Abschluß zwischen- oder überstaatlicher Vereinbarungen verstanden werden kann. Es muß dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit auch die Möglichkeit eingeräumt werden, bei einer völlig neuen Sozialleistung wie der Opferentschädigung die Auswirkungen seiner Regelungen zu beobachten, Erfahrungen zu sammeln und auszuwerten, und erst dann über gesetzgeberischen Reformbedarf nachzudenken. Die mit dem 2. OEG-ÄndG vollzogenen Verbesserungen der Rechtsstellung der Ausländer bedeuten nicht, daß die ursprüngliche Regelung von Anfang an verfehlt gewesen wäre. Sie bedeuten nur, daß der Gesetzgeber in der konkreten innen- und außenpolitischen Lage dem Schütze der ständig in Deutschland lebenden Ausländer nunmehr den Vorrang vor anderen Zielen eingeräumt hat. Daß die an den Gegenseitigkeitsvorbehalt geknüpften Erwartungen des Gesetzgebers nicht von vornherein aussichtslos waren, für die Regelung damit iS des Art 3 Abs 1 GG sachliche Gründe sprechen, zeigen auch die Bestrebungen, nunmehr im Rahmen des Europarats zu vertraglichen Vereinbarungen über eine Gewaltopferentschädigung zu gelangen, die zu dem Europäischen Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten vom 24. November 1983 (vgl dazu BR-Drucks 508/95) geführt haben, das dem Bundestag inzwischen zur Ratifizierung vorliegt. Bei Würdigung dieser Entwicklung läßt sich nicht erkennen, daß der Gesetzgeber mit dem Gegenseitigkeitsvorbehalt ein von Anfang an zur Zweckerreichung ungeeignetes Mittel gewählt hat, noch daß er seiner Verpflichtung, nachträglich erkennbar gewordene Fehlentwicklungen zu beheben, nicht rechtzeitig nachgekommen ist.
2. Für die Zeit nach dem 30. Juni 1990 ist der Rechtsstreit noch nicht Entscheidungsreif. Seine Entscheidung hängt von dem Ergebnis weiterer Tatsachenfeststellungen ab, die der Senat nicht selbst treffen kann. Der Rechtsstreit ist daher insoweit an das LSG zurückzuverweisen.
Zu Recht hat das LSG Leistungsansprüche der Klägerin auch für die Zeit nach dem 30. Juni 1990 geprüft. Die Bescheide des Beklagten vom 8. Mai 1990 und 20. August 1990 waren während der Rechtshängigkeit der gegen sie gerichteten Anfechtungs- und Leistungsklage nicht nur unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob sie unrichtig waren, sondern auch darauf, ob der Klägerin inzwischen ein Anspruch auf die begehrte Leistung durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse erwachsen war. Das ergibt sich aus dem Grundsatz, daß bei einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bestehende Sach- und Rechtslage maßgebend ist (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, Rz 34 und 37 zu § 54 mwN).
Ob der Klägerin nach dem 2. OEG-ÄndG seit dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen zusteht, läßt sich aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen noch nicht abschließend beantworten. Nach dem OEG idF des 2. OEG-ÄndG sind jetzt auch “nichtprivilegierten Ausländern” unter bestimmten Voraussetzungen Entschädigungsansprüche wegen der Folgen von an ihnen begangenen Gewalttaten eingeräumt. Das gilt vor allem für solche Ausländer, die sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten oder deren Aufenthalt ebensolange aus humanitären Gründen oder erheblichem öffentlichen Interesse geduldet worden ist (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 1 iVm Satz 2 OEG nF). Dieser Personenkreis steht weitgehend Deutschen und privilegierten Ausländern gleich. Darüber hinaus erhalten nunmehr eingeschränkte (nur einkommensunabhängige) Leistungen solche (nichtprivilegierte) Ausländer, die sich rechtmäßig für einen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten im Bundesgebiet aufhalten (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 2 iVm Satz 2 OEG nF). Dieselben Leistungen erhalten nach § 1 Abs 6 OEG nF auch Ausländer, die sich – rechtmäßig – zwar nur für einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet aufhalten, aber mit einem Deutschen oder einem privilegierten oder unter Abs 5 fallenden Ausländer verheiratet oder in gerader Linie verwandt sind. Keine Ansprüche stehen grundsätzlich nur solchen Ausländern zu, die sich für einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet aufhalten, ohne mit einem Deutschen oder einem der vorgenannten Ausländer verheiratet oder in gerader Linie verwandt zu sein; nicht anspruchsberechtigt bleiben schließlich auch diejenigen Ausländer, die sich unberechtigt im Bundesgebiet aufhalten. Aber auch den beiden zuletzt genannten Personengruppen ist in besonderen Härtefällen zumindest ein Ausgleichsanspruch eingeräumt (vgl § 10b OEG nF). Bezieht man diese Härteregelung mit ein, so können nunmehr – jedenfalls in besonderen Härtefällen – alle in Deutschland geschädigten Ausländer Leistungen nach dem OEG erhalten.
Eine Ausnahme bilden nach dem reinen Wortlaut des Gesetzes lediglich diejenigen nichtprivilegierten Ausländer, an denen – wie im Fall der Klägerin – eine Gewalttat vor dem 1. Juli 1990 verübt worden ist (§ 10 Satz 3 OEG). Diese Stichtagsregelung wäre aber verfassungswidrig, wenn sie Leistungen für Gewalttaten, die vor dem 1. Juli 1990 an Ausländern begangen worden sind, auch für Härtefälle ausschlösse. Das Fehlen einer solchen Härteregelung stellt indessen eine gegen Art 3 Abs 1 GG verstoßende Gesetzeslücke dar, die im Wege verfassungskonformer Auslegung von den Gerichten geschlossen werden kann. Bei einer entsprechenden Anwendung des § 10a OEG auf die in § 1 Abs 5 und 6 genannten nichtprivilegierten Ausländer lassen sich die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Stichtagsregelung in § 10 Satz 3 OEG nF ausräumen (vgl BVerfGE 82, 6, 12).
Zwar sind – insbesondere bei Einräumung von Ansprüchen auf Sozialleistungen Stichtagsregelungen grundsätzlich zulässig (BVerfGE 49, 275; 79, 219; 80, 311). Stets ist aber zu prüfen, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Gestaltungsspielraum in sachgerechter Weise genutzt, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und ob sich die gefundene Lösung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen läßt oder als willkürlich erscheint (BVerfGE 80, 311; 44, 21 ff). Gegen den allgemeinen Gleichheitssatz wird insbesondere dann verstoßen, wenn der Gesetzgeber ohne erkennbare Gründe von seinen eigenen Grundsätzen abweicht (vgl BVerfGE 13, 31).
Die Stichtagsregelung des § 10 Satz 3 OEG nF enthält eine solche Systemwidrigkeit. Der gesetzlichen Regelung des 2. OEG-ÄndG läßt sich einerseits der Grundsatz entnehmen, daß nunmehr auch die bisher nicht nach dem OEG geschützten Ausländer, die sich rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, jedenfalls in Härtefällen für die Zeit ihres Aufenthalts im Inland in den Schutz des OEG einbezogen werden. Ein Bedürfnis für die Neuregelung sah der Gesetzgeber vor allem für die jüngste Vergangenheit und für die Zukunft, weshalb er in § 10 Satz 3 OEG nF einen entsprechenden Stichtag festsetzte. Der Anlaß für die Wahl des Stichtages – 1. Juli 1990 – war dabei der Umstand, daß etwa von diesem Zeitpunkt an eine alarmierende Zunahme von politisch motivierten Gewalttaten gegen in Deutschland lebende Ausländer zu beobachten war (vgl Gesetzentwurf BT-Drucks 12/4889, S 6). Durch die Neuregelung wurden aber nicht nur solche Ausländer begünstigt, die Opfer ausländerfeindlicher Aggressionen geworden waren. Vielmehr wurden mehr oder weniger alle Ausländer für Gewalttaten jeder Art in den Schutz des Gesetzes einbezogen. Damit trat für den Gesetzgeber des 2. OEG-ÄndG der Zweck der Ausländerintegration in den Vordergrund; die politisch motivierten Gewalttaten waren nur der Anlaß, den Schutz der Ausländer insgesamt neu zu regeln. Ein Bedürfnis nach rechtlicher Integration besteht aber gerade auch für die vor dem Stichtag geschädigten Ausländer, weil diese sich in der Regel noch länger im Inland aufgehalten haben als die später Geschädigten. Eine Ausgrenzung dieses Personenkreises erscheint – jedenfalls in Härtefällen – um so weniger systemgerecht, als der Gesetzgeber in § 10b OEG nF zum Ausdruck gebracht hat, daß er in besonderen Härtefällen allen im Inland geschädigten Ausländern den Schutz des OEG zuwenden will. Mit diesem Grundgedanken ist das völlige Fehlen einer Härteregelung für Taten unvereinbar, die vor dem 1. Juli 1990 an Ausländern begangen worden sind. Treffen sogar beide Gesichtspunkte zusammen, handelt es sich also um Fälle von Gewalttaten, die an bereits typischerweise integrierten (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 1 OEG nF) oder an typischerweise integrationswilligen Ausländern (§ 5 Abs 1 Satz 1 Nr 2 OEG nF) oder an deren sich vorübergehend im Inland aufhaltenden Angehörigen (§ 1 Abs 6 OEG nF) begangen worden sind, und liegt außerdem ein sozialer Härtefall vor, erscheint die Nichteinbeziehung dieser Ausländer nur wegen des Zeitpunkts ihrer Schädigung, nach der Gesamtsystematik der Novelle vom 21. Juli 1993 nicht nachvollziehbar. Aus dem Gesetzgebungsverfahren läßt sich nur sicher entnehmen, daß alle bekanntgewordenen politisch motivierten schweren Gewalttaten rückwirkend in das OEG einbezogen werden sollten. Daraus kann nicht der Schluß gezogen werden, daß alle sonstigen Gewalttaten an Ausländern aus der Vergangenheit künftig weiterhin unentschädigt bleiben sollten. Es ist mangels eines entgegenstehenden erkennbaren gesetzgeberischen Willens von einer Regelungslücke auszugehen, die in verfassungskonformer Weise zu schließen ist.
Das Modell zur Schließung dieser Lücke entnimmt der Senat der Regelung, die der Gesetzgeber schon mehrfach bei der nachträglichen Einbeziehung sog Altfälle ins OEG getroffen hat. So hat er mit dem 1. OEG-ÄndG vom 20. Dezember 1984 (BGBl I S 1723) durch § 10a OEG schwere Gewalttaten aus der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1976 jedenfalls für die Zukunft in die Leistungen einbezogen. Ebenso ist der Gesetzgeber bei Einführung des OEG in den neuen Bundesländern vorgegangen. Das OEG gilt uneingeschränkt dort nur für Ansprüche aus Taten, die nach dem 2. Oktober 1990 begangen worden sind. Nach Maßgabe des § 10a OEG werden als Härtefälle aber auch Opfer von Gewalttaten aus der Zeit vom 7. Oktober 1949 (Gründung der DDR) bis zum Stichtag 2. Oktober 1990 entschädigt (Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 18 Buchst c Einigungsvertrag idF der Änderung durch Art 2 des 2. OEG-ÄndG). Eine ähnliche Härteregelung enthält auch die mit Gesetz vom 24. Juli 1995 (BGBl I S 962) in das Soldatenversorgungsgesetz (SVG) eingefügte Vorschrift des § 81e Abs 12 SVG. Ein Versorgungsanspruch dienstlich im Ausland verwendeter Soldaten, die dort durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff geschädigt werden, besteht uneingeschränkt erst für Taten ab Inkrafttreten des Gesetzes am 29. Juli 1995. Für Hinterbliebene und Geschädigte, die allein infolge dieser Schädigung schwerbehindert sind, gilt dieser Stichtag nicht. Sie erhalten Versorgungsleistungen auch dann, wenn sie in der Zeit vom 1. April 1956 (Inkrafttreten des Soldatengesetzes) bis zum Inkrafttreten des § 81e SVG geschädigt worden sind.
Eine entsprechende Härteregelung kann auch den nach dem OEG nichtprivilegierten Ausländern nicht vorenthalten werden. Es gibt keinen sachlichen Grund, der das Fehlen einer solchen Regelung noch als mit Art 3 Abs 1 GG vereinbar erscheinen lassen könnte. Zwar darf und muß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung sozialer Leistungen auch deren Finanzierbarkeit berücksichtigen, was dazu führen kann, daß Leistungen auch zeitlich gestaffelt und in verschiedener Höhe für bestimmte Personengruppen eingeführt werden können, wenn anders eine Finanzierung bei Beachtung einer soliden Haushaltsplanung nicht möglich erscheint (vgl BVerfG SozR 3-5761 Allg Nr 1). Für eine Gefährdung der staatlichen Haushalte von Bund und Ländern (vgl § 4 Abs 2 OEG) durch die Einbeziehung der sog Altfälle bestehen aber keine Anhaltspunkte, wenn nur die Härtefälle hinzutreten. Bei geschätzten Gesamtkosten zwischen jährlich vier bis 6,6 Mio DM in den Jahren 1993 bis 1996 (vgl Gesetzentwurf aaO S 2) dürften die Mehrkosten kaum ins Gewicht fallen. Für eine Ausgrenzung der Altfälle aus finanziellen Erwägungen finden sich in den genannten Gesetzesmaterialien auch keine Anhaltspunkte. Hinzu kommt, daß die auf Dauer im Inland lebenden Schwerbeschädigten, bedürftigen Ausländer oder ihre Hinterbliebenen in der Regel ohnehin öffentlich-rechtliche Leistungen in Anspruch nehmen müssen, insbesondere solche nach dem Bundessozialhilfegesetz. Der Mehrbelastung von Bund und Ländern entspräche damit eine gewisse Entlastung der Gemeinden, die im Finanzausgleich berücksichtigt werden könnte.
Auch die Schwierigkeiten einer nachträglichen Sachverhaltsaufklärung rechtfertigen den Ausschluß der Altfälle von der Entschädigung – jedenfalls in Härtefällen – nicht. Dieser Gesichtspunkt hat den Gesetzgeber auch sonst nicht davon abgehalten, Härtefälle rückwirkend in den Schutzbereich des OEG einzubeziehen. So ist er beim 1. OEG-ÄndG davon ausgegangen, daß bei Gewalttaten mit schweren Folgen in aller Regel Unterlagen, insbesondere staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten, noch vorhanden sind und ausgewertet werden können (vgl Begründung zu BT-Drucks 10/2103).
Voraussetzung für die Härteregelung des OEG ist durchgehend, daß der Betroffene allein als Folge der Gewalttat schwerbeschädigt oder Hinterbliebener eines Beschädigten ist und daß er finanziell bedürftig ist. Unter diesen Voraussetzungen muß auch in der Vergangenheit geschädigten Ausländern ab 1. Juli 1990 eine Entschädigung gewährt werden.
Ob der Klägerin nach dem zuvor Gesagten ab 1. Juli 1990 Anspruch nach dem OEG im Rahmen des § 1 Abs 5 oder 6 OEG nF zusteht, läßt sich nicht abschließend beurteilen, so daß der Rechtsstreit zur Klärung der tatsächlichen Voraussetzungen eines solchen Anspruchs an das LSG zurückzuverweisen ist. Das LSG wird ua zu prüfen haben, ob ein Entschädigungsanspruch der Klägerin nicht schon unter dem Gesichtspunkt der Mitverursachung (§ 2 Abs 1 OEG) entfällt. Ferner wird zu prüfen sein, ob und ggf ab wann die Voraussetzungen des § 1 Abs 5 oder 6 OEG nF erfüllt sind und ob die Klägerin iS des § 10a OEG bedürftig ist und in Deutschland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Fehlt es an Leistungsvoraussetzungen, deren nachträglicher Eintritt möglich erscheint, so kommt ggf eine Verurteilung des Beklagten zumindest zur Feststellung eines Schädigungstatbestandes nach § 1 OEG in Betracht (vgl BSGE 60, 186 = SozR 3800 § 1 Nr 8; zur Feststellung, einer Wehrdienstbeschädigung auch BSG SozR 3200 § 81 Nr 1). An dieser Feststellung könnte die Klägerin für den Fall Interesse haben, daß sie in Zukunft die deutsche Staatsbürgerschaft oder diejenige eines EG-Staates erwirbt oder ihr Heimatstaat der EG beitritt. In diesem Falle könnte ein etwa bestehender ruhender Anspruch nach dem OEG zum Vollanspruch erstarken.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen