Verfahrensgang
Tenor
Die Revisionen der Kläger werden zurückgewiesen, soweit Leistungen bis zum 30. Juni 1990 begehrt werden. Im übrigen wird auf die Revisionen der Kläger das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 29. September 1994 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Klägerin zu 1 ist die Ehefrau, die Kläger zu 2 und 3 sind die Kinder des am 11. Juli 1989 auf dem Weg zur Arbeit von einem unbekannten Täter erschossenen indischen Staatsangehörigen G. … S. …. Auch die Kläger zu 1 und 3 sind indischer Staatsangehörigkeit, während die Klägerin zu 2 seit dem 21. November 1995 die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Zum Zeitpunkt der Tat lebten die Kläger ebenso wie der Getötete seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Das Verfahren auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls und Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist noch nicht abgeschlossen (Stand März 1995: Berufungsverfahren vor dem Hessischen Landessozialgericht – L-3/U/1168/94 –). Den im Dezember 1991 für sich und ihre Kinder gestellten Antrag der Klägerin zu 1 auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) lehnte die Versorgungsverwaltung unter Hinweis auf die fehlende Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Indien ab (Bescheide vom 10. Januar 1992; Widerspruchsbescheide vom 12. Mai 1992). Die Klagen blieben vor dem Sozialgericht (SG) ohne Erfolg (Urteil des SG Frankfurt/Main vom 29. September 1994). Das SG hat es offengelassen, ob der Ehemann und Vater der Kläger Opfer einer Gewalttat geworden ist und ob die übrigen Voraussetzungen des § 1 Abs 1 OEG erfüllt sind. Es hat die Auffassung der Versorgungsverwaltung bestätigt, daß ein Anspruch auf Versorgung jedenfalls nach § 1 Abs 4 OEG wegen fehlender Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Indien ausgeschlossen sei. Diese Regelung hat es mit dem Grundgesetz (GG) als vereinbar angesehen. Auch nach der Neufassung des OEG durch das 2. OEG-Änderungsgesetz (2. OEG-ÄndG) lasse sich ein Anspruch der Kläger nicht begründen, weil diese Änderung erst Gewalttaten nach dem 1. Juli 1990 erfasse.
Die Stichtagsregelung sei zwar verfassungsrechtlich bedenklich, lasse sich aber sachlich rechtfertigen im Hinblick auf die nicht überschaubare Zahl der Fälle bei einer unbegrenzten Rückwirkung. Wenn der Gesetzgeber ausdrücklich davon abgesehen habe, weiter zurückliegende Fälle in die Regelung einzubeziehen, sei dies zu respektieren. Es sei nicht Sache des Gerichtes zu prüfen, ob der Gesetzgeber jeweils die gerechteste Regelung getroffen habe.
Dagegen wenden sich die Kläger mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision. Sie machen sowohl die Verfassungswidrigkeit des Gegenseitigkeitsvorbehalts in § 1 Abs 4 OEG als auch die Verfassungswidrigkeit der Stichtagsregelung geltend.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts sowie die angefochtenen Bescheide des Beklagten aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Klägern ab 1. August 1989 Hinterbliebenenleistungen nach dem OEG zu gewähren.
Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
1. Die Sprungrevision der Kläger ist teilweise iS einer Zurückverweisung begründet. Der im Dezember 1991 gestellte Antrag kann frühestens seit 1. Juli 1990 zur nachträglichen Erbringung von Entschädigungsleistungen führen, wozu es weiterer tatsächlicher Feststellungen bedarf.
Nach § 1 Abs 8 OEG erhalten die Hinterbliebenen eines iS von § 1 Abs 1 OEG Geschädigten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Vor dem 1. Juli 1990 standen den Klägern Ansprüche auf Entschädigungsleistungen nach dem OEG aber deswegen nicht zu, weil sie weder Deutsche waren noch zum Personenkreis der „privilegierten Ausländer”, dh derjenigen Ausländer gehörten, deren Ansprüche nach dem OEG denjenigen von Deutschen vollständig gleichgestellt waren (§ 1 Abs 4 OEG). Nicht privilegierte Ausländer (vgl dazu insbesondere § 1 Abs 5 und 6 OEG in der seit 1. Juli 1990 geltenden Fassung) können Ansprüche nach dem OEG frühestens seit Inkrafttreten des 2. OEG-ÄndG (1. Juli 1990) haben (vgl § 10c OEG idF des OEG-ÄndG). Dies gilt für Hinterbliebene ebenso wie für die Geschädigten selbst (vgl § 1 Abs 8 Satz 2 OEG). Bis zum 30. Juni 1990 gehörten zum Kreis der privilegierten Ausländer nach dem Wortlaut des § 1 Abs 4 OEG aF solche Ausländer, deren Heimatstaat das Erfordernis der Gegenseitigkeit erfüllte. Zu den privilegierten Ausländern gehörten vor dem 1. Juli 1990 kraft höherrangigen Rechts aber auch Angehörige von Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft ≪EG≫ (vgl die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C. … 186/87, EuGHE 1989, 195 = NJW 1989, S 2183 sowie die klarstellende Bestimmung des § 1 Abs 4 Nr 1 OEG in der ab 1. Juli 1990 geltenden Fassung).
Die Kläger gehören keinem Mitgliedsstaat der EG an. Auf sie sind auch keine Rechtsvorschriften der EG anwendbar, die eine Gleichbehandlung mit Deutschen erforderlich machen (vgl dazu die – ebenfalls nur klarstellende – Vorschrift des § 1 Abs 4 Nr 2 OEG nF; diese Bestimmung bezieht sich auf das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 – BGBl 1993 II S 267 und S 1294). Sonstige zwischenstaatliche Vereinbarungen mit Indien führen nicht zur Gleichstellung der Kläger mit Deutschen (vgl dazu § 1 Abs 4 Nr 3 OEG nF).
Die Kläger gehören aber auch keinem Staat an, dessen Rechtsordnung hinsichtlich des Gewaltopferentschädigungsrechts das Erfordernis der Gegenseitigkeit erfüllt (vgl § 1 Abs 4 OEG aF und § 1 Abs 4 Nr 4 OEG nF). Gegenseitigkeit in diesem Sinne ist dann gegeben, wenn ein staatliches Entschädigungssystem vorhanden ist, welches den Leistungen des OEG entsprechende Leistungen für Folgen von Gewalttaten auch für Deutsche vorsieht (vgl Kunz/Zellner, 3. Aufl, Rz 103 zu § 1 OEG). Die staatlichen Leistungen müssen sich zwar nicht in jeder Hinsicht decken; dies wird im Verhältnis zu einer fremden Rechtsordnung praktisch nie der Fall sein können. Es muß aber ein gewisser Mindeststandard gewährleistet sein. Das Gesetz umschreibt diesen Mindeststandard allerdings nicht. Es ordnet auch nicht an, daß – wie auf anderen Rechtsgebieten (vgl § 121 Abs 5 Urheberrechtsgesetz; § 34 Abs 2 Markengesetz; § 14 Abs 5 Nr 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom 18. Dezember 1990 – BGBl I S 2983) – die Vergleichbarkeit der ausländischen Regelung durch Bekanntmachung oder Verordnung des zuständigen Bundesministers in verbindlicher Weise geregelt wird. Dennoch ist das Erfordernis der Gegenseitigkeit, ausgelegt am Maßstab seiner Funktion, hinreichend justiziabel, und die Frage der Bejahung oder Verneinung nicht ein bloßer Akt politischer Wertung, insbesondere außenpolitischer Opportunität. Seine Funktion, als Gegenleistung und langfristig gesehen Deutschen im Ausland einen Schutz vor Gewalttaten etwa wie im Inland zu verschaffen, kann es nur erfüllen, wenn die staatlichen Leistungen im Kernbereich übereinstimmen. Dies ist von den Gerichten zu überprüfen und ohne weiteres zu verneinen, wenn in dem entsprechenden ausländischen Staat überhaupt keine Gewaltopferentschädigung existiert. Nach den Feststellungen des SG sieht das indische Recht keine Gewaltopferentschädigung vor. Gegen diese Feststellungen haben die Kläger im Rahmen einer Sprungrevision zulässige (§ 161 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) Revisionsrügen nicht erhoben. Sie sind, da sie nicht den Inhalt und die Auslegung von Bundesrecht betreffen (§ 162 SGG), für das Revisionsgericht bindend (BSGE 44, 221, 222 = SozR 5050 § 15 Nr 8). Zu Recht hat das SG ferner aus der von ihm festgestellten ausländischen Rechtslage geschlossen, daß damit die Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Indien nicht gegeben ist.
Die Gegenseitigkeitsregelung in § 1 Abs 4 OEG in den verschiedenen Fassungen ist verfassungsgemäß. Bei dem Gegenseitigkeitsvorbehalt handelt es sich um ein im Völkerrecht übliches Rechtsinstitut, das zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen und auch zahlreichen inländischen Normen mit Auslandsbezug zugrunde liegt, deren Verfassungsmäßigkeit bereits bejaht worden ist (vgl dazu auch Art 25 GG und Urteil des Senats BSGE 60, 186 auf S 188; BVerfGE 30, 409, 414 – Verfassungsmäßigkeit des Gegenseitigkeitsvorbehalts bei der Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft; BVerfG, Beschluß vom 5. Oktober 1982, EuGRZ 82, 508 – zum Gegenseitigkeitsvorbehalt bei Staatshaftung; BVerfG, Beschluß vom 17. Januar 1991, NVwZ 1991, 661 – ebenfalls zur Gegenseitigkeit im Staatshaftungsrecht). Die in dem Gegenseitigkeitsvorbehalt liegende Ungleichbehandlung der Ausländer ist auch im Bereich der Gewaltopferentschädigung nach wie vor durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, die bisherige Praxis habe erwiesen, daß der Gegenseitigkeitsvorbehalt ein untaugliches Mittel sei, deutschen Staatsbürgern im Ausland einen gleichwertigen Schutz zu verschaffen, weil zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des OEG nur wenige Staaten ein vergleichbares Opferentschädigungssystem aufwiesen. Dieser Einwand verkennt, daß der Gegenseitigkeitsvorbehalt auf eine langfristige Wirkung angelegt ist und als ein ständiges Angebot an ausländische Staaten zum Abschluß zwischen- oder überstaatlicher Vereinbarungen verstanden werden kann. Es muß dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit auch die Möglichkeit eingeräumt werden, bei einer völlig neuen Sozialleistung wie der Opferentschädigung die Auswirkungen seiner Regelungen zu beobachten, Erfahrungen zu sammeln und auszuwerten, und erst dann über gesetzgeberischen Reformbedarf nachzudenken. Die mit dem 2. OEG-ÄndG vollzogenen Verbesserungen der Rechtsstellung der Ausländer bedeuten nicht, daß die ursprüngliche Regelung von Anfang an verfehlt gewesen wäre. Sie bedeuten nur, daß der Gesetzgeber in der konkreten innen-und außenpolitischen Lage dem Schutz der ständig in Deutschland lebenden Ausländer nunmehr den Vorrang vor anderen Zielen eingeräumt hat. Daß die an den Gegenseitigkeitsvorbehalt geknüpften Erwartungen des Gesetzgebers nicht von vornherein aussichtslos waren, für die Regelung damit iS des Art 3 Abs 1 GG sachliche Gründe sprechen, zeigen auch die Bestrebungen, nunmehr im Rahmen des Europarats zu vertraglichen Vereinbarungen über eine Gewaltopferentschädigung zu gelangen, die zu dem Übereinkommen vom 24. November 1983 geführt haben, das dem Bundestag inzwischen zur Ratifizierung vorliegt (vgl BR-Drucks 508/95). Bei Würdigung dieser Entwicklung läßt sich nicht erkennen, daß der Gesetzgeber mit dem Gegenseitigkeitsvorbehalt ein von Anfang an zur Zweckerreichung ungeeignetes Mittel gewählt hat, noch daß er seiner Verpflichtung, nachträglich erkennbar gewordene Fehlentwicklungen zu beheben, nicht rechtzeitig nachgekommen ist.
Auf die Frage, ob die Kläger für die Vergangenheit anstelle der rückwirkenden Leistungsgewährung die Feststellung hätten verlangen können, daß der Ehemann bzw Vater seinerzeit durch eine Gewalttat getötet wurde (vgl dazu BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 1), wird noch im Zusammenhang mit Ansprüchen für die Zeit nach dem 30. Juni 1990 eingegangen.
2. Ob den Klägern nach dem 2. OEG-ÄndG seit dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Entschädigungsleistungen zusteht, läßt sich aufgrund der vom SG getroffenen Feststellungen noch nicht abschließend beantworten. Nach dem OEG idF des 2. OEG-ÄndG sind jetzt auch „nichtprivilegierten Ausländern” unter bestimmten Voraussetzungen Entschädigungsansprüche wegen der Folgen von Gewalttaten eingeräumt. Das gilt vor allem für solche Ausländer, die sich seit mindestens drei Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten oder deren Aufenthalt ebensolange aus humanitären Gründen oder erheblichem öffentlichen Interesse geduldet worden ist (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 1 iVm Satz 2 OEG nF). Dieser Personenkreis steht weitgehend Deutschen und privilegierten Ausländern gleich. Darüber hinaus erhalten nunmehr eingeschränkte (nur einkommensunabhängige) Leistungen solche (nichtprivilegierte) Ausländer, die sich rechtmäßig für einen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von längstens sechs Monaten im Bundesgebiet aufhalten (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 2 iVm Satz 2 OEG nF). Dieselben Leistungen erhalten nach § 1 Abs 6 OEG nF auch solche Ausländer, die sich – rechtmäßig -zwar nur für einen vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet aufhalten, aber mit einem Deutschen oder einem privilegierten oder unter Abs 5 und 6 fallenden Ausländer verheiratet oder in gerader Linie verwandt sind. Für alle drei genannten Gruppen von nichtprivilegierten Ausländern gilt die Erlöschens- und Abfindungsregelung des § 1 Abs 7 OEG nF. Keine Ansprüche stehen nach wie vor grundsätzlich nur solchen in Deutschland lebenden Ausländern zu, die sich nur vorübergehend im Bundesgebiet aufhalten, ohne mit einem Deutschen oder einem der vorgenannten anspruchsberechtigten Ausländer verheiratet oder in gerader Linie verwandt zu sein; nicht anspruchsberechtigt bleiben schließlich auch diejenigen Ausländer, die sich unberechtigt im Bundesgebiet aufhalten. Aber auch den beiden zuletzt genannten Personengruppen ist in besonderen Härtefällen zumindest ein Ausgleichsanspruch eingeräumt (vgl § 10b OEG nF). Bezieht man diese Härteregelung mit ein, so können nunmehr – jedenfalls in besonderen Härtefällen – alle in Deutschland geschädigten Ausländer und deren Hinterbliebene Leistungen nach dem OEG erhalten.
Eine Ausnahme bilden nach dem reinen Wortlaut des Gesetzes lediglich diejenigen nichtprivilegierten Ausländer, an denen eine Gewalttat vor dem 1. Juli 1990 verübt worden ist (§ 10 Satz 3 OEG). Diese Stichtagsregelung wäre aber verfassungswidrig, wenn sie Leistungen für Gewalttaten, die vor dem 1. Juli 1990 an Ausländern begangen worden sind, eindeutig auch für Härtefälle ausschlösse. Das Fehlen einer ausdrücklichen Härteregelung stellt eine gegen Art 3 Abs 1 GG verstoßende Gesetzeslücke dar, die im Wege verfassungskonformer Auslegung von den Gerichten geschlossen werden kann. Bei einer entsprechenden Anwendung des § 10a OEG auf die in § 1 Abs 5 und 6 genannten nichtprivilegierten Ausländer lassen sich die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Stichtagsregelung in § 10 Satz 3 OEG nF ausräumen (vgl BVerfGE 82, 6, 12).
Zwar sind – insbesondere bei Einräumung von Ansprüchen auf Sozialleistungen -Stichtagsregelungen grundsätzlich zulässig (BVerfGE 49, 275; 79, 219; 80, 311). Stets ist aber zu prüfen, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Gestaltungsspielraum in sachgerechter Weise genutzt, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und ob sich die gefundene Lösung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen läßt oder als willkürlich erscheint (BVerfGE 80, 311; 44, 21 ff). Gegen den allgemeinen Gleichheitssatz wird insbesondere dann verstoßen, wenn der Gesetzgeber ohne erkennbare Gründe von seinen eigenen Grundsätzen abweicht (vgl BVerfGE 13, 31).
Die Stichtagsregelung des § 10 Satz 3 OEG nF enthält eine solche Systemwidrigkeit. Der gesetzlichen Regelung des 2. OEG-ÄndG läßt sich einerseits der Grundsatz entnehmen, daß nunmehr auch die bisher nicht nach dem OEG geschützten Ausländer, die sich rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, jedenfalls in Härtefällen für die Zeit ihres Aufenthalts im Inland in den Schutz des OEG einbezogen werden. Ein Bedürfnis für die Neuregelung sah der Gesetzgeber vor allem für die jüngste Vergangenheit und für die Zukunft, weshalb er in § 10 Satz 3 OEG nF einen entsprechenden Stichtag festsetzte. Der Anlaß für die Wahl des Stichtages – 1. Juli 1990 – war dabei der Umstand, daß etwa von diesem Zeitpunkt an eine alarmierende Zunahme von politisch motivierten Gewalttaten gegen in Deutschland lebende Ausländer zu beobachten war (vgl Gesetzentwurf BT-Drucks 12/4889, S 6). Durch die Neuregelung wurden aber nicht nur solche Ausländer begünstigt, die Opfer ausländerfeindlicher Aggressionen geworden waren. Vielmehr wurden mehr oder weniger alle Ausländer für Gewalttaten jeder Art, insbesondere auch für solche, die sie untereinander begehen, in den Schutz des Gesetzes einbezogen. Damit trat für den Gesetzgeber des 2. OEG-ÄndG der Zweck der Ausländerintegration durch Einbeziehung in den Versorgungsschutz bei Gewalttaten jedweder Art in den Vordergrund; die politisch motivierten Gewalttaten waren nur der Anlaß, den Schutz der Ausländer insgesamt neu zu regeln. Ein Bedürfnis nach rechtlicher Integration besteht aber gerade auch für die vor dem Stichtag geschädigten Ausländer und deren Hinterbliebene, weil diese sich in der Regel noch länger im Inland aufgehalten haben als die später Geschädigten. Eine Ausgrenzung dieses Personenkreises erscheint – jedenfalls in Härtefällen – um so weniger systemgerecht, als der Gesetzgeber in § 10b OEG nF zum Ausdruck gebracht hat, daß er in besonderen Härtefällen allen im Inland geschädigten Ausländern den Schutz des OEG zuwenden will. Mit diesem Grundgedanken ist das völlige Fehlen einer Härteregelung für Taten unvereinbar, die vor dem 1. Juli 1990 an Ausländern begangen worden sind. Treffen sogar beide Gesichtspunkte zusammen, handelt es sich also um Fälle von Gewalttaten, die an bereits typischerweise integrierten (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 1 OEG nF) oder an typischerweise integrationswilligen Ausländern (§ 1 Abs 5 Satz 1 Nr 2 OEG nF) oder an deren sich vorübergehend im Inland aufhaltenden Angehörigen (§ 1 Abs 6 OEG nF) begangen worden sind, und liegt außerdem ein sozialer Härtefall vor, erscheint die Nichteinbeziehung dieser Ausländer nur wegen des Zeitpunkts ihrer Schädigung nach der Gesamtsystematik der Novelle vom 21. Juli 1993 nicht nachvollziehbar. Aus dem Gesetzgebungsverfahren des 2. OEG-ÄndG läßt sich nur sicher entnehmen, daß alle bekanntgewordenen politisch motivierten schweren Gewalttaten rückwirkend in das OEG einbezogen werden sollten. Daraus kann nicht der Schluß gezogen werden, daß alle sonstigen Gewalttaten an Ausländern aus der Vergangenheit künftig unentschädigt bleiben sollten. Es ist mangels eines entgegenstehenden erkennbaren gesetzgeberischen Willens von einer Regelungslücke auszugehen, die in verfassungskonformer Weise zu schließen ist.
Das Modell zur Schließung dieser Lücke entnimmt der Senat der Regelung, die der Gesetzgeber schon mehrfach bei der nachträglichen Einbeziehung sog Altfälle ins OEG getroffen hat. So hat er mit dem 1. OEG-ÄndG vom 20. Dezember 1984 (BGBl I S 1723) durch § 10a OEG schwere Gewalttaten aus der Zeit vom 23. Mai 1949 bis zum 15. Mai 1976 jedenfalls für die Zukunft in die Leistungspflicht einbezogen. Ebenso ist der Gesetzgeber bei Einführung des OEG in den neuen Bundesländern vorgegangen. Das OEG gilt dort uneingeschränkt nur für Ansprüche aus Taten, die nach dem 2. Oktober 1990 begangen worden sind. Nach Maßgabe des § 10a OEG werden als Härtefälle aber auch Opfer von Gewalttaten aus der Zeit vom 7. Oktober 1949 (Gründung der DDR) bis zum Stichtag 2. Oktober 1990 entschädigt (Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 18 Buchst c Einigungsvertrag idF der Änderung durch Art 2 des 2. OEG-ÄndG). Eine ähnliche Härteregelung enthält auch die mit Gesetz vom 24. Juli 1995 (BGBl I S 962) in das Soldatenversorgungsgesetz (SVG) eingefügte Vorschrift des § 81e Abs 12 SVG. Ein Versorgungsanspruch dienstlich im Ausland verwendeter Soldaten, die dort durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff geschädigt werden, besteht uneingeschränkt erst für Taten ab Inkrafttreten des Gesetzes am 29. Juli 1995. Für Hinterbliebene und Geschädigte, die allein infolge dieser Schädigung schwerbehindert sind, gilt dieser Stichtag nicht. Sie erhalten Versorgungsleistungen auch dann, wenn sie in der Zeit vom 1. April 1956 (Inkrafttreten des Soldatengesetzes) bis zum Inkrafttreten des § 81e SVG geschädigt worden sind.
Eine entsprechende Härteregelung kann auch den nach dem OEG nichtprivilegierten Ausländern nicht vorenthalten werden. Es lassen sich keine sachlichen Gesichtspunkte finden, die das Fehlen einer solchen Regelung noch als mit Art 3 Abs 1 GG vereinbar erscheinen lassen könnten. Zwar darf und muß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung sozialer Leistungen auch die Finanzierbarkeit berücksichtigen, was dazu führen kann, daß Leistungen auch zeitlich gestaffelt und in verschiedener Höhe für bestimmte Personengruppen eingeführt werden können, wenn anders eine Finanzierung bei Beachtung einer soliden Haushaltsplanung nicht möglich erscheint (vgl BVerfG SozR 3-5761 Allg Nr 1). Für eine Gefährdung der staatlichen Haushalte von Bund und Ländern (vgl § 4 Abs 2 OEG) durch die Einbeziehung der sog Altfälle bestehen aber keine Anhaltspunkte, wenn nur die Härtefälle hinzutreten. Bei geschätzten Gesamtkosten zwischen jährlich vier bis 6,6 Mio DM in den Jahren 1993 bis 1996 (vgl Gesetzentwurf aaO S 2) dürften die Mehrkosten kaum ins Gewicht fallen. Für eine Ausgrenzung der Altfälle aus finanziellen Erwägungen finden sich in den genannten Gesetzesmaterialien auch keine Anhaltspunkte. Hinzu kommt, daß die auf Dauer im Inland lebenden schwerbeschädigten, bedürftigen Ausländer oder ihre Hinterbliebenen in der Regel ohnehin öffentlich-rechtliche Leistungen in Anspruch nehmen müssen, insbesondere solche nach dem Bundessozialhilfegesetz. Der Mehrbelastung von Bund und Ländern entspräche damit eine gewisse Entlastung der Gemeinden, die im Finanzausgleich berücksichtigt werden könnte.
Die Schwierigkeiten einer nachträglichen Sachverhaltsaufklärung haben den Gesetzgeber nicht davon abgehalten, Härtefälle rückwirkend einzubeziehen. Er ist schon bei dem 1. OEG-ÄndG davon ausgegangen, daß bei Gewalttaten mit schweren Folgen in aller Regel Unterlagen, insbesondere staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten, noch vorhanden sind und ausgewertet werden können (Gesetzesbegründung BT-Drucks 10/2103).
Voraussetzung für die Härteregelung des OEG ist durchgehend, daß der Betroffene allein als Folge der Gewalttat schwerbeschädigt und außerdem finanziell bedürftig ist. Ist er an den Folgen der Gewalttat verstorben, erhalten die Hinterbliebenen ebenfalls Versorgung, solange sie bedürftig sind und sich im Geltungsbereich des Gesetzes aufhalten (§ 10a Abs 4 OEG). Ausgeschlossen sind lediglich Berufsschadens- und Schadensausgleich (§ 10 Abs 5 OEG). Unter diesen Voraussetzungen muß auch den in der Vergangenheit geschädigten Ausländern ab 1. Juli 1990 eine Entschädigung gewährt werden.
Ob den Klägern nach dem zuvor Gesagten ab 1. Juli 1990 ein Anspruch nach dem OEG im Rahmen des § 1 Abs 5 oder 6 OEG nF zusteht, läßt sich nicht abschließend beurteilen, so daß der Rechtsstreit zur Klärung der tatsächlichen Voraussetzungen eines solchen Anspruchs an das SG zurückzuverweisen ist.
In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist ausdrücklich offengeblieben, ob der Getötete Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat geworden ist. Nach Zurückverweisung muß das SG dazu eindeutige Feststellungen treffen. Es muß auch geprüft werden, ob nicht § 2 OEG Ansprüche ausschließt, weil der Getötete möglicherweise Opfer eines politisch motivierten Anschlags unter Landsleuten geworden ist. Ferner bleibt ggf unter Aussetzung des Verfahrens (§ 114 Abs 2 SGG) abzuwarten, ob der Tod als Arbeitsunfall anerkannt wird. Der Senat hat bereits entschieden, daß eine Ausdehnung der Härteregelung des § 10a OEG auf zurückliegende Fälle dann ausscheidet, wenn für dasselbe Ereignis Leistungen der Unfallversicherung gewährt werden (Urteil vom 12. Dezember 1995 – 9 RVg 1/94 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Dieser Rechtsgedanke ist auch auf den Sachverhalt übertragbar, daß eine Gesetzeslücke für von Gewalttaten betroffene Ausländer geschlossen werden soll. Eine Härteregelung kommt dann nicht in Betracht, wenn der Ausländer bereits vollwertige Leistungen aus einem anderen sozialen Sicherungssystem erhält. Ansonsten wären Feststellungen zur Bedürftigkeit der Kläger zu treffen.
Falls die Voraussetzungen des § 1 OEG zu bejahen sind, hat die Klägerin zu 2 jedenfalls seit ihrer Einbürgerung am 21. November 1995 Anspruch auf Waisenrente gemäß § 45 BVG, wenn sie sich trotz Volljährigkeit noch in Berufsausbildung befindet. Auch dies muß notfalls vom SG ermittelt werden.
Fehlen Leistungsvoraussetzungen, so kommt ggf eine Verurteilung des Beklagten zumindest zur Feststellung eines Schädigungstatbestandes nach § 1 OEG in Betracht (vgl BSG SozR 3200 § 81 Nr 1; BSGE 60, 186). An dieser Feststellung könnten die Kläger zu 1 und 3 für den Fall Interesse haben, daß sie in Zukunft ebenso wie die Klägerin zu 2 die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben. In diesem Falle könnte ein etwa bestehender ruhender Anspruch nach dem OEG zum Vollanspruch erstarken.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen