Verfahrensgang
Thüringer LSG (Urteil vom 27.02.1996) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 27. Februar 1996 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 4. August 1993 bis 31. März 1994 und eine damit verbundene Rückforderung von 3.843,96 DM streitig.
Die Klägerin bezog bis zum 3. August 1993 Arbeitslosengeld (Alg), und zwar zuletzt in Höhe von wöchentlich 232,20 DM. Im Juli 1993 beantragte sie die Gewährung von Anschluß-Alhi. Dem Antrag fügte sie eine Vermögenserklärung sowie eine Verdienstbescheinigung über das Einkommen des Ehemannes bei. Nach Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hatte der Ehemann der Klägerin 1993 im April ein Nettoarbeitsentgelt von 1.441,25 DM, im Mai von 1.464,68 DM und im Juni von 1.619,60 DM erzielt sowie in diesen Monaten Kurzarbeitergeld (Kug) von 111,06 DM, 148,08 DM und nochmals 148,08 DM bezogen.
Mit Schreiben vom 27. Juli 1993 teilte die Beklagte der Klägerin mit, daß diese in den nächsten Tagen einen Bescheid erhalten werde, in dem der Leistungssatz der Alhi nicht dem der gesetzlichen Tabelle entspreche, weil Einkommen anzurechnen sei. Der anzurechnende Betrag ergebe sich aus dem beigefügten Berechnungsbogen. In diesem hatte die Beklagte das zu berücksichtigende Erwerbseinkommen des Ehemannes mit monatlich 1.525,24 DM beziffert, hiervon einen Betrag von monatlich 1.040,00 DM als angemessenen Selbstbehalt abgezogen und den Anrechnungsbetrag mit monatlich 485,24 DM bzw wöchentlich mit 111,98 DM (485,24 DM × 3: 13) beziffert.
Ab 4. August 1993 bewilligte die Beklagte der Klägerin Alhi in Höhe von 206,40 DM wöchentlich (Bescheid vom 3. August 1993). Der Bewilligung lagen ein Bemessungsentgelt von 530,00 DM, eine Nettolohnersatzquote von 56 vH sowie die Leistungsgruppe F zugrunde. Ein Anrechnungsbetrag wurde nicht in Abzug gebracht.
Durch Dynamisierung des Bemessungsentgelts auf 610,00 DM erhöhte sich die Alhi ab 30. September 1993 auf 231,60 DM (Bescheid vom 8. Oktober 1993). Ab 1. Januar 1994 wurde die Alhi auf 215,40 DM herabgesetzt (Bescheid vom 14. Januar 1994). Die Neufeststellung beruhte im wesentlichen auf der gesetzlich festgelegten niedrigeren Nettolohnersatzquote von 53 vH und der nunmehr zu berücksichtigenden Leistungsgruppe A. Ab 1. April 1994 gewährte die Beklagte die Alhi nur noch in Höhe von 76,32 DM (Bescheid vom 10. März 1994), wobei sie den bisherigen Leistungssatz um einen Anrechnungsbetrag von 139,08 DM verkürzte.
Mit Schreiben vom 29. Juni 1994 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie habe in der Zeit vom 4. August 1993 bis 31. März 1994 Alhi in Höhe von 206,40 DM bzw 231,60 DM wöchentlich bezogen, obwohl ihr diese Leistung ab 4. August bzw 30. September 1993 nur in Höhe von 94,42 DM bzw 119,62 DM zugestanden habe. Der Verwaltungsakt sei von Anfang an (ab 4. August 1993) rechtswidrig gewesen. Der ihr mit Schreiben vom 27. Juli 1993 bekannt gegebene Anrechnungsbetrag sei durch einen datentechnischen Fehler nicht berücksichtigt worden. Aufgrund des benannten Anrechnungsbetrages habe sie erkennen können, daß ihr die Leistung nach Tabelle nicht zustehe. Bevor über die Aufhebung des Verwaltungsaktes entschieden werde, werde ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
In ihrer Erwiderung, bei der Beklagten eingegangen am 13. Juli 1994, machte die Klägerin geltend, sie sei der festen Meinung gewesen, daß „alles Rechtens” gewesen sei. Ihr Ehemann verdiene höchstens 1.600,00 DM im Monat. Wegen Kurzarbeit, manchmal „auf Null”, sei es noch weniger. Besonders im vorigen Jahr sowie Anfang des jetzigen Jahres sei das sehr oft vorgekommen. Im übrigen habe sie das Geld verbraucht.
Mit Bescheid vom 21. Oktober 1994 nahm die Beklagte die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 4. August 1993 bis 31. März 1994 in Höhe eines Teilbetrages von 3.843,96 DM (berechnet nach dem wöchentlichen Anrechnungsbetrag von 111,98 DM) zurück und verpflichtete die Klägerin zur Erstattung dieses Betrages.
Der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1994). Das Sozialgericht (SG) hat den Rücknahme- und Erstattungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 10. August 1995). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 27. Februar 1996). Zur Begründung ist ausgeführt worden, die Klägerin sei zwar bei Bekanntgabe des Bewilligungsbescheides vom 3. August 1993 bösgläubig gewesen, dennoch sei die Beklagte an der Rücknahme der Bewilligung gehindert gewesen. Bei Bekanntgabe des Rücknahmebescheides sei die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) bereits verstrichen gewesen. Deren Lauf sei mit dem Bescheid vom 3. August 1993 in Gang gesetzt worden. Zu diesem Zeitpunkt habe die Beklagte bereits Kenntnis von allen maßgeblichen Tatsachen gehabt.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X. Sie ist der Auffassung, die für den Beginn der Jahresfrist notwendige Tatsachenkenntnis habe – erst – am 13. Juli 1994 vorgelegen. An diesem Tag sei die Rückäußerung der Klägerin vom 12. Juli 1994 eingegangen, die eine abschließende Beurteilung der bislang nur vermuteten Bösgläubigkeit erlaubt habe. Gerade bei der Überprüfung bösgläubigen Verhaltens komme es auf personenbezogene Umstände an, von denen die Behörde erst während des Anhörungsverfahrens Kenntnis erlange. Eine Tatsachenkenntnis werde nicht schon dadurch begründet, daß ein Fehlverhalten aktenkundig sei.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG sowie des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die vorinstanzlichen Urteile für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 21. Oktober 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 1994, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Alhi rückwirkend für die Zeit vom 4. August 1993 bis 31. März 1994 teilweise zurückgenommen und die Erstattung erbrachter Leistungen in Höhe von 3.843,96 DM gefordert hat. Mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen vermag der Senat in der Sache nicht zu beurteilen, ob der angefochtene Bescheid mit der Rechtslage in Einklang steht.
Als Rechtsgrundlage für die – teilweise – Rücknahme der Alhi-Bewilligungen zum 4. August 1993, 30. September 1993 und 1. Januar 1994 (Bescheide vom 3. August 1993, 8. Oktober 1993 und 14. Januar 1994) kommt allein § 45 SGB X in Betracht, ggf iVm § 152 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz ≪AFG≫ (idF des Art 1 Nr 50 des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 ≪BGBl I 2353≫). Nach § 45 Abs 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, im Falle seiner Rechtswidrigkeit nur unter den Einschränkungen der Abs 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder Vergangenheit zurückgenommen werden. Da die Beklagte die Rücknahme für die Vergangenheit verfügt hat, ist hier § 45 Abs 4 SGB X einschlägig. Danach wird der Verwaltungsakt nur in den Fällen des Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 für die Vergangenheit zurückgenommen (Satz 1). Dies muß die Behörde innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, die die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen (Satz 2).
Alle sonstigen Rücknahmevoraussetzungen unterstellt, scheitert vorliegend die Rücknahme entgegen der Auffassung des LSG nicht an der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X. Zu Unrecht hat das LSG den Lauf dieser Frist nach dem Zeitpunkt des – ersten – Bewilligungsbescheides vom 3. August 1993 beurteilt. Seine Annahme, zu diesem Zeitpunkt habe die Beklagte bereits Kenntnis von allen maßgeblichen Tatsachen gehabt, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Einzuräumen ist, daß der bloße Wortlaut des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X, der auf die Kenntnis der „Tatsachen” abstellt, die die Rücknahme für die Vergangenheit rechtfertigen, Art und Umfang der zu fordernden Kenntnis nicht hinreichend deutlich macht. Wie der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in dem Urteil vom 27. Juli 1989 (BSGE 65, 221, 225 f = SozR 1300 § 45 Nr 45) aufgezeigt hat, sind grundsätzlich vier Auslegungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen. Von diesen hat die Rechtsprechung des BSG die engste, die nur auf Kenntnis der Tatsachen abstellt, die die Rechtswidrigkeit begründen (nicht auch auf die Kenntnis der weiteren Rücknahmevoraussetzungen), ebenso abgelehnt wie die weiteste, die die Kenntnis aller Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen, zuzüglich der Kenntnis ihrer rechtlichen Bedeutung für notwendig angesehen hat. Maßgebend ist vielmehr eine Auslegung, die jedenfalls die Kenntnis aller Tatsachen fordert, die die Rücknahme rechtfertigen. Ob darüber hinaus mit dem Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts ≪BVerwG≫ (BVerwGE 70, 356, 361) zusätzlich eine eingeschränkte Rechtskenntnis, nämlich die Kenntnis der Rechtswidrigkeit des erlassenen Verwaltungsaktes, zu fordern ist, hat der Senat hier nicht zu entscheiden (vgl neuerdings Urteil des 5. Senat des BSG vom 25. Oktober 1995 ≪SozR 3-1300 § 45 Nr 26≫, der sich ausdrücklich der Entscheidung des Großen Senats des BVerwG ≪aaO≫ angeschlossen hat; ebenso Urteil des 13. Senats vom 8. Februar 1996, BSGE 77, 295, 300 = SozR 3-1300 § 45 Nr 27). Denn schon von den für die Rücknahme erforderlichen Tatsachen hat die Beklagte in dem gebotenen Umfang nicht vor dem 13. Juli 1994 Kenntnis erhalten.
Nach § 45 Abs 4 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt nur in den Fällen des Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 für die Vergangenheit zurückgenommen. Folglich müssen der Behörde auch diejenigen Tatsachen bekannt sein, die § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X oder – der hier offenbar nicht relevante – Abs 3 Satz 2 SGB X voraussetzt (BSGE 60, 239, 240 f = SozR 1300 § 45 Nr 26; BSGE 62, 103, 108 = SozR 1300 § 45 Nr 39; BSGE 65, 221, 228 = SozR 1300 § 45 Nr 45; BSGE 66, 204, 210 = SozR 3-1300 § 45 Nr 1; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 2; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 26; BSGE 77, 295, 299 f = SozR 3-1300 § 45 Nr 27).
Nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X, auf den die Beklagte die Rückforderung gestützt hat, kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Für den Beginn der Jahresfrist kommt es demnach darauf an, ab wann die Beklagte Kenntnis davon hatte, daß die Klägerin die (teilweise) Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Maßgeblich ist damit der Zeitpunkt, zu dem die Behörde aufgrund des ermittelten Sachverhalts Kenntnis von der Bösgläubigkeit der Klägerin hatte. Entgegen der Auffassung des LSG konnte eine derartige Kenntnis der Beklagten nicht schon ohne weiteres bei Bekanntgabe des – ersten – Bescheides vom 3. August 1993 als gegeben angesehen werden.
Die Frage, ob die Behörde die Tatsachen, die eine abschließende Prüfung der Rücknahmevoraussetzung erlauben, kennt, ist weder ausschließlich anhand objektiver Kriterien noch allein aufgrund der subjektiven Einschätzung der Behörde zu beantworten. Die zeitliche Begrenzung der Rücknahmebefugnis für die Vergangenheit dient der Rechtssicherheit (BSGE 74, 20, 26, mwN = SozR 3-1300 § 48 Nr 32; aA Bieback, SGb 1995, 141). Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes ist die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht (BSGE 74, 20, 26 f = SozR 3-1300 § 48 Nr 32). Hierbei ist hinsichtlich der erforderlichen Gewißheit über Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde, und zwar des für die Rücknahmeentscheidung zuständigen Sachbearbeiters, abzustellen, es sei denn, deren sichere Kenntnis liegt bei objektiver Betrachtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor (BSGE 77, 295, 298 f = SozR 3-1300 § 45 Nr 27).
Zu Recht sah sich vorliegend die Beklagte zu einer abschließenden Beurteilung, ob die Klägerin die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, und zwar hier schon des ersten Bewilligungsbescheides vom 3. August 1993, kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, nicht bereits aufgrund ihres Schreibens vom 27. Juli 1993 in der Lage. Mit diesem hatte sie der Klägerin mitgeteilt, daß diese in den nächsten Tagen einen Bescheid erhalten werde, in dem der Zahlbetrag nicht mit dem Leistungssatz nach der gesetzlichen Tabelle übereinstimme, weil Einkommen anzurechnen sei. Im beigefügten Berechnungsbogen ist der Anrechnungsbetrag mit 111,98 DM wöchentlich angegeben worden. Ein Hinweis auf den konkreten, gekürzten Alhi-Leistungssatz wurde nicht gegeben.
Entgegen der Auffassung des LSG erlaubte das bloße Vorhandensein des Schreibens vom 27. Juli 1993 aus objektiver Sicht noch keine zwingenden Rückschlüsse auf ein bösgläubiges Verhalten der Klägerin. Gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 Halbsatz 2 SGB X ist grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt im besonders schwerem Maße verletzt hat. Hierfür genügt es nicht, daß er mit der Rechtswidrigkeit rechnen mußte. Verlangt wird vielmehr eine Sorgfaltspflichtverletzung in einem außergewöhnlich hohen Ausmaße, die dann zu bejahen ist, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn also nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten mußte (BSGE 62, 103, 107 = SozR 1300 § 48 Nr 39; BSG SozR 4100 § 152 Nr 10). Dabei ist nicht ein objektiver Maßstab anzulegen, sondern auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen. Nur in seltenen Fällen lassen sich diese Kriterien anhand objektiver Umstände beurteilen. Die Behörde kann deshalb nicht allein auf den Akteninhalt abstellen (vgl dazu BSGE 77, 295, 300 f = SozR 3-1300 § 45 Nr 27; BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 26). Ansonsten wäre sie gezwungen, einen Verwaltungsakt vorsorglich, sozusagen „auf Verdacht”, zu erlassen (vgl BSGE 74, 20, 26 = 3-1300 § 48 Nr 32). Sie muß vielmehr dem Betroffenen zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Tatsachen geben, abgesehen davon, daß eine solche Anhörungspflicht grundsätzlich aus § 24 SGB X folgt. Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X kann daher regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung des Betroffenen beginnen (BSGE 77, 295, 301 = SozR 3-1300 § 45 Nr 27). Dies trifft auch für den vorliegenden Fall zu.
Zum einen konnte die Beklagte, nachdem die unterlassene Einkommensanrechnung bemerkt worden war, nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß die Klägerin das (Aufklärungs-)Schreiben vom 27. Juli 1993 überhaupt erhalten hatte. Schon deshalb war die Anhörung erforderlich, um feststellen zu können, ob dieses Schreiben bei der Prüfung eines evtl bösgläubigen Verhaltens der Klägerin mit verwertet werden konnte. Zum anderen kann die Behörde allein aus einem vorab ergangenen Aufklärungsschreiben nicht mit hinreichender Gewißheit die Schlußfolgerung ziehen, daß der Adressat bei Zugang eines Bescheides, der inhaltlich nicht dem Aufklärungsschreiben entsprach, bösgläubig war, dh daß er aufgrund seiner Kenntnis und Einsichtsfähigkeit die objektive Differenz erkannt und subjektiv richtig gewertet hat (so im Ergebnis auch BSG SozR 3-4100 § 112 Nr 26).
Um dem subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff und den bei dessen Prüfung zu beachtenden Kriterien Rechnung tragen zu können, mußte sich die Beklagte zu aufklärenden Maßnahmen veranlaßt sehen. Sie konnte nicht von vornherein ausschließen, daß die Klägerin aus ihrer Sphäre Tatsachen geltend machen konnte bzw würde, nach denen möglicherweise die Annahme einer groben Fahrlässigkeit nicht gerechtfertigt war. Die Gelegenheit zu einer solchen Stellungnahme hat die Beklagte der Klägerin mit dem Anhörungsschreiben vom 29. Juni 1994 eröffnet. Frühestens mit dem Eingang der Rückäußerung der Klägerin am 13. Juli 1994 verfügte die Beklagte somit – iVm dem Akteninhalt – über die notwendigen tatsächlichen Informationsgrundlagen, um die Rücknahmeentscheidung treffen zu können.
An dieser Beurteilung wäre der Senat auch dann nicht gehindert, wenn er gemäß § 163 SGG von den Feststellungen des LSG, daß die Klägerin bei Bekanntgabe des Bescheides vom 3. August 1992 bösgläubig gewesen sei, auszugehen hätte. Damit hätte das LSG zu der Frage, wann die Beklagte Kenntnis von der Bösgläubigkeit der Klägerin hatte, schon deshalb für den Senat keine relevante Entscheidung getroffen, weil das LSG insoweit den Begriff der Kenntnis und die Bedeutung des Aufklärungsschreibens der Beklagten verkannt hat. Denn letztlich hat das LSG den Rechtssatz aufgestellt, daß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X auch die Fälle erfaßt, in denen die Behörde von den maßgeblichen Tatsachen schon zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes Kenntnis hatte; diese Kenntnis kann sich aber naturgemäß nicht auf eine Bösgläubigkeit des Betroffenen iS von § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X beziehen, weil der Betroffene nicht schon vor dem Erlaß (= Bekanntgabe) des Verwaltungsakts Kenntnis von dessen Rechtswidrigkeit haben kann.
Der Lauf der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X begann vorliegend somit frühestens am 13. Juli 1994. Der Rücknahmebescheid vom 21. Oktober 1994 ist daher innerhalb der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X erlassen worden. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß die Beklagte die notwendige Sachaufklärung, dh die Verschaffung der erforderlichen Tatsachenkenntnis, in einer Weise verzögert hat, daß sich dies entscheidungserheblich auf den Ablauf der Jahresfrist auswirken könnte. Der Senat kann daher offenlassen, wie ein derartiges schuldhaftes „Nichtverschaffen” der Tatsachenkenntnis im Rahmen des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X zu werten wäre.
Wegen fehlender tatsächlicher Feststellungen des LSG ist dem Senat jedoch keine abschließende Entscheidung darüber möglich, ob und ggf in welchem Umfang die Bewilligung der Alhi für die Zeit vom 4. August 1993 bis 31. März 1994 rechtswidrig ist. Zwar kann davon ausgegangen werden, daß die Beklagte für den strittigen Zeitraum den – ungekürzten – Leistungssatz in der zutreffenden Höhe festgestellt hat. Insoweit ergeben sich insbesondere für den Zeitraum bis Ende 1993 aus der Anwendung der Leistungsgruppe F, die befristet für das Jahr 1993 gegolten hat, keine Bedenken. Die Tabellenwerte der Leistungsgruppe F weichen nur in einem bestimmten Teilbereich, der hier nicht betroffen ist, von denen der Leistungsgruppe A ab (vgl hierzu GemeinschaftsKomm zum AFG, § 111 Rz 317 iVm Rz 194 ff, insbesondere Rz 199 ff).
Vor allem fehlt es an Feststellungen, in welcher Höhe die Bedürftigkeit der Klägerin wegen eines anzurechnenden Einkommens ihres Ehemannes entfallen ist. Das LSG hat insoweit lediglich festgestellt, daß der Ehemann 1993 in den Monaten April bis Juni Nettoarbeitsverdienste von 1.441,25 DM, 1.464,68 DM und 1.619,60 DM zuzüglich Kug von 111,06 DM sowie 2 × 148,08 DM erzielt hat. Ohne das Problem der zeitlichen Zuordnung des zu berücksichtigenden Einkommens zu den Alhi-Zahlungszeiträumen zu vertiefen (vgl hierzu BSG SozR 4100 § 138 Nr 2; ferner Ebsen in Gagel, AFG, Stand Januar 1996, § 138 Rzn 157 f; DBl-Sammelerlaß Alg/Alhi der Beklagten, Stand August 1996, § 138 Rz 162), wird das LSG zu beachten haben, daß der Ehemann schwankendes Einkommen erzielt hat. So hat das LSG selbst darauf hingewiesen, daß beim Ehemann ab Juli 1993 „offenbar” wöchentlich 20 Stunden Kurzarbeit angefallen seien. Es ist daher keinesfalls sicher, daß der Ehemann der Klägerin ab August 1993 ein vergleichbares Einkommen erzielt hat, wie es die Beklagte als monatliches Durchschnittseinkommen aus den drei Monaten April bis Juni 1993 zugrunde gelegt hat. Sollte der Ehemann der Klägerin allerdings ein höheres Einkommen erzielt haben, als bislang berücksichtigt wurde, wäre das sog Verböserungsverbot zu beachten, und zwar unter Würdigung des von der Beklagten berücksichtigten Freibetrages. Sollte ein niedrigeres Einkommen des Ehemannes als bisher angenommen zugrunde zu legen sein, müßte ggf die Höhe des Freibetrages überprüft werden.
Wegen der fehlenden Feststellungen ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu befinden haben.
Fundstellen