Leitsatz (amtlich)

Auch vor dem Inkrafttreten des SGG waren prozeßrechtliche Erklärungen, wie zB die Rücknahme einer Berufung alten Rechts, nicht wegen Irrtums anfechtbar.

 

Normenkette

BGB § 119 Fassung: 1896-08-18; SGG § 102 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 10. Januar 1957 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin, J B, starb ... 1947. Am 15. Februar 1951 beantragte die Klägerin Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Diesen Antrag lehnte das Versorgungsamt L durch Bescheid vom 16. Mai 1952 ab, weil das Leiden, das zum Tode des J B geführt habe, mit dem Wehrdienst nicht ursächlich zusammenhänge. Den Einspruch der Klägerin wies der Beschwerdeausschuß am 19. Dezember 1952 zurück. Die Klägerin legte Berufung beim Oberversicherungsamt (OVA.) S ein; in der mündlichen Verhandlung vor dem OVA. am 26. Oktober 1953 nahm sie die Berufung zurück. Am 2. November 1953 beantragte sie beim Landesversorgungsamt (LVersorgA.) Schleswig-Holstein die "Wiederaufnahme des Verfahrens", diesen Antrag verwarf das LVersorgA. am 21. Januar 1954 "als unzulässig". Die Klägerin erhob Klage beim Sozialgericht (SG.) Lübeck; sie führte aus, sie habe die Berufung nur deshalb zurückgenommen, weil sie vom Vorsitzenden der Spruchkammer des OVA. unrichtig belehrt worden sei. Durch Urteil vom 19. April 1955 wies das SG. die Klage ab; es führte aus, die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens lägen nicht vor; das Vorbringen der Klägerin sei als Anfechtung der Zurücknahme der Berufung anzusehen, die Anfechtung einer Prozeßhandlung wegen Irrtums im Beweggrund sei jedoch nicht zulässig. Das Landessozialgericht (LSG.) wies die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 10. Januar 1957 zurück: Auch im sozialgerichtlichen Verfahren seien prozeßrechtliche Erklärungen, also auch die Rücknahme eines Rechtsmittels, weder widerruflich noch anfechtbar; wenn es zutreffe, daß die Klägerin im Verfahren vor dem OVA. vom Vorsitzenden der Spruchkammer über die Folgen der Rücknahme der Berufung (alten Rechts) unrichtig belehrt worden sei und daß sie die Berufung nur auf Grund dieser Belehrung zurückgenommen habe, so liege ein Irrtum im Motiv vor, ein solcher sei rechtlich unerheblich. Die Revision ließ das LSG. zu. Das Urteil wurde der Klägerin am 12. Februar 1957 zugestellt. Am 27. Februar 1957 legte die Klägerin Revision ein, sie beantragte,

das angefochtene Urteil und die ihm zugrunde liegenden Vorentscheidungen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin ab 1. Februar 1951 Witwenrente nach dem BVG zu gewähren.

Am 10. Mai 1957 - die Revisionsbegründungsfrist war bis zum 13. Mai 1957 verlängert worden - begründete sie die Revision: Sie habe die Berufung vor dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zurückgenommen, daher sei die Rücknahme nach den früheren Vorschriften zu beurteilen; nach der Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts habe die Rücknahme eines Rechtsmittels jedenfalls dann auch wegen eines Irrtums im Beweggrund wirksam angefochten werden können, wenn die Rücknahme ausschließlich darauf beruhe, daß eine amtliche Stelle des Versorgungswesens den Rechtsmittelkläger unrichtig belehrt habe; im vorliegenden Falle sei die Belehrung durch den Vorsitzenden der Spruchkammer unrichtig gewesen, die Klägerin und ihr damaliger Prozeßbevollmächtigter hätten die Unrichtigkeit nicht erkennen können.

Der Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 124 Abs. 2, 165, 153 Abs. 2 SGG) einverstanden.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft, die Klägerin hat sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet; sie ist daher zulässig. Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Mit dem Bescheid vom 21. Januar 1954 hat das LVersorgA., das als Widerspruchsstelle anstelle des Beschwerdeausschusses nach dem Inkrafttreten des SGG im Verwaltungsverfahren zur Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag zuständig gewesen ist (§ 215 Abs. 1 Satz 1 SGG), den Antrag der Klägerin auf "Wiederaufnahme des Verfahrens" abgelehnt, das SG. hat "die Klage" abgewiesen. In der Begründung seines Urteils ist ausgeführt, daß die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme nicht vorgelegen haben, diese Ausführungen können jedoch nach dem Inhalt des Bescheids vom 21. Januar 1954 nur auf die Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens bezogen werden, das den Bescheid vom 16. Mai 1952 betroffen hat. Wenn das SG. weiter ausgeführt hat, die Klägerin habe mit dem "Antrag auf Wiederaufnahme" die Erklärung über die Rücknahme der Berufung vor dem OVA. wegen Irrtums angefochten, und wenn das LSG. den Antrag der Klägerin nur unter diesem Gesichtspunkt rechtlich gewürdigt hat, so haben das SG. und das LSG. damit nicht die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 21. Januar 1954 geprüft, sondern die Frage, ob der Bescheid vom 16. Mai 1952 (Einspruchsbescheid vom 19. Dezember 1952) infolge der Rücknahme der Berufung vor dem OVA. bindend geworden ist. Dies ist auch richtig gewesen. Über die Frage, ob die Klägerin die Berufung rechtswirksam zurückgenommen hat, hat nicht die Versorgungsverwaltung in dem Bescheid vom 21. Januar 1954 zu entscheiden gehabt, diese Frage ist vielmehr, wenn die Rücknahme der Berufung streitig geworden ist, von dem Gericht zu entscheiden gewesen, vor dem der Streit zur Zeit der Rücknahme geschwebt hat (vgl. z.B. Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. § 127 IV S. 622), also im vorliegenden Falle, nachdem die Berufung als Klage auf das SG. übergegangen ist, vom SG. Das SG. hat insoweit auch entschieden, auch wenn es dies nicht im Tenor zum Ausdruck gebracht hat, aus den Gründen seines Urteils ergibt sich, daß es der Überzeugung gewesen ist, die Klage (Berufung alten Rechts), mit der die Aufhebung des Bescheides vom 16. Mai 1952 begehrt worden ist, sei rechtswirksam zurückgenommen worden, sein Urteil ist insoweit ein Endurteil gewesen (Rosenberg a.a.O.). Das LSG. hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, es hat sich in den Urteilsgründen nur mit der Frage befaßt, ob die Rücknahme der Klage (Berufung alten Rechts) rechtswirksam und damit der Bescheid vom 16. Mai 1952 rechtsverbindlich ist; auch das LSG. hat also insoweit eine Entscheidung getroffen. Die Revision wendet sich gegen diese Entscheidung des LSG.

Das LSG. hat zu Recht entschieden, daß die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG. unbegründet ist. Da die Klägerin die Berufung (alten Rechts) vor dem Inkrafttreten des SGG zurückgenommen hat, diese Prozeßhandlung also beim Inkrafttreten des SGG bereits abgeschlossen gewesen ist, beurteilt sich die Rechtswirksamkeit der Rücknahme und damit auch die Anfechtbarkeit der Rücknahme nach dem Recht, das bis zum Inkrafttreten des SGG gegolten hat (BSG. 1 S. 44/46), im vorliegenden Falle also gemäß § 43 c der Sozialversicherungsanordnung Nr. 11 nach der Reichsversicherungsordnung. Die Frage, ob die Rücknahme einer Klage oder eines Rechtsmittels wegen Irrtums angefochten werden kann, ist indessen vor dem Inkrafttreten des SGG ebensowenig ausdrücklich geregelt gewesen wie heute im SGG; auch in der Zivilprozeßordnung, in der Strafprozeßordnung, in den früheren Verwaltungsgerichtsordnungen der Länder und in der Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960 (BGBl. I S. 17 ff.) ist sie nicht geregelt. Für sie gelten daher die Grundsätze der allgemeinen Prozeßrechtslehren, die Rechtsprechung und Rechtslehre entwickelt haben. Danach sind die Vorschriften des bürgerlichen Rechts über die Anfechtung von Willenserklärungen (§§ 119 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) auf Prozeßhandlungen nicht anwendbar (vgl. RGZ. 81 S. 177; 105 S. 311 und 355; 120 S. 246; BGHZ. 12 S. 84; Rosenberg, 8. Aufl. § 61 V S. 287; Baumbach, Grundzüge 5 E vor § 128 ZPO; Stein-Jonas-Schönke, 18. Aufl., Vorbemerkung V 6 b vor § 128 ZPO, Anmerkung 3 zu § 271 ZPO; Klinger, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone, Anm. 2 zu § 69 MRVO 165; Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 2 zu § 102 SGG; Miesbach-Ankenbrank, Anm. 2 zu § 102 SGG; Haueisen, WzS. 1956 S. 293 (295); Dapprich, Das sozialgerichtliche Verfahren, S. 138/139; Gierling, Sozialgerichtsbarkeit 1957 S. 166 ff.; Glücklich, Sozialgerichtsbarkeit 1958 S. 28). Einer eindeutigen Verfügung eines Prozeßbeteiligten über die Gestaltung der künftigen prozessualen Beziehungen der Prozeßbeteiligten zueinander kann die Wirksamkeit nicht deswegen genommen werden, weil ihr ein Irrtum zugrunde gelegen hat. Die Rechtswirksamkeit einer solchen Erklärung darf nicht auf unbestimmte Zeit in der Schwebe bleiben, dies verbieten das öffentliche Interesse an einem geordneten Prozeßgang und die Rechtssicherheit (vgl. RG. a.a.O.). Diese Grundsätze sind für das Verfahren in Versorgungsstreitsachen auch vor dem Inkrafttreten des SGG maßgebend gewesen, auch bei diesem Verfahren hat es sich um einen "Prozeß" gehandelt und auch die Erklärungen in diesem Verfahren sind "Prozeßerklärungen" gewesen. Der gegenteiligen Auffassung, von der das Reichsversicherungsamt (vgl. insbesondere Amtliche Nachrichten 1916 S. 457, Amtliche Nachrichten 1927 S. 20) und das Reichsversorgungsgericht (Band 3 S. 117 ff.; mit Einschränkungen in Band 9 S. 18, Band 13 S. 125) ausgegangen sind, hat der Senat auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des SGG nicht folgen können. Auch nach damaligem Recht sind Prozeßhandlungen nicht etwa deshalb anders zu beurteilen gewesen, weil diese Verfahren vielfach einen Personenkreis betroffen haben, der geschäftsungewandt ist, weil ein nicht rechtskundiger Prozeßbeteiligter bis in die letzte Instanz seine Rechte hat selbst wahrnehmen können (so Reichsversorgungsgericht Bd. 3 S. 121) oder weil es sich - wie etwa häufig bei den Empfängern von Renten der Sozialversicherung oder der Versorgung - um Personen handelt, die wirtschaftlich nicht günstig gestellt sind. Wie der Senat bereits zu dem Erfordernis der Schriftform der Berufung in § 151 Abs. 1 SGG ausgeführt hat (BSG. 6 S. 256 (260)) und wie auch Glücklich und Gierling a.a.O. zu der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts und des Reichsversorgungsgerichts in der hier strittigen Frage zutreffend hervorheben, darf kein Gerichtszweig davon ausgehen, daß Verfahrensvorschriften, die für ihn gelten, wegen der etwaigen Eigenart des Personenkreises, dessen Streitigkeiten in diesem Gerichtszweig auszutragen sind, anders auszulegen und anzuwenden sind, wie in anderen Gerichtszweigen; im übrigen ist die soziale Lage von Versorgungsempfängern nicht grundsätzlich anders als etwa die Lage des Personenkreises, für dessen Rechtsschutz die Zivilgerichte, die Strafgerichte oder die Gerichte der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig sind; auch das Interesse an der Verwirklichung des materiellen Rechts, auf das die Revision hinweist, ist für die Beteiligten in allen Verfahrenszweigen dasselbe. Dies gilt nicht nur für das gesetzte oder durch Gewohnheitsrecht entwickelte Prozeßrecht, es gilt auch für die allgemeinen Grundsätze, die Rechtsprechung und Rechtslehre zu Fragen des Prozeßrechts entwickelt haben. Ist aber die Erklärung über die Rücknahme der Klage (Berufung) wegen Irrtums nicht anfechtbar, so erübrigen sich Erörterungen darüber, ob nach § 119 BGB, wie das Reichsversorgungsgericht a.a.O. ausgeführt hat, unter besonderen Umständen eine Erklärung nicht nur wegen Irrtums über die "rechtliche Tragweite", sondern sogar auch wegen Irrtums im Beweggrund und insbesondere dann anfechtbar ist, wenn die Erklärung der Rücknahme des Rechtsbehelfs durch eine falsche Rechtsbelehrung "einer amtlichen Stelle des Versorgungswesens" veranlaßt worden ist. Das LSG. hat deshalb zu Recht dahingestellt gelassen, ob die Klägerin vom Vorsitzenden der Spruchkammer unrichtig belehrt und dadurch zur Rücknahme der Berufung bestimmt worden ist. Die Wirksamkeit der Rücknahme der Berufung ist schließlich, wie das LSG. im Ergebnis ebenfalls zutreffend angenommen hat, auch nicht dadurch beseitigt worden, daß die Klägerin die Rücknahme widerrufen hat. Um einen "Widerruf" kann es sich nur handeln, wenn die Erklärung in dem Zeitpunkt, in dem sie abgegeben worden ist, nicht - wie die anfechtbare Erklärung - durch Willensmängel und wenn sie auch nicht durch einen Irrtum im Beweggrund beeinflußt ist, sondern wenn der Erklärende an der Erklärung, so wie er sie nach ihrem Inhalt und nach dem Beweggrund hat abgeben wollen und abgegeben hat, nicht mehr festhalten will, sei es, weil er sich eine Änderung seines geäußerten Willens vorbehalten hat, sei es, weil sich sein Wille - etwa wegen Änderung der Prozeßlage - geändert hat. Als ein solcher "Widerruf" der Klagerücknahme kann der Antrag der Klägerin auf "Wiederaufnahme des Verfahrens" schon deshalb nicht angesehen werden, weil die Klägerin selbst nicht geltend macht, sie habe den Willen, den sie mit der Rücknahme der Klage bekundet habe, geändert, sondern weil sie der Meinung ist, ihre damalige Erklärung sei durch einen Irrtum beeinflußt gewesen. Abgesehen davon ist aber die Rücknahme einer Klage oder eines Rechtsmittels eine gestaltende Prozeßhandlung, die aus denselben Erwägungen, aus denen eine Anfechtung ausgeschlossen ist, auch als unwiderruflich anzusehen ist, sofern das Gesetz nicht ausdrücklich anderes bestimmt (vgl. z.B. Rosenberg, 8. Aufl., § 127 V S. 622; BGH., Urteil vom 29.10.1958, DVBl. 1960 S. 97 ff. mit Anm. von Müller u. weiteren Hinweisen). Der Senat hat auch nicht darüber zu entscheiden gehabt, ob die Rücknahme eines Rechtsbehelfs dann widerrufen werden kann, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 1723 RVO; §§ 179, 180 SGG) vorliegen (vgl. Stein-Jonas-Schönke, ZPO, Anm. V 6 vor § 128; Peters-Sautter-Wolff, Sozialgerichtsbarkeit Anm. 2 zu § 102 SGG, mit weiteren Hinweisen); die Voraussetzungen, unter denen nach diesen Vorschriften ein Verfahren, wenn es rechtskräftig beendet worden ist, wiederaufgenommen werden kann, liegen im vorliegenden Falle nach den Feststellungen des LSG., denen die Revision nicht widersprochen hat, nicht vor.

Die Revision ist sonach, da das Urteil des LSG. inhaltlich richtig ist, zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

MDR 1960, 617

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