Orientierungssatz
Eine Schulausbildung iS des RVO § 1267 setzt voraus, daß sie die Zeit der Waise überwiegend in Anspruch nimmt. Danach kann der Besuch einer Abendschule in der Regel keine Schulausbildung iS dieser Vorschrift darstellen.
Normenkette
RVO § 1267 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 14. September 1962 und das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 21. August 1961 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die am 11. April 1942 geborene Klägerin bezog bis zum 31. März 1961 Waisenrente aus der Rentenversicherung. Sie hatte bis Ende 1960 von Kiel aus die Waldorfschule in Rendsburg besucht. Danach ging sie auf die Private Abend-Oberschule in Kiel mit dem Ziel, dort die Reifeprüfung abzulegen. Der Unterricht wurde von montags bis freitags jeweils von 19 bis 21,30 Uhr - in 4 Unterrichtsstunden gegliedert - erteilt. Ostern 1963 gab sie den Schulbesuch auf.
Durch Bescheid vom 5. Mai 1961 lehnte die Beklagte die Weiterzahlung der Waisenrente über den Monat März 1961 hinaus mit der Begründung ab, Waisenrente werde für ein unverheiratetes Kind nach Vollendung des 18. Lebensjahres nur dann gewährt, wenn es sich in Schul- oder Berufsausbildung befinde. Eine Ausbildung in diesem Sinne liege bei der Klägerin nicht vor, weil ihre Zeit und Arbeitskraft durch den Besuch der Abendoberschule nicht ganz oder überwiegend in Anspruch genommen werde.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben und dazu im wesentlichen vorgetragen, der Schulbesuch nehme sie voll in Anspruch; einer Tätigkeit als Arbeitnehmerin könne sie daneben nicht nachgehen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 21. August 1961 verurteilt, der Klägerin die Waisenrente vom 1. April 1961 an weiterzuzahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 14. September 1962). Es hat ausgeführt, auch der Besuch einer Abendschule könne eine Schulausbildung im Sinne des § 1267 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) darstellen. Eine solche liege dann vor, wenn sie die Zeit und die Arbeitskraft der Waise ganz oder überwiegend in Anspruch nehme. Dies sei bei der Klägerin entgegen der Auffassung der Beklagten der Fall. Man könne nicht, sofern ein Bildungsinstitut vorwiegend oder ausschließlich nur Berufstätigen zur Verfügung stehe, daraus zwangsläufig folgern, daß die Zeit und die Arbeitskraft der Schüler durch den Schulbesuch nicht überwiegend beansprucht würden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Beklagte,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe § 1267 RVO unrichtig angewendet. Voraussetzung für die Annahme einer Schulausbildung im Sinne dieser Vorschrift sei, daß die Waise durch die Ausbildung zeitlich derart stark belastet werde, daß sie daneben einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen könne. Der Besuch einer auf die Reifeprüfung vorbereitenden Abendschule gehöre hierzu nicht. Von dem Personenkreis, für den diese Schulen errichtet seien, werde regelmäßig eine Erwerbstätigkeit neben dem Schulbesuch verlangt. Durch die Verlagerung des Unterrichts in die Abendstunden solle eine Ausbildung neben einer Berufsarbeit ermöglicht werden. Dieser Charakter der Schule schließe es aus, daß die Arbeitskraft eines Jugendlichen im allgemeinen so stark in Anspruch genommen werde, daß eine regelmäßige Erwerbstätigkeit entfallen müsse. Bei einer Schulzeit von montags bis freitags von jeweils 19.00 bis 21.30 Uhr und einer Hausarbeitszeit bis zu 3 Stunden täglich bleibe der Klägerin Zeit, zumindest halbtägig beruflich zu arbeiten.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, die Revision sei schon deshalb unbegründet, weil sie sich gegen die tatsächlichen Feststellungen des LSG wende. Das LSG habe nämlich festgestellt, daß sie, die Klägerin, durch den Besuch der Abendschule überwiegend in Anspruch genommen werde. Diese Feststellung sei für das Revisionsgericht bindend.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits mehrfach entschieden hat (vgl. u. a. BSG 14, 285; SozR RVO § 1267 Nr. 13; SozR KGG § 2 Nr. 12), setzt eine Schulausbildung im Sinne des § 1267 RVO, die zum Weiterbezug der Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus berechtigt, voraus, daß sie die Zeit der Waise überwiegend in Anspruch nimmt. Diese Forderung steht im Einklang mit der Rechtslage auf anderen Rechtsgebieten, so des Beamten- und des Einkommensteuerrechts (vgl. die erwähnten Entscheidungen des BSG). Danach kann der Besuch einer Abendschule in der Regel keine Schulausbildung im Sinne des § 1267 RVO darstellen. Die Abendschulen sind zur Weiterbildung von berufstätigen Erwachsenen bestimmt und allgemein so eingerichtet, daß die Teilnehmer ihren Beruf beibehalten, jedenfalls aber daneben einen Beruf ausüben können. Das LSG hat festgestellt, daß der Kursus an der Privaten Oberschule in Kiel nach Lehrplan, Unterrichtsfächern und Stundenzahl zwar den Anforderungen einer Tages-Oberschule entspricht, daß aber der Unterricht nur an fünf Wochentagen von 19.00 bis 21.30 Uhr erteilt wird und die Kursusteilnehmer in der Mehrzahl berufstätig sind. Diese Feststellungen - nur hieran und an die Feststellungen des LSG über die zeitliche Beanspruchung durch Hausarbeiten ist das BSG gebunden - rechtfertigen nicht die - im wesentlichen auf dem Gebiet der materiellen Rechtsanwendung liegende - Schlußfolgerung, daß die Klägerin durch den Abendkursus überwiegend beansprucht worden ist. Der Unterricht umfaßt nur 12 1/2 Wochenstunden und erfolgt nur abends nach der allgemeinen Arbeitszeit. Während der üblichen Arbeitszeit, etwa von 7.00 bis 16.30 Uhr, kann der Teilnehmer somit noch einen Beruf ausüben. Der Unterricht findet auch nur an fünf Abenden in der Woche statt. Für Hausaufgaben verbleiben das Wochenende und - wenn auch in geringem Umfang - die Zeit zwischen Arbeitsschluß und Schulbeginn. Die Tatsache, daß die Mehrzahl der Kursusteilnehmer berufstätig ist, beweist, daß der Unterricht und die Hausaufgaben nebenher von Berufstätigen zu bewältigen sind. Darauf, daß im Einzelfall ein Abendschüler tatsächlich keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, kann es nicht ankommen. Die Annahme des LSG, daß der Besuch einer Abendschule die Arbeitskraft und die Arbeitszeit des Schülers überwiegend beanspruche, widerspricht den tatsächlichen Verhältnissen. Das LSG hat nicht genügend beachtet, daß die Abendkurse der Weiterbildung Erwachsener dienen, die geistig wesentlich aufnahme- und leistungsfähiger sind als 10- bis 18-jährige Oberschüler, die bisher nicht im Leben gestanden haben und noch nicht berufstätig waren. Ein Erwachsener oder Heranwachsender im Alter der Klägerin kann, weil er über eine fortgeschrittene Reife und entwickelte geistige Fähigkeiten verfügt, den gleichen Unterrichtsstoff in kürzerer Zeit und neben einem Beruf bewältigen. Durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit mögen zwar die Aussichten auf eine erfolgreiche Abschlußprüfung verringert werden. Das allein kann aber nicht ausschlaggebend sein. Die Abendgymnasien stehen nur solchen Bewerbern offen, die beim Eintritt in den Hauptkursus eine geregelte Berufstätigkeit nachweisen können, und die Teilnehmer müssen, mit Ausnahme der des letzten Schuljahres, auch weiterhin berufstätig sein. Ein Abendschulbesuch ist daher in der Regel keine Schulausbildung im Sinne des § 1267 RVO. Ob für das letzte Jahr vor der Reifeprüfung etwas anderes gilt, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, weil die Klägerin in diesem Jahr die Abend-Oberschule nicht mehr besucht hat.
In diesem Rechtsstreit braucht auch nicht entschieden zu werden, ob möglicherweise besondere subjektive Verhältnisse des Teilnehmers berücksichtigt werden dürfen, zB Kränklichkeit, Minderbegabung oder ungünstiger Wohnort, und ob solche Umstände ein anderes Ergebnis rechtfertigen. Der gegebene Sachverhalt bietet keine Veranlassung, diese Frage zu erörtern.
Die Revision ist daher begründet; die Klage muß abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen