Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärungspflicht. rechtliches Gehör
Orientierungssatz
1. Dem Tatsachengericht ist es im Rahmen der Beweiswürdigung gestattet, eine rechtsbegründende oder rechtsvernichtende Tatsache als festgestellt oder als nicht festgestellt zu erachten. Hierbei wird allerdings vorausgesetzt, daß das Gericht seiner umfassenden Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) nachgekommen ist. Ist dies aber nicht der Fall, obgleich sich das Gericht aus seiner Sicht zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen, so liegt darin ein die Revision begründender Verfahrensmangel.
2. Der Sachvortrag der Beteiligten kann bei der Überzeugungsbildung des Gerichts verwendet werden und kann - gegebenenfalls sogar allein - Grundlage seiner Entscheidung sein (vgl BSG vom 15.8.1960 - 4 RJ 291/59 = BSG SozR Nr 56 zu § 128 SGG). Folgt es jedoch den Angaben des Klägers nicht, weil sie widersprüchlich und damit unglaubhaft erschienen, so ist eine Zeugenvernehmung geboten.
Normenkette
SGG § § 62, 103, 128 Abs 1 S 1, § 128 Abs 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 13.10.1987; Aktenzeichen L 3 U 175/85) |
SG München (Entscheidung vom 20.03.1985; Aktenzeichen S 19 U 79/84) |
Tatbestand
Streitig ist, ob der am 19. September 1983 erlittene Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen ist und entsprechende Leistungen zu erbringen sind.
Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte mit Bescheid vom 16. Mai 1984 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, da der Kläger eine widersprüchliche Unfallschilderung gegeben habe. Nach seinen ersten unbefangenen Angaben im Krankenhaus habe der Sturz sich während der Freizeit ereignet. Außerdem sei die Obsteinlagerung, bei der sich der Unfall nach den Angaben des Klägers ereignet haben soll, dem privaten Bereich zuzurechnen.
Das Sozialgericht (SG) hat nach Anhörung der Mutter des Klägers als Zeugin die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. März 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hatte neben der Mutter des Klägers eine weitere Zeugin einvernommen, die behandelnden Ärzte schriftlich bzw telefonisch befragt und sodann die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 13. Oktober 1987). Es hat zur Begründung ua ausgeführt, es sei nicht erwiesen, daß der Kläger den Unfall beim Transport von Obst in den Keller erlitten habe. Dagegen sprächen die Erstangaben des Klägers zum Unfallhergang anläßlich seiner Behandlung im Kreiskrankenhaus S , wonach es sich um einen Freizeitunfall gehandelt habe. Auch die späteren unterschiedlichen Zeitangaben (16.00 Uhr bzw 21.00 Uhr) sowie die verschiedenen Darstellungen des Unfallherganges, nämlich einmal Sturz von der Leiter und zum anderen Sturz beim Hinabreichen eines Obstkorbes durch den Kellerschacht, sprächen gegen seine Glaubhaftigkeit. Außerdem habe die Mutter des Klägers anläßlich einer Vorsprache beim Landratsamt S - Sozialhilfeverwaltung - am 20. September 1983 angegeben, ihr Sohn sei von einer Leiter gestürzt.
Mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision macht der Kläger wesentliche Verfahrensmängel, so insbesondere die Verletzung der §§ 62, 103 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geltend. Das Berufungsgericht habe sich auf schriftliche Auskünfte der den Kläger behandelnden Ärzte gestützt, ohne sie als Zeugen einzuvernehmen. Die Anhörung der Ärzte als Zeugen sei zwingend geboten, da er die ihnen zugeschriebenen Angaben, von einer Leiter gestürzt zu sein, bestritten habe. Das Ersetzen eines Zeugen- durch Urkundenbeweis sei unzulässig. Es sei nicht auszuschließen, daß das LSG bei Einvernahme dieser Ärzte zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Außerdem habe das Berufungsgericht die Angaben seiner Mutter, die sie am 20. September 1983 dem Landratsamt S gegenüber gemacht habe, ihm nicht zur Kenntnis gebracht, weshalb er sich hierzu auch nicht habe äußern können.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und SG sowie den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den am 17. September 1983 erlittenen Unfall als landwirtschaftlichen Arbeitsunfall zu entschädigen; hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf den vom Kläger gerügten Verfahrensmängeln.
Dem LSG war es nicht erlaubt, lediglich aufgrund der handschriftlichen Eintragungen in den Krankenblättern des Krankenhauses des Landkreises S (19. 9. 1983: Freizeitunfall; 29. 9. 1983: Sturz auf der Kellertreppe) die Sachdarstellung des Klägers über den Unfallhergang (Sturz beim Hinabreichen eines mit Äpfeln gefüllten Korbes in den Kellerschacht infolge Übergewichts) als widersprüchlich und deshalb als nicht glaubhaft zu beurteilen. Wenn es trotz des Bestreitens des Klägers, den behandelnden Ärzten gegenüber niemals entsprechende Angaben gemacht zu haben, die Beweisaufnahme für entbehrlich gehalten hat, liegt darin eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung (BSG KOV 75, 159; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Auflage, Band I/2 S 244n). Außerdem hat damit das Berufungsgericht seine Sachaufklärungspflicht verletzt (§ 103 SGG).
Den Verfahrensrügen des Klägers steht § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nicht entgegen. Dem Tatsachengericht ist es zwar im Rahmen der Beweiswürdigung gestattet, eine rechtsbegründende oder rechtsvernichtende Tatsache als festgestellt oder als nicht festgestellt zu erachten. Hierbei wird allerdings vorausgesetzt, daß das Gericht seiner umfassenden Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) nachgekommen ist. Ist dies aber nicht der Fall, obgleich sich das Gericht aus seiner Sicht zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen, so liegt darin ein die Revision begründender Verfahrensmangel. Dies ist hier der Fall. Das LSG hat zwar nicht verkannt, daß der Sachvortrag der Beteiligten bei der Überzeugungsbildung verwendet werden und - ggf sogar allein - Grundlage seiner Entscheidung sein kann (BSG SozR Nr 56 zu § 128 SGG). Es ist jedoch den Angaben des Klägers nicht gefolgt, weil sie widersprüchlich und damit unglaubhaft erschienen. Das Gegenteil hätte die Einvernahme der behandelnden Ärzte, insbesondere desjenigen Arztes ergeben können, der die handschriftlichen Eintragungen in den Krankenblättern des Krankenhauses des Landkreises S vorgenommen hatte. Das Berufungsgericht hat wohl die Notwendigkeit einer entsprechenden Zeugeneinvernahme zunächst für geboten erachtet. So hat es ua bei Dr. K , von dem offenbar die fraglichen handschriftlichen Eintragungen stammen, um eine schriftliche Auskunft nachgesucht. Es hat jedoch, ohne dessen Antwort abzuwarten und ohne ihn als Zeugen zu hören, über die Berufung des Klägers entschieden.
Im übrigen wäre die schriftliche Beantwortung von Beweisfragen nur unter den in § 118 SGG iVm § 377 Abs 3 Zivilprozeßordnung genannten Voraussetzungen zulässig gewesen. Deren Richtigkeit hätte dann noch zusätzlich eidesstattlich versichert werden müssen.
Auch durfte das LSG seiner Entscheidung nicht die Angaben der Mutter des Klägers, die sie am 20. September 1983 dem Landratsamt - Sozialhilfeverwaltung - S gegenüber gemacht hatte, zugrunde legen. Insoweit rügte der Kläger zutreffend, hiervon keine Kenntnis erlangt und demzufolge auch keine Gelegenheit zur Äußerung erhalten zu haben. Somit ist § 128 Abs 2 iVm § 62 SGG verletzt. Die Beiziehung der Akten des Landratsamtes - Sozialhilfeverwaltung - S ist in der Terminsmitteilung zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nicht vermerkt; es sind lediglich andere Unterlagen als beigezogen aufgeführt. Ebensowenig ist dies aus der Niederschrift ersichtlich. Die gleichwohl im Tatbestand des Berufungsurteils enthaltenen Angaben, die fraglichen Akten seien Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen, beruhen offensichtlich auf einem Versehen.
Ob die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensfehler vorliegen, kann dahinstehen, da die Entscheidung allein durch die Verletzung der oben dargelegten Verfahrensgrundsätze (§§ 103, 62, 128 Abs 2 SGG) getragen wird.
Das Berufungsgericht wird nunmehr verfahrenskonform die weiteren Ermittlungen anzustellen haben.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen