Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht oder bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger. Unterhaltsgewährung durch Eltern vor dem Zeitpunkt der Einreise. Umfang der finanziellen Zuwendungen. Erfordernis eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses. sozialgerichtliches Verfahren. Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers. Hilfe zum Lebensunterhalt. Überbrückungsleistungen. Unzulässigkeit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage. Fehlen einer vorherigen Verwaltungsentscheidung. Neuantrag auf SGB 2-Leistungen. Zäsurwirkung. Zeitraum
Leitsatz (amtlich)
1. Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht als begleitender oder nachziehender Familienangehöriger aufgrund Unterhaltsgewährung erfordert ein wegen finanzieller Zuwendungen bestehendes tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis, das nicht unwesentliche, regelmäßige Zahlungen vor der Einreise des Familienangehörigen nach Deutschland voraussetzt.
2. Die Zulässigkeit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage setzt eine vorherige Verwaltungsentscheidung voraus.
3. Ein Beigeladener kann nur verurteilt werden, wenn die gegen den Beklagten erhobene Klage zulässig ist.
4. Ein neuer Antrag auf laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende begrenzt den vom vorherigen Antrag erfassten Zeitraum unabhängig davon, ob der neue Antrag bereits beschieden worden ist.
Orientierungssatz
Dass das LSG den beigeladenen Sozialhilfeträger verurteilt hat, der Klägerin für den Zeitraum vom 1. April 2016 bis zum 31. August 2016 Leistungen nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12 aF zu gewähren, steht in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG (etwa BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 53 ff und vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 47 RdNr 40 f), an der festzuhalten ist, zumal es sich um die Auslegung außer Kraft getretenen Rechts handelt.
Normenkette
SGB 2 § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2; FreizügG/EU 2004 § 2; FreizügG/EU § 3 Abs. 1 S. 1; FreizügG/EU 2004 § 3 Abs. 1 S. 1; FreizügG/EU § 3 Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 2014-12-02; FreizügG/EU 2004 § 3 Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 2014-12-02; SGB XII § 23 Abs. 1 S. 3 Fassung: 2016-07-31, Abs. 3 S. 3 Fassung: 2016-12-22; SGB X § 31; SGG §§ 54, 69, 75; SGB 2 § 37
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. Dezember 2021 aufgehoben, soweit die Beigeladene verurteilt worden ist, der Klägerin "im Zeitraum" 1. September 2016 bis 28. Dezember 2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe und "im Zeitraum" 29. Dezember 2016 bis 28. Januar 2017 Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 SGB XII zu gewähren. Die Klage wird auch insofern abgewiesen.
Im Übrigen wird die Revision der Beigeladenen zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in allen Rechtszügen zur Hälfte. Im Übrigen haben die Beteiligten einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II bzw von Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII für den Zeitraum vom 1.4.2016 bis 28.1.2017, insbesondere um das Bestehen eines Leistungsausschlusses für die Klägerin als Unionsbürgerin.
Die 1993 geborene Klägerin ist Staatsangehörige der Republik Lettland. Sie erzielte dort nach ihren Angaben zuletzt als Verkäuferin einen Monatslohn iHv 360 Euro. Am 20.10.2015 reiste sie in die Bundesrepublik Deutschland ein und zog zunächst bei ihren Eltern, die bereits seit dem Jahr 2010 im Inland wohnen, ein.
Am 7.3.2016 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten Leistungen mit der Begründung, sie habe ab dem 1.4.2016 eine eigene Wohnung angemietet, werde also aus dem Haushalt der Eltern ausziehen. Der Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin ab; sie sei von Leistungen ausgeschlossen, da sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe (Bescheid vom 17.3.2016).
Das SG verpflichtete den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung, der Klägerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 20.4.2016 bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens aber bis zum 31.8.2016, zu gewähren (Beschluss vom 15.6.2016 - S 21 AS 411/16 ER). Hierauf zahlte der Beklagte ausdrücklich in Ausführung des Beschlusses vom 15.6.2016 der Klägerin vorläufig Grundsicherungsleistungen für den genannten Zeitraum (Bescheid vom 27.6.2016). Am 4.8.2016 stellte die Klägerin einen Weiterbewilligungsantrag bei dem Beklagten.
Der Beklagte wies den Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.3.2016 zurück (Widerspruchsbescheid vom 6.9.2016). Es bestehe kein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige der Eltern, da durch die sehr geringen Überweisungen der Eltern nach Lettland dort kein Abhängigkeitsverhältnis bestanden habe. Dies setze der Tatbestand des § 3 Abs 2 Nr 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) aber gerade voraus. Auch mit dem Antrag vom 4.8.2016 hätten sich keine Änderungen derart ergeben, dass nunmehr Leistungen zu bewilligen wären.
Das SG hat den Bescheid vom 17.3.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6.9.2016 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum vom 1.4.2016 bis 28.2.2017 zu gewähren (Urteil vom 4.12.2019). Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben, den im Berufungsverfahren beigeladenen örtlich zuständigen Sozialhilfeträger verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom 1.4.2016 bis 28.12.2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe sowie für den Zeitraum vom 29.12.2016 bis 28.1.2017 Überbrückungsleistungen zu gewähren, und die Klage im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 1.12.2021).
Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beigeladenen, mit der sie eine Verletzung des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF sowie des § 23 Abs 3 Satz 3 SGB XII nF rügt.
Die Beigeladene beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. Dezember 2021 aufzuheben, soweit sie zur Gewährung von Leistungen verurteilt worden ist.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Beigeladenen zurückzuweisen und hilfsweise die Klage, soweit sie sich gegen den Beklagten richtet, abzuweisen.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen und verweist im Übrigen auf die Entscheidung des LSG.
Die Klägerin hat sich nicht geäußert und stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beigeladenen ist teilweise begründet.
Die Revision der Beigeladenen ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG), soweit das LSG sie zur Leistungsgewährung für die Zeit vom 1.4.2016 bis 31.8.2016 verurteilt hat (dazu 3.). Die Revision der Beigeladenen ist hingegen insoweit begründet und das Urteil des LSG aufzuheben (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG), als das LSG sie zur Leistungsgewährung für die Zeit vom 1.9.2016 bis zum 28.1.2017 verurteilt hat; insofern ist die Klage mangels vorheriger Verwaltungsentscheidung unzulässig (dazu 4.). Im Revisionsverfahren nicht mehr streitbefangen ist der Zeitraum vom 29.1. bis 28.2.2017. Insofern hat das LSG die Klage abgewiesen; diese Klageabweisung ist rechtskräftig geworden, weil die Klägerin keine Revision eingelegt hat.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom 17.3.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6.9.2016 (§ 95 SGG). Der Bescheid vom 27.6.2016 ist hingegen schon deswegen nicht nach § 86 Halbsatz 1 SGG Gegenstand des Vorverfahrens geworden, weil er lediglich zur Umsetzung der einstweiligen Anordnung des SG erlassen worden ist, ihm insoweit daher die Regelungswirkung (§ 31 Satz 1 SGB X) fehlt (vgl BSG vom 9.3.2022 - B 7/14 AS 79/20 R - BSGE 133, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr 62, RdNr 10; BSG vom 9.3.2022 - B 7/14 AS 30/21 R - juris RdNr 13).
2. Die Revision der Beigeladenen ist zulässig. Die Beigeladene kann als Beteiligte des Verfahrens (§ 69 Nr 3 SGG) gemäß § 75 Abs 4, § 160 Abs 1 SGG selbständig Revision einlegen (vgl etwa BSG vom 8.10.2019 - B 1 A 1/19 R - BSGE 129, 135 = SozR 4-2400 § 89 Nr 9, RdNr 12). Die Rechtsmittelbefugnis setzt dabei eine materielle Beschwer der Beigeladenen durch die angefochtene Entscheidung voraus (vgl BSG vom 14.9.2020 - B 4 AS 212/20 B - juris RdNr 7; BSG vom 24.3.2016 - B 12 KR 6/14 R - SozR 4-2500 § 5 Nr 27 RdNr 17 ff), die im Fall einer Verurteilung nach § 75 Abs 5 SGG stets gegeben ist. Als Beigeladene im Sinne des § 75 Abs 2 SGG (sog unechte notwendige Beiladung) kann sie auch abweichende Sachanträge stellen (§ 75 Abs 4 Satz 2 SGG).
3. Die Revision der Beigeladenen ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG), soweit das LSG sie zur Leistungsgewährung für die Zeit vom 1.4. bis 31.8.2016 verurteilt hat.
a) Die Klage ist hinsichtlich des Zeitraums vom 1.4. bis 31.8.2016 zulässig. Dem Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin für den gesamten Zeitraum steht nicht entgegen, dass der Beklagte ihr aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG vom 15.6.2016 Leistungen für die Zeit vom 20.4.2016 bis 31.8.2016 erbracht hat. Denn die Wirkung dieser einstweiligen Anordnung und des sie umsetzenden Bescheids vom 27.6.2016 würde spätestens mit Bestandskraft des die Leistungsgewährung ablehnenden Bescheids vom 17.3.2016 entfallen (vgl BSG vom 9.3.2022 - B 7/14 AS 79/20 R - BSGE 133, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr 62, RdNr 11; BSG vom 9.3.2022 - B 7/14 AS 30/21 R - juris RdNr 14). In diesem Fall wäre die Klägerin ipso iure zur Rückzahlung der erbrachten Leistungen verpflichtet (vgl BSG vom 4.3.2021 - B 11 AL 5/20 R - BSGE 131, 286 = SozR 4-1300 § 50 Nr 7, RdNr 28). Ob dies auch gelten würde, wenn und soweit ein Erstattungsanspruch des Beklagten gegenüber der Beigeladenen bestünde (vgl § 107 SGB X), kann hier dahinstehen. Denn allein die Möglichkeit, sich einer Rückzahlungsverpflichtung ausgesetzt zu sehen, reicht für die Bejahung eines Rechtsschutzbedürfnisses aus (vgl auch BSG vom 30.3.2004 - B 1 KR 30/02 R - SozR 4-2500 § 44 Nr 1 RdNr 11 mwN; BSG vom 12.3.2013 - B 1 KR 7/12 R - juris RdNr 11).
Richtige Klageart ist auch in der vorliegenden Konstellation die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage. Zwar hat die Klägerin die begehrten Leistungen vom Beklagten aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG bereits zum Teil erhalten, sodass insofern die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ausreichen würde (vgl BSG vom 9.3.2022 - B 7/14 AS 79/20 R - BSGE 133, 297 = SozR 4-4200 § 7 Nr 62, RdNr 11; BSG vom 9.3.2022 - B 7/14 AS 30/21 R - juris RdNr 14). Im Hinblick auf die hilfsweise begehrte Verurteilung der Beigeladenen musste der Klägerin aber auch insofern die Möglichkeit der unechten Leistungsklage eröffnet bleiben (vgl auch BSG vom 30.3.2004 - B 1 KR 30/02 R - SozR 4-2500 § 44 Nr 1 RdNr 12; BSG vom 12.3.2013 - B 1 KR 7/12 R - juris RdNr 12).
b) Zu Recht hat das LSG die Beigeladene verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1.4. bis 31.8.2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die Klägerin war von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (dazu aa), hatte aber einen Anspruch aus § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII aF (dazu bb).
aa) Die Klägerin, die Staatsangehörige der Republik Lettland ist, war nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II (in der hier anzuwendenden vom 1.4.2012 bis 28.12.2016 geltenden Fassung) von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Hiernach sind "ausgenommen" - erhalten also keine Leistungen nach dem SGB II - Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.
(1) Die Voraussetzungen der Ausschlussnorm des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II liegen bei der Klägerin vor, denn sie hat allenfalls ein Aufenthaltsrecht, das sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Ein anderes Aufenthaltsrecht (vgl zu den möglichen Aufenthaltsrechten zuletzt BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - RdNr 18 ff - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen) liegt nicht vor.
Insbesondere bestand kein Aufenthaltsrecht aufgrund § 3 Abs 1 und 2 FreizügG/EU in der vom 9.12.2014 bis 23.11.2020 geltenden Fassung (vgl jetzt § 1 Abs 2 Nr 3 Buchst d, § 3 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU in der seit dem 24.11.2020 geltenden Fassung des Gesetzes zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften an das Unionsrecht vom 12.11.2020, BGBl I 2416). Nach § 3 Abs 1 FreizügG/EU aF haben das Recht aus § 2 Abs 1 FreizügG/EU, also das Recht auf Einreise und Aufenthalt, Familienangehörige der in § 2 Abs 1 Nr 1 bis 5 FreizügG/EU aF genannten Unionsbürger, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Gemäß dem hier allenfalls in Betracht kommenden § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF sind Familienangehörige die Verwandten in gerader aufsteigender und in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs 2 Nr 1 bis 5 und 7 FreizügG/EU aF genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, denen diese Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewähren.
Zwar handelt es sich bei der Klägerin und ihren Eltern um Verwandte iS des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF. Allerdings ist die Tatbestandsvoraussetzung der Unterhaltsgewährung nicht erfüllt. Es kann daher dahinstehen, ob - wozu das LSG keine Feststellungen getroffen hat - die Eltern über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 1 bis 5 FreizügG/EU verfügen.
§ 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF dient der Umsetzung des Art 2 Nr 2 Buchst c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004, weswegen bei seiner Auslegung die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen ist. Eine Unterhaltsgewährung iS des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU aF setzt danach voraus, dass ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis nachgewiesen wird (EuGH vom 16.1.2014 - C-423/12 - juris RdNr 20). Diese Abhängigkeit ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle Unterhalt des Familienangehörigen durch den Unionsbürger, der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder durch dessen Ehegatten sichergestellt wird (EuGH vom 9.1.2007 - C-1/05 - juris RdNr 35; EuGH vom 16.1.2014 - C-423/12 - juris RdNr 21). Eine solche Abhängigkeit liegt nur vor, wenn der Verwandte in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt (EuGH vom 16.1.2014 - C-423/12 - juris RdNr 22), wobei es - wie das LSG zu Recht angenommen hat - auf die Situation im Herkunfts- oder Heimatland ankommt (EuGH vom 9.1.2007 - C-1/05 - juris RdNr 37, 43; EuGH vom 16.1.2014 - C-423/12 - juris RdNr 22, 30). Die Tatsache, dass ein Unionsbürger dem Verwandten in absteigender Linie regelmäßig während eines beachtlichen Zeitraums einen Geldbetrag zahlt, den Letzterer zur Deckung seiner Grundbedürfnisse im Herkunftsland benötigt, ist geeignet, ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Verwandten in absteigender Linie und dem Unionsbürger nachzuweisen (EuGH vom 16.1.2014 - C-423/12 - juris RdNr 24). Geleistete Zahlungen müssen zu ihrer Beachtlichkeit zwar nicht in einer Höhe erbracht werden, die allein ausreicht, um den Unterhalt vollständig zu decken. Erforderlich ist aber eine fortgesetzte und regelmäßige Leistung in einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken (BVerwG vom 20.10.1993 - 11 C 1.93 - BVerwGE 94, 239 [242 f], dort bejaht bei monatlichen Zahlungen von 300 Deutsche Mark). Dies setzt, auch zur Vermeidung rechtsmissbräuchlicher Verhaltensweisen, einen nicht unwesentlichen Betrag voraus, der sich über einen gewissen Zeitraum erstreckt, der - um der Notwendigkeit der Regelmäßigkeit der Zahlungen Rechnung zu tragen - mindestens zwölf Monate beträgt. Selbst dann fehlt es jedoch an einem Abhängigkeitsverhältnis, wenn der Verwandte die Zahlungen zur Deckung seiner Grundbedürfnisse im Heimatland nicht benötigt (EuGH vom 16.1.2014 - C-423/12 - juris RdNr 22). Dass es hierdurch - wie die Revision rügt - zu einer Ungleichbehandlung von zuziehenden Familienangehörigen erwerbstätiger Unionsbürger, die typischerweise über größere finanzielle Mittel verfügen, gegenüber zuziehenden Familienangehörigen nicht erwerbstätiger Unionsbürger kommen kann, ist Folge der vom EuGH nicht beanstandeten unionsrechtlichen Vorgabe.
Nach den bindenden Feststellungen des LSG erhielt die Klägerin von ihrer Mutter zwischen Dezember 2014 und Oktober 2015, dem Monat ihrer Einreise in das Bundesgebiet, monatliche Zahlungen zwischen 10 und 95 Euro. Dies entspricht bei einer Verteilung auf zwölf Monate einem Durchschnittsbetrag von ca 37 Euro. Hinzu kommen Zahlungen im November 2011 iHv 450 Euro, im Dezember 2012 iHv 15 Euro und im November 2013 iHv 60 Euro. Die Annahme des LSG, dass angesichts der geringen und der Höhe nach unregelmäßigen Zahlungen zwischen Dezember 2014 und Oktober 2015 auch unter Berücksichtigung der tatrichterlich zu würdigenden Lebenshaltungs- und Wohnkosten in Lettland einerseits und dem eigenen Verdienst der Klägerin (360 Euro Monatslohn) andererseits kein Abhängigkeitsverhältnis im oben beschriebenen Sinne vorliegt, ist nicht zu beanstanden. Die jeweils einmaligen Zahlungen in den Jahren 2011 bis 2013 müssen dabei ohnehin außer Betracht bleiben, weil es auf die Situation ankommt, die zuletzt im Heimatland bestand (vgl nochmals EuGH vom 9.1.2007 - C-1/05 - juris RdNr 37, 43; EuGH vom 16.1.2014 - C-423/12 - juris RdNr 22, 30).
(2) Die Klägerin kann einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zudem nicht aus dem Gleichbehandlungsanspruch des Art 1 Europäisches Fürsorgeabkommen (BGBl 1956 II 563) ableiten, denn die Republik Lettland ist kein Unterzeichnerstaat dieses Abkommens (vgl etwa BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 34/20 R - juris RdNr 29 zu Rumänien).
(3) Der Leistungsausschluss ist auch mit den grundrechtlichen Positionen der Klägerin, insbesondere mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG vereinbar. Das BSG hat bereits entschieden, dass es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, Personen, denen die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland möglich und zumutbar ist, von existenzsichernden Leistungen auszuschließen (BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - RdNr 34 ff - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen; anschließend ebenso etwa LSG Berlin-Brandenburg vom 7.4.2022 - L 18 AS 312/22 B ER - juris RdNr 12; LSG Nordrhein-Westfalen vom 8.9.2022 - L 21 AS 178/22 B ER - juris RdNr 34; aA Hessisches LSG vom 31.10.2022 - L 4 SO 133/22 B ER - juris RdNr 16). Auch das BVerfG hat zuletzt erneut betont, dass der Gesetzgeber den Bezug existenzsichernder Leistungen grundsätzlich an die Erfüllung der Obliegenheit knüpfen kann, tatsächlich eröffnete, hierfür geeignete, erforderliche und zumutbare Möglichkeiten zu ergreifen, die Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern (BVerfG vom 19.10.2022 - 1 BvL 3/21 - juris RdNr 75 - zur Veröffentlichung in BVerfGE 163 vorgesehen); eine solche Möglichkeit zur inländischen Bedürftigkeitsvermeidung liegt grundsätzlich in der Rückkehr in das Heimatland (dazu näher BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - RdNr 38 ff - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen).
Ebenso hat das BSG bereits entschieden, dass der Ausschluss von existenzsichernden Leistungen mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar ist, wenn den betroffenen Personen die Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland möglich und zumutbar ist (BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - RdNr 45 f - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen). Insbesondere folgen aus der Europäischen Grundrechtecharta keine weitergehenden Ansprüche als aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG (BSG vom 29.3.2022 - B 4 AS 2/21 R - RdNr 46 - zur Veröffentlichung in BSGE 134, 45 und SozR 4-1100 Art 1 Nr 20 vorgesehen; aA Hessisches LSG vom 31.10.2022 - L 4 SO 133/22 B ER - juris RdNr 20).
bb) Dass das LSG die Beigeladene verurteilt hat, der Klägerin für die Zeit vom 1.4. bis 31.8.2016 Leistungen nach § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII (in der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung) zu gewähren, steht in Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG (etwa BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 53 ff; BSG vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 47 RdNr 40 f), an der festzuhalten ist, zumal es sich um die Auslegung außer Kraft getretenen Rechts handelt. Die Annahme des LSG, dass die von ihm festgestellten Umstände des Einzelfalls während des genannten Zeitraums eine Ermessensreduktion auf Null rechtfertigen, begegnet keinen durchgreifenden revisionsrechtlichen Bedenken.
cc) Ob und ggf in welcher Höhe der Anspruch gegen die Beigeladene gemäß § 107 Abs 1 SGB X durch die Zahlungen des Beklagten aufgrund der einstweiligen Anordnung des SG als erfüllt gilt (vgl LSG Niedersachsen-Bremen vom 14.6.2018 - L 15 AS 256/16 - juris RdNr 49), bedarf im Grundurteilsverfahren keiner Prüfung. Die Beigeladene ist durch die Verurteilung dem Grunde nach nicht mit dem Einwand der Erfüllung ausgeschlossen (vgl BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 30 RdNr 12 mwN; BSG vom 12.3.2013 - B 1 KR 7/12 R - juris RdNr 12; BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 14, 38).
4. Die Revision der Beigeladenen ist hingegen begründet und das Urteil des LSG aufzuheben (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG), soweit das LSG sie zur Leistungsgewährung für die Zeit vom 1.9.2016 bis zum 28.1.2017 verurteilt hat. Insofern ist die Klage abzuweisen, denn sie ist unzulässig, weil bislang keine Verwaltungsentscheidung ergangen ist.
a) Ein Verwaltungsakt ist Sachurteilsvoraussetzung für die erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage; fehlt es daran, ist die Klage unzulässig (§ 54 Abs 1, Abs 4 SGG; vgl BSG vom 29.1.1975 - 5 RKnU 12/74 - BSGE 39, 86 [87] = SozR 2200 § 628 Nr 1 S 2 = juris RdNr 11 mwN; BSG vom 16.10.2019 - B 8 SO 19/18 BH - juris RdNr 9; BSG vom 7.12.2022 - B 4 AS 167/22 BH - juris RdNr 5; Bieresborn in Roos/Wahrendorf/Müller, BeckOGK SGG, 3. Aufl 2023, § 54 RdNr 55 ff, Stand 1.5.2023; Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 54 RdNr 19). Zwar lässt § 75 Abs 5 SGG für seinen Anwendungsbereich die Notwendigkeit entfallen, dass der beigeladene Sozialleistungsträger eine eigene Verwaltungsentscheidung getroffen hat (BSG vom 8.5.2007 - B 2 U 3/06 R - SozR 4-2700 § 136 Nr 3 RdNr 26), nicht jedoch, dass überhaupt - nämlich vom Beklagten - eine Verwaltungsentscheidung getroffen worden ist (BSG vom 26.6.2014 - B 2 U 17/13 R - SozR 4-2700 § 54 Nr 1 RdNr 13 ff). Ist bereits die Klage unzulässig, scheidet auch eine Verurteilung des Beigeladenen aus (BSG vom 26.6.2014 - B 2 U 17/13 R - SozR 4-2700 § 54 Nr 1 RdNr 13), weil dem Gericht dann eine Prüfung des materiellen Rechts verwehrt ist.
b) An dieser Verwaltungsentscheidung fehlt es hinsichtlich des Leistungsantrags der Klägerin vom 4.8.2016.
aa) Diesen Antrag legt der Senat dahingehend aus, dass er sich auf die Zeit ab dem 1.9.2016 bezieht. Zwar wirkt ein Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gemäß § 37 Abs 2 Satz 2 SGB II auf den Ersten des Monats zurück. Dies gilt aber nicht, wenn der Antrag sich auf einen anderen, späteren Zeitpunkt bezieht. Die Entscheidung, für welchen Zeitraum Leistungen beantragt werden, steht grundsätzlich zur alleinigen Disposition des Betroffenen (BSG vom 28.10.2014 - B 14 AS 36/13 R - BSGE 117, 179 = SozR 4-4200 § 37 Nr 7, RdNr 19; Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 37 RdNr 59; vgl aber zur begrenzten Wirkung einer Antragsbeschränkung BSG vom 28.10.2014 - B 14 AS 36/13 R - BSGE 117, 179 = SozR 4-4200 § 37 Nr 7, RdNr 22 ff; BSG vom 24.4.2015 - B 4 AS 22/14 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 71 RdNr 23). Ist das Datum, ab dem der Antrag wirken soll, nicht ausdrücklich genannt, ist der Antrag der Auslegung zugänglich (BSG vom 24.4.2015 - B 4 AS 22/14 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 71 RdNr 18 ff; Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 37 RdNr 20), die auch das Revisionsgericht durchführen darf (BSG vom 24.4.2015 - B 4 AS 22/14 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 71 RdNr 18 mwN). Hier ist für den Senat ausschlaggebend, dass die Klägerin aufgrund des Bescheids des Beklagten vom 27.6.2016, der aufgrund der entsprechenden einstweiligen Anordnung des SG vom 15.6.2016 ergangen ist, bereits mit der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II bis zum 31.8.2016 rechnen konnte. Daher war es allein sinnvoll, den neuen Antrag für die Zeit ab dem 1.9.2016 zu stellen. Für diese aus der Sicht des objektiven Empfängerhorizonts vorzunehmende Auslegung spricht auch, dass der Beklagte die Klägerin im Bescheid vom 27.6.2016 darauf hingewiesen hat, dass sie zur Vermeidung von Unterbrechungen des Leistungsbezugs rechtzeitig vor Ablauf des (bis zum 31.8.2016 währenden) Zahlungszeitraums Leistungen beantragen müsse.
bb) Durch den mit Wirkung zum 1.9.2016 gestellten Antrag vom 4.8.2016 erfährt der vom Verwaltungsverfahren bzgl des Antrags vom 7.3.2016 betroffene Zeitraum mit Ablauf des 31.8.2016 eine Zäsur.
In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass bei Klagen gegen leistungsablehnende Bescheide, die keine zeitliche Beschränkung enthalten, streitgegenständlich der gesamte Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung bzw Entscheidung der (letzten) Tatsacheninstanz ist (stRspr; s nur BSG vom 16.5.2007 - B 11b AS 37/06 R - BSGE 98, 243 = SozR 4-4200 § 12 Nr 4, RdNr 17; BSG vom 22.3.2012 - B 4 AS 99/11 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 18 RdNr 11). Die Ablehnung der Leistungsbewilligung im Bescheid vom 17.3.2016 enthielt weder eine ausdrückliche noch eine konkludente (zu dieser Möglichkeit BSG vom 8.12.2020 - B 4 AS 30/20 R - BSGE 131, 123 = SozR 4-4200 § 11 Nr 89, RdNr 11) zeitliche Begrenzung.
Allerdings bewirkt ein neuer Leistungsantrag eine Zäsur. Er begrenzt den streitigen Zeitraum des vorherigen Antrags (BSG vom 22.3.2012 - B 4 AS 99/11 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 18 RdNr 11; BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 13/19 R - BSGE 131, 116 = SozR 4-4200 § 44a Nr 2, RdNr 9; vgl auch BSG vom 5.7.2018 - B 8 SO 50/17 B - juris RdNr 8). Die Zäsur tritt unabhängig davon ein, ob der neue Leistungsantrag bereits beschieden worden ist (vgl BSG vom 22.3.2012 - B 4 AS 99/11 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 18 RdNr 11; BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 13/19 R - BSGE 131, 116 = SozR 4-4200 § 44a Nr 2, RdNr 9; siehe auch BSG vom 5.7.2018 - B 8 SO 50/17 B - juris RdNr 8; anders in einem Obiter Dictum BSG vom 24.5.2017 - B 14 AS 16/16 R - BSGE 123, 188 = SozR 4-4200 § 9 Nr 16, RdNr 13). Denn nur so lässt sich erreichen, dass zum Zeitpunkt des neuen Leistungsantrags der streitige Zeitraum des ersten Verwaltungs- und ggf Gerichtsverfahrens feststeht und auch nicht in der Folgezeit verändert werden kann. Anderenfalls würde der Streitzeitraum des ersten Verfahrens weder bei Einleitung des zweiten Verwaltungsverfahrens noch notwendigerweise bei Klageerhebung definitiv feststehen, sodass Rechtsklarheit und Rechtssicherheit nicht eintreten würden. Eine gegenteilige Sichtweise würde dazu führen, dass der Zeitpunkt, zu dem die Zäsur eintritt, und der Zeitpunkt, an dem bekannt ist, dass die Zäsur eintritt, auseinanderfallen. Würde man auf den Zeitpunkt der Bescheidung des zweiten Antrags abstellen, läge die Bestimmung des streitigen Zeitraums des ersten Verfahrens zudem in der Hand der Behörde. Und bei einer späteren Aufhebung des zweiten Bescheids - sei es durch die Behörde oder ein Gericht - würde die Zäsur wieder entfallen, sodass sich der streitige Zeitraum des ersten Verfahrens wieder verlängern würde. Ist das erste Verfahren zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig abgeschlossen, entstünde nachträglich eine Rechtsschutzlücke. Der Zeitpunkt, in dem der zweite Antrag gestellt worden ist, steht hingegen in dem Augenblick dieser Antragstellung sofort und unabänderlich fest. Die hierdurch erreichte Rechtssicherheit gebietet es auch, bei einer Rücknahme des zweiten Antrags die hierdurch eingetretene Zäsurwirkung nicht nachträglich entfallen zu lassen.
Soweit der Senat in der Vergangenheit ohne Begründung die gegenteilige Auffassung vertreten hat (insbesondere BSG vom 13.7.2017 - B 4 AS 17/16 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 54 RdNr 13), hält er daran nicht fest.
cc) Hieraus folgt, dass mit dem Bescheid vom 17.3.2016 keine Entscheidung für die Zeit ab dem 1.9.2016 getroffen worden ist. In der Folgezeit ist der Antrag vom 4.8.2016 ebenfalls nicht beschieden worden.
Auch der Widerspruchsbescheid vom 6.9.2016 stellt keine Entscheidung des Antrags vom 4.8.2016 dar. Rubrum und Tenor des Widerspruchsbescheids sind eindeutig, denn danach wird lediglich der Widerspruch gegen die Ablehnung des Leistungsantrags vom 7.3.2016 zurückgewiesen. Die in der Begründung des Widerspruchsbescheids "versteckte" Passage auf Seite 6, wonach mit dem Antrag vom 4.8.2016 keine Änderungen derart eingetreten seien, dass nunmehr Leistungen zu bewilligen wären, stellt keine Regelung dar. Verwaltungsakte müssen inhaltlich hinreichend bestimmt sein (§ 33 Abs 1 SGB X), damit der Empfänger in der Lage ist, sein Verhalten danach auszurichten (vgl BSG vom 17.12.2009 - B 4 AS 30/09 R - SozR 4-4200 § 31 Nr 3 RdNr 16 mwN; BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 27). Insofern ist auch unter Rechtsschutzaspekten zu bedenken, ob der Adressat aus der Sicht eines verständigen Beteiligten aufgrund der Formulierung auf Seite 6 des Widerspruchsbescheids hätte wissen müssen, dass eine neue, zusätzliche und der Bestandskraft fähige Verwaltungsentscheidung getroffen worden ist. Dies verneint der Senat aus den dargelegten Gründen. Zur Auslegung des Widerspruchsbescheids ist auch das Revisionsgericht befugt (vgl BSG vom 28.6.1990 - 4 RA 57/89 - BSGE 67, 104 [110] = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 S 11 = juris RdNr 30 mwN; BSG vom 9.10.2012 - B 5 R 8/12 R - BSGE 112, 74 = SozR 4-1300 § 45 Nr 10, RdNr 16; BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 9/17 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 24; BSG vom 15.2.2023 - B 4 AS 2/22 R - RdNr 16 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; vgl auch BSG vom 13.12.2018 - B 5 RE 1/18 R - BSGE 127, 147 = SozR 4-2600 § 6 Nr 18, RdNr 37 mwN).
Für die Zeit ab dem 1.9.2016 hat die Klägerin durch ihren Antrag vom 4.8.2016 ein neues Verwaltungsverfahren eröffnet (vgl § 8 SGB X); sie hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Bescheidung ab diesem Zeitpunkt, den sie jederzeit geltend machen kann, solange nicht die Voraussetzungen der Verwirkung eintreten (vgl BSG vom 23.5.2018 - B 8 SO 1/18 BH - juris RdNr 10; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 88 RdNr 5c).
Fundstellen
Haufe-Index 15825385 |
BSGE 2024, 103 |
NJW 2024, 1837 |
NZS 2024, 256 |
SGb 2023, 494 |