Leitsatz (amtlich)

Ist die Einlegung einer Sprungrevision schon deshalb unwirksam, weil sie nicht gemäß SGG § 166 durch einen zur Vertretung vor dem Bundessozialgericht zugelassenen Prozeßbevollmächtigten erfolgte, so gilt sie auch nicht nach SGG § 161 Abs 2 als Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung.

 

Normenkette

SGG § 166 Fassung: 1953-09-03, § 161 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Februar 1963 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Die Beklagte hat unter Zubilligung der Bergmannsrente den Antrag des Klägers vom 17. September 1959 auf Gewährung der Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit abgelehnt; der Kläger als ehemaliger Grubensteiger sei trotz seiner Leiden noch in der Lage, als kaufmännischer Angestellter der Tarifgruppe B tätig zu sein. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 28. Mai 1962 seine Klage abgewiesen und darin unter Hinweis auf die §§ 143 ff des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Rechtsmittelbelehrung erteilt, daß gegen das Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingelegt werden könne. Noch vor Erlaß dieses Urteils hatte sich der Kläger mit Schreiben vom 24. April 1962 mit der Bitte um Entscheidung und Stellungnahme an das Bundessozialgericht (BSG) gewandt, dessen Präsident ihn mit Schreiben vom 5. Mai 1962 darüber belehrte, daß das BSG nur über Revisionen gegen Urteile der LSG und über Sprungrevisionen gegen Urteile der SG entscheide, in schwebende Verfahren nicht eingreifen und in Rentenangelegenheiten außerhalb eines bei ihm anhängigen Rechtsstreits keine Entscheidung treffen dürfe.

Nachdem ihm das sozialgerichtliche Urteil am 8. Juni 1962 zugestellt worden war, erklärte der Kläger durch ein von ihm selbst gefertigtes und unterschriebenes, beim BSG am 12. Juni 1962 eingegangenes Schreiben, er erhebe gegen das Urteil Sprungrevision. Er wurde darauf hingewiesen, daß eine Revision beim BSG wirksam nur durch einen bei diesem Gericht zugelassenen Prozeßbevollmächtigten eingelegt werden könne. Daraufhin legte er am 23. Juni 1962 Berufung gegen das sozialgerichtliche Urteil beim LSG ein. Er machte geltend, das BSG habe ihm selbst die Einlegung der Sprungrevision empfohlen; er habe aber nicht schnell genug die Einwilligungserklärung der Beklagten beibringen und einen zugelassenen Vertreter finden können. Auf das Rechtsmittel der Berufung habe er nicht verzichten wollen. Wegen seiner Leiden könne er keine Tätigkeiten als kaufmännischer Angestellter mehr verrichten.

Die Revision wurde durch Beschluß des BSG vom 17. Juli 1962 als unzulässig mit der Begründung verworfen, sie entspreche, weil ohne Prozeßbevollmächtigten eingelegt, nicht der gesetzlichen Form.

Das LSG andererseits hat mit Urteil vom 5. Februar 1963 die Berufung als unzulässig verworfen, weil der Kläger zuvor die Sprungrevision eingelegt habe, was gemäß § 161 Abs. 2 SGG als Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung gelte. Das Fehlen der Einwilligung der Beklagten zur Einlegung der Sprungrevision sei hierfür ohne Bedeutung. Ebenso müsse als unbeachtlich gelten, daß die Sprungrevision überhaupt nicht statthaft gewesen sei, weil das sozialgerichtliche Urteil schon nach § 143 SGG mit der Berufung hätte angefochten werden können. Der Kläger könne sich für sein unrichtiges prozessuales Verhalten auch nicht auf den Vertrauensschutz berufen, weil er der allgemeinen Belehrung durch den Präsidenten des BSG nicht habe entnehmen können, daß die Sprungrevision gegen das in seinem Fall zu erwartende Urteil des SG statthaft sein werde. Revision wurde zugelassen.

Gegen das ihm am 19. März 1963 zugestellte Urteil des LSG hat der Kläger am 5. April 1963 Revision eingelegt und begründet. Er rügt, daß das LSG die frist- und formgerecht eingelegte Berufung als unzulässig verworfen habe, statt in der Sache zu entscheiden. Durch seine privatschriftliche Erklärung gegenüber dem BSG sei eine wirksame Sprungrevision nicht eingelegt worden. Ein solches Schreiben könne allenfalls als Armenrechtsantrag behandelt werden und daher auch keinen Rechtsmittelverzicht enthalten. Es sei der Sinn des Vertretungszwanges, die rechtsunkundige Partei vor unrichtigen und unzweckmäßigen Anträgen zu schützen. Außerdem stehe der Annahme eines Verzichts auf das Rechtsmittel der Berufung die tatsächliche Einlegung der Berufung entgegen. In der Sache selbst macht er geltend, eine kaufmännische Tätigkeit entsprechend der Tarifgruppe B sei für ihn sozial unzumutbar; ferner fehle ihm die erforderliche Vorbildung und schließlich sei er gesundheitlich weder in der Lage, eine solche Tätigkeit auszuüben, noch sich die Vorbildung anzueignen.

Der Kläger beantragt,

in Abänderung des angefochtenen Urteils und unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide die Beklagte zu verurteilen, Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen,

hilfsweise,

unter Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG die Berufung für zulässig zu erklären.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Die Unzulässigkeit der Sprungrevision schließe den kraft gesetzlicher Vorschrift mit ihrer Einlegung verbundenen Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung nicht aus. Wenn der Kläger trotz hinreichender Rechtsmittelbelehrung in dem sozialgerichtlichen Urteil Sprungrevision eingelegt habe, so müsse er die Folgen tragen. Die Revision sei auch materiell-rechtlich unbegründet, da der Kläger nach den nicht angegriffenen ärztlichen Feststellungen noch Tätigkeiten eines kaufmännischen Angestellten der Gehaltsgruppe B im Bergbau verrichten könne und daher nicht berufsunfähig sei.

Beide Parteien sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte, frist- und formgerecht eingelegte Revision ist zulässig und auch begründet. Das Berufungsgericht hat die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen, statt in der Sache zu entscheiden. Die Berufung des Klägers gegen das sozialgerichtliche Urteil war nach § 143 SGG statthaft; einer der in den §§ 144-149 SGG aufgeführten Ausschließungsgründe lag nicht vor. Die Berufung wurde innerhalb der Berufungsfrist formgerecht eingelegt. Der Kläger hatte auch nicht auf das Rechtsmittel der Berufung verzichtet. Der Senat kann dem Berufungsgericht nicht in der Annahme folgen, die privatschriftliche Einlegung der Sprungrevision durch den Kläger gelte gemäß § 161 Abs. 2 SGG als Verzicht auf die Berufung. Das Berufungsgericht hat mit eingehender Begründung ausgeführt, daß diese Verzichtswirkung der Sprungrevision auch dann eintreten müsse, wenn die Sprungrevision nach § 161 Abs. 1 SGG deshalb nicht statthaft sei, weil das angefochtene Urteil schon nach § 143 SGG mit der Berufung hätte angefochten werden können. Diese Frage kann indessen hier unerörtert bleiben. Bevor nämlich zu erwägen ist, ob etwa der Wortlaut des § 161 Abs. 2 SGG sinngemäß dahin zu ergänzen wäre, daß nur die Einlegung einer "statthaften" Sprungrevision die Verzichtswirkung auslöse, bedarf es der Prüfung, ob im vorliegenden Falle überhaupt um die "Einlegung der Revision" im Sinne dieser Bestimmung handelt. Diese Frage ist zu verneinen. Gemäß § 166 Abs. 1 SGG müssen sich die Beteiligten - von den dort genannten Ausnahmen abgesehen - vor dem BSG durch Prozeßbevollmächtigte aus dem in Abs. 2 beschriebenen Personenkreise vertreten lassen; sie können also selber keine rechtswirksamen Prozeßhandlungen im Revisionsverfahren vornehmen. Das gilt auch schon für die Einlegung der Revision (BSG in SozR SGG § 164 Nr. 1). Konnte aber der Kläger persönlich nicht wirksam die Revision einlegen, ist seine entsprechende schriftliche Erklärung also insoweit jedenfalls ohne prozessuale Wirkung, so kann sie nicht andererseits als wirksamer Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung gelten. Es müßten jedenfalls schon besondere Gründe vorliegen, die die Annahme einer so einseitigen Wirksamkeit zu Ungunsten einer nicht vertretenen Partei rechtfertigen könnten. Solche Gründe sind indessen nicht erkennbar. Durch § 161 Abs. 2 SGG soll zunächst verhindert werden, daß zu gleicher Zeit gegen das gleiche Urteil zwei verschiedene Rechtsmittel eingelegt werden. Dieser Gesichtspunkt ist aber bei der ohnehin unwirksamen Revisionseinlegung durch eine insoweit nicht prozeßhandlungsfähige Partei ohne wesentliche Bedeutung. Soweit darüber hinaus etwa durch diese Bestimmung dem Revisionskläger das Risiko aufgebürdet werden sollte, nunmehr an das Sprungrevisionsverfahren mit seinen besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen, seiner Formstrenge und der eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeit endgültig gebunden zu sein, ist dieser Gesichtspunkt aber gerade gegenüber einer nicht vertretenen Partei nicht angebracht. Denn der Vertretungszwang hat ja unter anderem den Zweck, die rechtsunkundige Partei in dem formstrengen Revisionsverfahren vor Fehlern in der Prozeßführung zu schützen (vgl. Begründung des Entwurfs zur ZPO b. Hahn, Materialien Bd. 2, 1. Abt. S. 186 und zum SGG in Bundestagsdrucksachen 1. Wahlperiode 1949 Nr. 4357 S. 31 zu § 113).

Das Berufungsgericht verkennt im angefochtenen Urteil den Unterschied zwischen den Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Einlegung der Revision und denjenigen für die Statthaftigkeit der wirksam eingelegten Revision. Wenn es sich auf die Entscheidung des Reichsgerichts zu § 566 a Abs. 4 Zivilprozeßordnung (ZPO) - dem § 161 Abs. 2 SGG nachgebildet ist - in RGZ 146 S. 210 f beruft, so übersieht es, daß es dort zwar heißt, die Verzichtswirkung trete mit Einlegung der Revision - auch einer an sich unstatthaften - ein, daß aber gleichzeitig gerade betont wird, unter "Einlegung der Revision" sei hierbei die "mit Einwilligung des Gegners erfolgte Einreichung einer dem § 553 a ZPO entsprechenden, von einem hierzu befugten Anwalt unterschriebenen Revisionsschrift" zu verstehen. Das gleiche gilt von der ebenfalls in Bezug genommenen früheren Entscheidung des Berufungsgerichts (LSG NrW Breithaupt 1957 S. 90), wonach die Verzichtswirkung mit der "Einreichung eines Rechtsmittelschriftsatzes beim BSG in der nach dem SGG dafür vorgeschriebenen Form" eintritt. Auch das Hessische LSG hat in einer Entscheidung vom 6. Mai 1958 (Breithaupt 1958 S. 1178) ausgeführt, die Verzichtswirkung des § 161 Abs. 2 SGG trete ein, wenn die Einlegung der Sprungrevision eine wirksame Prozeßhandlung darstelle. Das BSG schließlich hat in seiner Entscheidung vom 6. September 1956 (BSG 3, 276) lediglich ausgeführt, die Einlegung der Sprungrevision gelte als Berufungsverzicht auch dann, wenn die Sprungrevision "unstatthaft" sei; da dort aber die Revision formgerecht eingelegt worden war und in den Urteilsgründen ausdrücklich auf RGZ 146, S. 210 Bezug genommen wird, besagt diese Entscheidung zumindest nichts gegen die oben begründete Ansicht.

Da somit wegen der mangelnden Postulationsfähigkeit des Klägers schon keine "Einlegung der Revision" im Sinne von § 161 Abs. 2 SGG erfolgt ist, bedurfte es keiner Prüfung, ob etwa auch das Fehlen der Einwilligung des Gegners für den Eintritt der Verzichtswirkung von Bedeutung ist.

Der Senat konnte gemäß §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG über die Revision ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Da das Berufungsgericht die für eine Sachentscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen hat, mußte er die Sache an das LSG zurückverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2325455

NJW 1964, 2080

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