Entscheidungsstichwort (Thema)
Unrichtige Entwertung von Beitragsmarken
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der "Verschiebung" von Beiträgen auf andere Zeiten als die, für die sie der Versicherte entwertet hat.
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Frage, für welche Zeiten im Rahmen der Weiterversicherung entrichtete Beiträge (freiwillige Beitragsmarken) gelten sollen, kommt es auf die Erklärung (Entwertungsvermerk) des Versicherten an. In Ermangelung einer eindeutigen Erklärung kommt es auf den mutmaßlichen Willen des Versicherten an, der durch Auslegung zu ermitteln ist.
2. Hat ein freiwillig Versicherter jedoch in seine am 24.1.1963 ausgestellte Versicherungskarte Beitragsmarken mit dem Aufdruck "62", also nach dem 31.12.1962 eingeklebt und diese Marken für das Jahr 1960 entwertet, so sind diese Marken unwirksam, weil sie nach 2 Jahren nach Schluß des Kalenderjahres, für das sie gelten sollen, entrichtet wurden.
Normenkette
RVO § 1418 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 140 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1409 Abs. 3; AVG § 131 Abs. 3
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Dezember 1971 und des Sozialgerichts Augsburg vom 6. Juli 1971 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der am 20. Januar 1906 geborene Kläger begehrt Erhöhung seines Altersruhegeldes durch Anrechnung weiterer Beiträge Er entrichtete als freiwillig Weiterversicherter in den Versicherungskarten 6 und 7 je 36 Monatsbeiträge der Klasse H und in der Karte 8 12 Monatsbeiträge der Klasse R derart, daß er jeweils 12 Beitragsmarken mit dem Aufdruck desselben Kalenderjahres für die Monate des vorvergangenen Jahres entwertete. Auf diese Weise belegte er mit Beiträgen in den Karten 6 und 7 die Jahre 1957 bis 1962 und in der Karte 8 das Jahr 1965. Bei Berechnung des ihm ab 1. Februar 1971 gewährten Altersruhegeldes beanstandete die Beklagte die für 1960 entrichteten Beiträge als unwirksam, weil die insoweit in Betracht kommenden 12 Beitragsmarken mit dem Aufdruck "62" sich in der erst am 24. Januar 1963 ausgestellten Karte 7 befinden; den Gegenwert dieser Marken erhielt der Kläger zurück. Die Klage auf Anrechnung auch dieser Beiträge hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg. Nach Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) verstößt es gegen Denkgesetze, wenn man die durch die Beitragsentwertung zum Ausdruck gekommene Willenserklärung des Klägers dahin auslegt, er habe 1963 für 1960 rechtsunwirksame Beiträge entrichten wollen. Er habe zwar bei Entrichtung der Beiträge für die Jahre 1959 bis 1961 die Nachentrichtungsfrist des § 140 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) voll ausgenutzt; andererseits habe er für 1963 und 1964 die Entrichtung freiwilliger Beiträge unterlassen. Es sei nicht gerechtfertigt, am buchstäblichen Sinn der Entwertungsvermerke festzuhalten. Angesichts der Beitragslücken in den Jahren 1963 und 1964 ließen sich die in Betracht kommenden Beiträge auch in das Jahr 1963, also in das Jahr der Ausstellung der Versicherungskarte 7, "verschieben". Deshalb sei davon auszugehen, daß der Kläger die 12 Beiträge rechtsgültig für das Jahr 1963 habe verwenden und entsprechend entwerten wollen.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt Verletzung des § 140 Abs. 1 AVG, verweist auf das nicht veröffentlichte Urteil des erkennenden Senats vom 27. August 1970, 11 RA 109/67, und meint: Selbst wenn den Entwertungsdaten keine entscheidende Bedeutung zukomme, sei der mutmaßliche Wille des Klägers dahin gegangen, die Beiträge für das Jahr 1960 zu entrichten, denn er habe seit 1957 jedes Kalenderjahr mit Beiträgen belegen wollen.
Der Kläger ließ sich im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Die streitigen Beiträge sind nicht rentensteigernd anzurechnen; der Kläger hat sie nicht innerhalb der Zweijahresfrist des § 140 Abs. 1 AVG und deshalb nicht rechtsgültig entrichtet. Die 12 Beitragsmarken mit dem Jahresaufdruck "62" befinden sich in einer erst am 24. Januar 1963 ausgestellten Versicherungskarte; der Kläger hat diese Marken mithin erst nach dem 31. Dezember 1962 eingeklebt, er hat sie aber für das Jahr 1960 entwertet (§ 131 AVG). Entgegen der Auffassung des LSG lassen sich diese Beiträge nicht auf eine spätere, nicht mit Beiträgen belegte Zeit "verschieben".
Mit der "Verschiebung" von Beiträgen auf andere Zeiten als die, für die sie vom Versicherten entrichtet worden sind, hat sich das Bundessozialgericht (BSG) schon wiederholt befaßt (vgl. SozR Nr. 5 zu § 1264 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF; Nr. 18 zu Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -; Nr. 6 zu Art. 2 § 15 ArVNG). Wie der erkennende Senat bereits in dem Urteil vom 27. August 1970, 11 RA 109/67, dargelegt hat, ist allen diesen Urteilen im wesentlichen die auch vom erkennenden Senat geteilte Rechtsauffassung gemeinsam, daß es für die Entscheidung der Frage, für welche Zeiten im Rahmen der Weiterversicherung entrichtete Beiträge gelten sollen, auf die Erklärung des Versicherten ankommt, daß in Ermangelung einer eindeutigen Erklärung der mutmaßliche Wille des Versicherten maßgebend ist, daß dieser Wille durch Auslegung zu ermitteln ist und daß bei dieser Auslegung neben dem Wortlaut der Erklärung die gesamten äußeren und inneren Umstände in Betracht zu ziehen sind, die einen Schluß auf den wesentlichen Inhalt der Erklärung zulassen. Diese Rechtsprechung stimmt auch darin überein, daß für die Auslegung nicht Umstände herangezogen werden dürfen, die im Zeitpunkt der Beitragsentrichtung von dem Versicherten noch nicht in seine Überlegungen haben einbezogen werden können. Die Auslegung darf nicht einfach als mutmaßlichen Willen zugrunde legen, was objektiv dem Interesse des Versicherten entsprochen hätte.
Geht man von diesen rechtlichen Gesichtspunkten aus, so ergibt sich entgegen der Auffassung des LSG kein Anhalt für die Annahme, der Wille des Klägers bei der Entrichtung der 12 freiwilligen Beiträge, um die es sich hier handelt, habe einen anderen Inhalt gehabt als den, den der Kläger durch die Entwertung der Beitragsmarken zum Ausdruck gebracht hat; insbesondere spricht nichts dafür, daß der Kläger diese Beiträge - wie das LSG meint - für das Jahr 1963 habe verwenden und deshalb die Beitragsmarken auch entsprechend, also für 1963 habe entwerten wollen, statt - wie tatsächlich geschehen - für 1960. Deshalb bedarf es hier auch keiner abschließenden Entscheidung darüber, ob eine solche "Vorausverschiebung" von freiwilligen Beiträgen auf Zeiten über das nächstfolgende Jahr hinaus überhaupt möglich ist.
Zwar hat das LSG alle Begleitumstände gewürdigt, die für die Frage von Bedeutung sind, welchen Willen der Kläger bei der Entrichtung der streitigen 12 Beiträge gehabt hat (vgl. Urteil des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 27. August 1970 - 2 AZR 519/69 -, abgedruckt bei Hueck-Nipperdey-Dietz, Nachschlagwerk des BAG, Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 33 zu § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB - mit Anmerkung von Henkel). Eine das Revisionsgericht bindende Feststellung des damals vorhanden gewesenen wirklichen Willens des Klägers hat das LSG jedoch nicht getroffen; es sagt nichts darüber, welchen wirklichen Willen der Kläger seinerzeit tatsächlich gehabt hat, sondern stellt ab auf seinen mutmaßlichen Willen. Soweit das LSG diesen mutmaßlichen Willen des Klägers erforscht hat, handelt es sich nicht um Tatsachenfeststellungen, sondern um die Anwendung allgemeiner Erfahrungssätze und Auslegungsgrundsätze, also um Rechtsanwendung, die der Überprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt (vgl. BSG in SozR Nr. 5 zu § 1264 RVO aF; Nr. 6 zu Art. 2 § 15 ArVNG).
Daß das LSG annimmt, der Kläger habe bei der Entwertung der 12 Beitragsmarken, um die es sich hier handelt, den Willen gehabt, auf jeden Fall rechtswirksame Beiträge zu entrichten, ist nicht zu beanstanden. Dieser Wille liegt jeder Entrichtung von Beiträgen - gleichgültig welcher Art - zugrunde; aus ihm allein läßt sich kein Anhalt dafür gewinnen, welchen Zeitraum die Beitragsentrichtung erfassen soll. Das zu bestimmen unterliegt der Disposition des Entrichtenden. Entgegen der Auffassung des LSG ergeben hier die gesamten Umstände nichts für die Annahme, der Kläger habe bei dem Einkleben und Entwerten der 12 Beitragsmarken den Willen gehabt, diese Beiträge nicht für den Zeitraum zu verwenden, für den er sie entwertete, also für 1960; viel weniger noch läßt sich erkennen, daß er diese Beiträge für einen ganz bestimmten anderen Zeitabschnitt, nämlich für das Jahr 1963, habe entwerten wollen. Das LSG hat keine Tatsachen festgestellt, die diesen von ihm gezogenen Schluß rechtfertigen. Es hat vielmehr die durch die Entwertung der Beitragsmarken für das Jahr 1960 zum Ausdruck gebrachte Erklärung des Klägers lediglich anders ausgelegt, als das die Würdigung aller Umstände zuläßt. Wie die Beklagte zutreffend hervorhebt, ergeben diese Umstände eindeutig, daß der Kläger stets bestrebt gewesen ist, unter Ausnutzung der Zweijahresfrist des § 140 Abs. 1 AVG jedes Kalenderjahr voll mit Beiträgen derselben Klasse zu belegen. Er hat nicht nur jeweils 12 Beiträge für die sechs Kalenderjahre 1957 bis 1962 in dieser Weise entrichtet; er hat auch später, nachdem er 1965 und 1966, also zwei volle Jahre keinerlei Beiträge entrichtet hatte, die Beitragsentrichtung in ganz derselben Weise wieder aufgenommen, indem er ausweislich seiner Versicherungskarte Nr. 8 12 Beitragsmarken mit dem Jahresaufdruck "67" für die Monate des Jahres 1965 entwertete. Aus diesem Verhalten des Klägers läßt sich nur schließen, daß er auch die 12 Beitragsmarken mit dem Jahresaufdruck "62" als Beiträge für den Zeitabschnitt entrichten wollte, für den er diese Marken tatsächlich entwertet hat, nämlich unter Ausnutzung der genannten Zweijahresfrist ausschließlich für das Jahr 1960. Sofern er aber bei der Entwertung der Beitragsmarken der Auffassung gewesen sein sollte, er entrichte auf diese Weise rechtswirksame Beiträge, hat es sich lediglich um einen rechtsunerheblichen Irrtum im Motiv gehandelt.
Nach alledem muß die Revision der Beklagten Erfolg haben; die Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben und die Klage ist abzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen