Leitsatz (amtlich)
1. Zur Frage, ob eine Zeit von 7 1/2 Monaten zwischen Abitur und Studienbeginn als Ausfallzeit anzurechnen ist.
2. Die Nichtanrechnung einer versicherungsfrei gebliebenen Praktikantenzeit als Ausfallzeit verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz.
Normenkette
RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09; AVG § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09; GG Art. 3 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Februar 1972 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob eine zwischen dem Abitur und dem Beginn der Hochschulausbildung liegende, nahezu vollständig durch ein sechsmonatiges Praktikum ausgefüllte Zeit als Ausfallzeit zu werten ist.
Der 1903 geborene Kläger bestand am 14. März 1922 die Reifeprüfung, arbeitete vom 3. April bis 1. Oktober 1922 als Praktikant, studierte vom 28. Oktober 1922 bis 2. August 1927 und wurde Diplom-Ingenieur. Bei Berechnung des ihm ab 1. Januar 1969 gewährten Altersruhegeldes erkannte die Beklagte die Schulzeit mit 28 und die Studienzeit mit 59 Monaten als Ausfallzeit an; der Zeitraum zwischen Abitur und Studienbeginn (15. März bis 27. Oktober 1922) blieb unberücksichtigt. Das Begehren des Klägers, auch diese Zeit als Ausfallzeit anzurechnen, hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - Nürnberg vom 4. Februar 1971 und des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - vom 1. Februar 1972). Nach Ansicht des LSG liegt bei einer Unterbrechung von etwa 7 Monaten keine durchgehende, notwendigerweise zusammenhängende Ausbildungszeit vor; auch könne das während dieser Zwischenzeit abgeleistete Praktikum weder als Schul- noch als Hochschulausbildung gelten. Eine Anrechnung versicherungsfreier Praktikantenzeiten würde außerdem die älteren Versicherten bevorzugen, weil nach dem neuen Rentenrecht Praktikanten versicherungspflichtig sind.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger sinngemäß,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, in Änderung des angefochtenen Bescheides die Zeit vom 15. März bis 27. Oktober 1922 bei der Rentenberechnung als Ausfallzeit anzurechnen.
Er verweist auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Februar 1966 und meint, die Zwischenzeit sei "unabwendbar angefallen", weil er wegen der Hochschullehrpläne sein Studium erst im Wintersemester habe beginnen können; ihre Nichtanrechnung verstoße gegen den Gleichheitssatz, denn in den einzelnen deutschen Ländern sei die Reifeprüfung damals zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgelegt worden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist unbegründet.
Der Kläger beruft sich zu Unrecht auf das Urteil des 1. Senats vom 16. Februar 1966 (BSG 24, 241); dieses Urteil betrifft einen anderen Tatbestand. Der 1. Senat hatte darüber zu entscheiden, ob einem Versicherten, der am 8. Juli 1913 das Abitur abgelegt und im Anschluß an die vom 15. Juli bis 15. September - dem Ende des Schuljahres - dauernden großen Ferien am 1. Oktober 1913 das Studium aufgenommen hatte, die zwischen Abitur und Studienbeginn liegende, noch dem laufenden Schuljahr zugehörige Zeit als Ausfallzeit i. S. von § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) anzurechnen ist. Der 1. Senat hat das bejaht, weil in einem solchen Fall, bei dem der Schulentlassung schon nach der kurzen Zeit von etwa 2 Monaten und auch zum nächstmöglichen Termin eine abgeschlossene Hochschulausbildung gefolgt ist, die Schul- und die Hochschulausbildung als eine einheitliche, notwendig zusammenhängende Ausbildung anzusehen sei; die hier zwischen den beiden Ausbildungszeiten liegende unvermeidliche Zwischenzeit falle für die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und die Beitragsleistung zur Rentenversicherung regelmäßig aus.
Die beim Kläger zwischen Abitur und Studienbeginn liegende Zeit dagegen beträgt 7 1/2 Monate, von denen 6 zusammenhängende Monate durch ein Praktikum - eine damals versicherungsfreie Tätigkeit - ausgefüllt sind. Die Zwischenzeit ist hier also nicht so kurz bemessen, daß sie nicht sinnvoll durch versicherungspflichtige Beschäftigungen hätte ausgefüllt werden können; entgegen der anscheinend vom Kläger vertretenen Auffassung darf insoweit auf besondere Gestaltungen individueller Verhältnisse nicht abgestellt werden. Zu entscheiden bleibt deshalb darüber, ob bei der Rentenberechnung dieses Praktikum als Ausfallzeit anzurechnen ist. Das haben beide Vorinstanzen mit Recht verneint.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist ein derartiges Praktikum selbst dann kein Teil der Hochschulausbildung i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG, wenn es Voraussetzung für den Studienbeginn oder für eine spätere Hochschulprüfung ist, weil zur Hochschulausbildung insoweit nur Ausbildungszeiten gehören, die ein immatrikulierter Student an der Hochschule verbringt (vgl. ua BSG 19, 239; 20, 35 = SozR Nr. 8 und 9 zu § 1259 RVO; BSG 30, 163/64 sowie Urteil des erkennenden Senats vom 5.2.1969 - 11 RA 126/68 -). Von dieser Rechtsprechung abzugehen besteht kein Anlaß.
Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, ist ein solches Praktikum aber auch keine Lehrzeit i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG; ein Lehrverhältnis setzt voraus, daß eine Beschäftigung in einem Betrieb hauptsächlich der Fachausbildung dient, diesem Ziel entsprechend geleitet wird und der Auszubildende tatsächlich die Stellung eines Lehrlings einnimmt. Diese Voraussetzungen erfüllt eine Praktikantenzeit nicht; sie ist keine umfassende und geregelte Fachausbildung für einen bestimmten Arbeitnehmerberuf. Sie dient vielmehr dazu, die Praktikanten in Betrieben praktische Kenntnisse und Erfahrungen - auf Arbeitsgebieten verschiedener Berufe - sammeln zu lassen, die sie für ihren Hauptberuf brauchen (Urteil des erkennenden Senats vom 21.10.1971, SozR Nr. 40 zu § 1259 RVO, mit weiteren Nachweisen).
Entgegen der Meinung des Klägers ist die Nichtanrechnung einer versicherungsfrei gebliebenen Praktikantenzeit auch nicht verfassungswidrig; insbesondere liegt die von der Revision geltend gemachte Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 des Grundgesetzes - GG -) nicht vor. Dieser Verfassungsgrundsatz enthält nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich ein Willkürverbot: Der Gesetzgeber darf innerhalb eines ihm vorbehaltenen, allerdings weiten Ermessensspielraums weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich behandeln (vgl. dazu BSG 7, 206, 208 und 26, 160 ff, je mit weiteren Nachweisen). Ein Verstoß gegen dieses Willkürverbot ist hier nicht ersichtlich. Da die Praktikantentätigkeit nach dem seit 1957 geltenden neuen Rentenrecht im allgemeinen versicherungspflichtig ist, Zeiten der Versicherungspflicht und Ausfallzeiten sich jedoch in aller Regel gegenseitig ausschließen, ist die Nichtanrechnung von versicherungsfrei gebliebenen Praktikantenzeiten nicht willkürlich, sondern sinnvoll, weil anderenfalls wesentlich ungleiche Sachverhalte ohne ersichtlichen Grund gleich behandelt würden. Die Anrechnung früherer, damals versicherungsfreier Praktikantenzeiten als Ausfallzeiten enthielte eine nicht gerechtfertigte Bevorzugung der älteren Versicherten; ihnen würden diese Zeiten ohne Beitragsleistung als Versicherungsjahre angerechnet, während die jüngeren Versicherten während ihres Praktikums Beiträge entrichten müssen, um diese Anrechnung zu erreichen. Wie das BSG bereits entschieden hat, (Urteil vom 25.10.1963 - 1 RA 327/62 -; vgl. auch BSG 19, 240/41), verstieße eine derartige Differenzierung deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz; bei Nichtanrechnung versicherungsfrei gebliebener Praktikantenzeiten dagegen scheidet ein solcher Verstoß gegen Art. 3 GG aus.
Nach alledem ist die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen