Leitsatz (amtlich)
Zu der "wegen ihrer Rasse" Verfolgten können - beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen des NVG § 1 - auch Versicherte gehören, die, ohne Juden zu sein, als solche behandelt worden sind.
Ein pflichtversicherter Selbständiger, der durch die Verfolgung in der Ausübung seiner Erwerbstätigkeit wesentlich beschränkt worden ist, ist im Sinne des NVG § 1 wie ein Versicherter anzusehen, der ein minderentlohntes Arbeitsverhältnis eingehen mußte.
Normenkette
NVG § 1 Fassung: 1949-08-22
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Juni 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen
Gründe
Der ursprüngliche, inzwischen verstorbene Kläger (Versicherter) bezog von März 1950 bis zu seinem Tode im Mai 1961 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Rentenversicherung der Angestellten (AV). Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob diese Rente um zusätzliche Steigerungebeträge nach dem "Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismusses in der Sozialversicherung" (VerfolgtenG) vom 22. August 1949 zu erhöhen ist oder nicht. Das Landessozialgericht (LSG) traf dazu folgende Feststellungen:
Der Versicherte war Fotografenmeister. Er entrichtete von 1928 bis 1938 freiwillig und von 1939 bis 1945 auf Grund der Versicherungspflicht für selbständige Handwerker Beiträge zur AV. Er war kein Jude. Wegen seines jüdischen Aussehens wurde er jedoch unter der nationalsozialistischen Herrschaft ähnlich wie ein Jude verfolgt und wirtschaftlich geschädigt, letzteres besonders in der Zeit von Januar 1939 bis September 1942. Er behielt während dieser Zeit seinen Gewerbebetrieb zwar bei, jedoch gingen die Einnahmen daraus zurück und erreichten erst Ende 1942 wieder den früheren - später sogar einen günstigeren - Stand. Die Schädigung wirkte sich auch in der Beitragsentrichtung zur AV aus, und zwar derart, daß sich der auf die Beiträge, wie sie der Versicherte für diese Zeit als Pflichtversicherter hätte leisten müssen, entfallende Steigerungsbetrag rechnerisch um 73,50 DM jährlich niedriger stellte als er es nach dem Einkommen, das der Versicherte ohne Verfolgungsmaßnahmen mutmaßlich erreicht hätte, gewesen wäre. In dem Entschädigungsverfahren nach dem nordrhein-westfälischen "Landesgesetz über die Anerkennung der Verfolgten und Geschädigten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" vom 4. März 1952 (G 4.3.1952) erkannte die zuständige Wiedergutmachungsbehörde (= Regierungspräsident in Düsseldorf) den Versicherten als "Geschädigten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" im Sinne des § 9 dieses Gesetzes an, weil er "aus Gründen der Rasse erheblichen wirtschaftlichen Schaden erlitten" habe; eine Anerkennung als Verfolgter im Sinne dieses Landesgesetzes erfolgte dagegen nicht.
Die Beklagte lehnte eine Erhöhung der Rente ab. Sie ist der Meinung, daß der Versicherte nicht zu den Verfolgten im Sinne des VerfolgtenG gehöre; dies habe bereits die nach den Wiedergutmachungsgesetzen zuständige Behörde entschieden; diese Entscheidung sei auch für das Rentenverfahren bindend, wie sich aus § 1 Abc. 3 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FAG) vom 7. August 1953 ergebe. Hiergegen wandte sich der Versicherte. Das Sozialgericht (SG) wies seine Klage jedoch ab. Das LSG verpflichtete dagegen die Beklagte, der Berechnung der Rente einen um 73,50 DM höheren Gesamtsteigerungsbetrag zugrunde zu legen: unter entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 VerfolgtenG müsse der Versicherte in der Sozialversicherung, unabhängig von der Entscheidung im allgemeinen Wiedergutmachungsverfahren, als Verfolgter anerkennt und entschädigt werden.
Das LSG ließ die Revision zu. Die Beklagte legte Revision ein und beantragte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Versicherten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie rügte eine unrichtige Anwendung des § 1 Abs. 1 VerfolgtenG in Verbindung mit § 1 Abs. 3 FAG durch das Berufungsgericht. Gegen die Berechnung des Unterschiedsbetrags beim Steigerungsbetrag (= 73,50 DM) erhob sie keine Einwendung.
Der Versicherte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Nach seinem Tode trat, weil Berechtigte im Sinne des § 65 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht vorhanden sind, die Klägerin als seine Alleinerbin in den Rechtsstreit ein.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Die Gewährung von Leistungen auf Grund des VerfolgtenG setzt voraus, daß der Versicherte zu den Verfolgten des Nationalsozialismusses im Sinne dieses Gesetzes gehört. Verfolgter ist u.a. der Versicherte, der in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 wegen seiner Rasse sein Arbeitsverhältnis aufgeben mußte, ohne in ein gleichwertiges eingestellt zu werden (§ 1 Abs. 1 VerfolgtenG). Ist bei einem solchen Versicherten die Rente geringer geworden als sie beim Weiterbestehen des früheren Arbeitsverhältnisses gewesen wäre, so wird ihm der Unterschiedsbetrag hinzugewährt (§ 4 Abs. 5 VerfolgtenG). Unter entsprechender Anwendung dieser Vorschriften hatte der Versicherte einen Anspruch auf eine Erhöhung seiner Rente. Dieser Anspruch ist auf die Klägerin übergegangen.
Im Land Nordrhein-Westfalen, in dem der Versicherte lebte, ist die Eigenschaft als Verfolgter im Sinne des VerfolgtenG von dem für die Leistungsgewährung zuständigen Versicherungsträger und im Falle eines gerichtlichen Verfahrens von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit festzustellen. Das folgt - mangels einer anderweitigen Regelung im VerfolgtenG - schon aus dem Grundsatz, daß die Versicherungsträger die Voraussetzungen von Ansprüchen aus den Rechtsgebieten, die ihnen zugewiesen sind, regelmäßig selbst zu prüfen und darüber in eigener Zuständigkeit zu befinden haben. Im übrigen beläßt die nordrhein-westfälische Durchführungsverordnung zum VerfolgtenG vom 15. Mai 1950 diese Entscheidung ausdrücklich den Versicherungsträgern und überträgt sie nicht, wie es in einigen anderen Bundesländern (zB Hamburg, Hessen) geschehen ist, den besonderen Fachbehörden für die Wiedergutmachung. Die Zuständigkeit des Versicherungsträgers wird auch - jedenfalls für den vorliegenden Rechtsstreit - nicht durch § 1 Abs. 3 FAG, auf den sich die Beklagte bezieht, verlagert. Nach dieser Vorschrift sind die Versicherungsträger, soweit es auf die Feststellung eines Verfolgungstatbestandes ankommt, an die Entscheidungen der allgemeinen Entschädigungsbehörden gebunden. Abs. 3 des § 1 PAG steht in engem - äußeren und inneren - Zusammenhang mit dem vorausgehenden Abs. 2 Nr. 2 bb und dürfte sich deshalb nur auf ihn beziehen. § 1 Abs. 2 Nr. 2 bb FAG finde jedoch in diesem Rechtsstreit keine Anwendung. Aber selbst wenn - wie die Beklagte annimmt - § 1 Abs. 3 PAG eine allgemeinere und weitgehendere Bedeutung haben sollte, so würde seine Anwendung doch voraussetzen, daß eine Entscheidung der zuständigen Fachbehörde zu § 1 Abs. 1 VerfolgtenG ergangen ist oder ergehen kann. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Entscheidung des Regierungspräsidenten in Düsseldorf hält sich nur im Rahmen des nordrhein-westfälischen Gesetzes vom 4. März 1952 und erstreckt sich nicht auf das VerfolgtenG. Das läßt sich auch nicht nachholen, weil in Nordrhein-Westfalen den Wiedergutmachungsstellen keine Befugnis zu Entscheidungen nach den VerfolgtenG übertragen worden ist. Im übrigen liegt in der Anerkennung des Versicherten als "Geschädigten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft„ im Sinne des G 4.3.1952 mittelbar auch eine Bejahung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 VerfolgtenG. Das verkennt die Beklagte in ihrer Revisionsbegründung. Das G 4.3. 1952 unterscheidet nämlich zwischen "Verfolgten" (§ 1) und "Geschädigten" (§ 9). Die Tatbestände, die zur Zuerkennung der Eigenschaft als "Verfolgter" führen, unterscheiden sich jedoch in VerfolgtenG einerseits und im G 4.3.1952 andrerseits. Das folgt insbesondere aus § 6 G 4.3.1952, der bestimmte Personengruppen von der Möglichkeit, als "Verfolgter" anerkannt zu werden, ausschließt und für den es im VerfolgtenG keine Parallele gibt. Die Versagung der Anerkennung als Verfolgter im Sinne des G 4.3.1952 bedeutet deshalb nicht, daß damit zugleich auch die Anerkennung als Verfolgter im Sinne des VerfolgtenG versagt worden ist. Auch wenn die Verfolgteneigenschaft nach dem G 4.3.1952 verneint wird, bleibt eine Bejahung dieser Eigenschaft nach dem VerfolgtenG möglich. Das kann besonders dann der Fall sein, wenn bereits eine Anerkennung als "Geschädigter" im Sinne des G 4.3.1952 vorliegt. Diese Entscheidung erfordert nach § 9 des Gesetzes "nationalsozialistische Maßnahmen aus Gründen des Rasse" und den Eintritt eines "erheblichen wirtschaftlichen Schadens". Das sind Tatbestandsmerkmale, die denen des § 1 Abs. 1 VerfolgtenG, soweit er für den vorliegenden Rechtsstreit in Betracht kommt, vergleichbar sind und inhaltlich entsprechen. Sinngemäß liegt daher in der Anerkennung als "Geschädigter" mit eine Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 VerfolgtenG. Die Beklagte kann ihre Ablehnung deshalb nicht damit begründen, daß der Regierungspräsident in Düsseldorf den Versicherten nicht als "Verfolgten" anerkannt habe, und sie an dessen Entscheidung gebunden sei. Sie verkennt dabei einmal die Tragweite des § 1 Abs. 3 FAG und übersieht außerdem, daß der Regierungspräsident den Begriff "Verfolgter" in einem anderen, unterschiedlichen Sinne gebraucht hat. Die Beklagte hätte vielmehr selbst prüfen müssen, ob der Versicherte die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 VerfolgtenG erfüllte.
Diese Prüfung hat das Berufungsgericht nachgeholt und mit Recht die Verfolgteneigenschaft des Versicherten bejaht. Die Begründung für diese Entscheidung ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 VerfolgtenG, wohl aber aus dessen Sinn und Zweck. Der Versicherte war kein Jude, doch müssen zu den Versicherten, die "wegen ihrer Rasse" verfolgt worden sind, auch jene gerechnet werden, die, ohne Juden zu sein, als solche behandelt wurden. Das ist im allgemeinen Entschädigungsrecht anerkannt (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 des Bundesentschädigungsgesetzes - BEG -) und muß im Grundsatz auch für das Gebiet der Sozialversicherung gelten. Der Senat hat schon mehrfach entschieden, daß bei der Auslegung des VerfolgtenG die allgemeinen Rechtsgedanken des Entschädigungsrechts mit zu berücksichtigen sind (§ 138 BEG; BSG 10, 113). Der Versicherte stand als selbständiger Handwerksmeister auch in keinem "Arbeitsverhältnis" und konnte deshalb nicht gezwungen werden, ein minderentlohntes aufzunehmen. Aber eine zweckentsprechende Gesetzesanwendung verlangt in diesem Zusammenhang gleichfalls eine über den Wortlaut hinausgehende, erweiternde Auslegung; auf diese Weise können die pflichtversicherten Selbständigen, die insoweit sonst von einer Entschädigung in der Sozialversicherung ausgeschlossen wären, mit in den Kreis der Berechtigten einbezogen werden. In § 1 Abs. 1 VerfolgtenG beziehen sich die Tatbestandsmerkmale "Haft" und "Flucht" auf alle Versicherten, also auch auf die Selbständigen. Durch die Verwendung des Begriffs "Arbeitsverhältnis" findet - dem Wortlaut nach - eine Einengung statt, die mit dem Zweck des Gesetzes nicht übereinstimmt und für die kein sinnvoller Grund erkennbar ist. Die pflichtversicherten Selbständigen, die aus ihrer selbständigen Erwerbstätigkeit verdrängt oder in deren Ausübung wesentlich beschränkt worden sind, müssen in der Sozialversicherung ebenfalls als Verfolgte anerkannt werden können, wie es auch im allgemeinen Entschädigungsrecht vorgesehen ist (§ 66 Abs. 1 BEG). Die Verdrängung aus einer selbständigen Erwerbstätigkeit gleicht den Zwang zur Aufgabe des Arbeitsverhältnisses und eine schädigende Beschränkung der selbständigen Erwerbstätigkeit entspricht dem Zwang, nur ein minderentlohntes Arbeitsverhältnis eingehen zu dürfen.
Bei dieser Auslegung des VerfolgtenG ist der Versicherte als Verfolgter anzuerkennen. Er hatte einen Anspruch auf einen Unterschiedsbetrag nach § 4 Abs. 5 VerfolgtenG, der von Berufungsgericht bedenkenfrei auf 73,50 DM berechnet worden ist. Das Urteil des LSG erweist sich deshalb im Ergebnis als richtig, die Revision als unbegründet (§§ 170 Abs. 1, 193 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen