Leitsatz (amtlich)

Eine Rente, die - für den Versicherten ersichtlich - lediglich wegen Verdachts auf das Vorliegen eines den Versicherungsfall auslösenden Leidens gewährt worden ist, kann wieder entzogen werden, wenn sich dieser Verdacht später nicht bestätigt.

 

Normenkette

RVO § 1286 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 24 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 13. September 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die am 14. April 1911 geborene Klägerin beantragte am 8.September 1954 wegen Verdachts auf ein Gebärmutter-Carzinom die Gewährung von Rente aus der Arbeiterrentenversicherung. Im fachgynäkologischen Gutachten des Dr. ... vom Strahleninstitut der Frauenklinik und Hebammenschule der Universität M. vom 4. Oktober 1954 wurde ausgeführt, daß die Patientin eine einseitige Radiumeinlage und eine Röntgenkastrationsdosis erhalten habe; nach nochmaligem Auftreten von Blutungen seien erneut eine Abrasio und eine intrauterine Radiumeinlage vorgenommen worden. Histologisch sei nichts Bösartiges gefunden worden. Im Hinblick auf die Radium-Röntgenbehandlung sei die Klägerin zunächst für ein Jahr völlig arbeitsunfähig. Hinsichtlich der übrigen Befunde schlug der Gutachter eine internistische Begutachtung vor. Diese führte Dr. ... vom Stadtkrankenhaus Kempten am 10.Dezember 1954 durch. Dieser Gutachter kam zu dem Ergebnis, daß der Zustand nach Radium-Röntgenbestrahlung wegen Verdachts auf Collum-Carcinom mit Ausfallserscheinungen von seiten der Ovarien zur Zeit noch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von etwa 60 v.H. bedinge. Die Invalidität sei mit größter Wahrscheinlichkeit nur eine vorübergehende, falls keine Recidive mehr aufträten. Dementsprechend hat die Beklagte mit Bescheid vom 15. Januar 1955 wegen vorübergehender Invalidität Invalidenrente vom 1. Oktober 1954 an gewährt. Am 8. August 1955 teilte das Strahleninstitut der Universität München mit, daß die letzte am 22. April 1955 durchgeführte Kontrolle keinen Anhalt für einen bösartigen Prozeß im Bereich der Genitale ergeben habe. Die Klägerin sei nach der letzten Behandlung ein Jahr beschwerdefrei gewesen; der damalige histologische Befund habe auch lediglich einen Verdacht auf auf Bösartigkeit der Erkrankung ergeben. Aus diesem Grunde könne gynäkologischerseits keine Invalidität mehr angenommen werden. Die Beklagte veranlaßte daraufhin noch die Erstattung eines Gutachtens durch Dr. ... und Dr. ... vom Stadtkrankenhaus Kempten. Unter Berücksichtigung eines Elektrokardiogramm-Befundes vom 27.August 1955 vertraten die Gutachter die Auffassung, daß bei der Klägerin ein kompensierter Hochdruck und Kreislaufbeschwerden nach Röntgen-Kastration sowie eine Arthrosis deformans bestehe und die MdE für die festgestellten Leiden 55 v.H. betrage. Die Klägerin könne leichte Haushalts- und Heimarbeiten fortgesetzt verrichten. Dr. ... kam in seinem fachinternen Gutachten vom 28. Januar 1956 zu dem Ergebnis, daß bei der Klägerin weiterhin Invalidität vorliege. Der frühere Verdacht einer bösartigen Unterleibserkrankung habe sich zwar nicht bestätigt, es beständen jetzt aber ein Bluthochdruck sowie wahrscheinlich endokrine Störungen mit allgemeiner Fettleibigkeit, die zusammen zu einer Überlastung des Herzkreislaufes geführt hätten; die MdE betrage noch etwa 60 v.H. Am 20. Juni 1957 teilte Dr. ... mit, daß die Klägerin seit etwa einem Jahr bei ihm in dauernder Behandlung wegen vegetativer endokriner Dysregulation, Fettsucht und Angina pectoris stehe und nur vorübergehende Besserungen zu erzielen seien. Die Klägerin sei dauernd erwerbsunfähig. Demgegenüber führte Dr. ... in seinem nervenfachärztlichen Gutachten vom 11. September 1957 aus, daß der Grund für die Rentengewährung, nämlich der Krebsverdacht weggefallen sei. Eine Psychose oder ein organisches Nervenleiden liege nicht vor. Die zahlreichen von der Klägerin vorgebrachten Beschwerden beruhten zum Teil auf dem Klimakterium, zum Teil seien es psychogene Überlagerungen. Sie leide an Psychopathie und habe schon früher psychogene Anfälle gehabt. Berufsunfähigkeit als Fabrikarbeiterin oder Hausfrau könne nicht angenommen werden. Zu dem gleichen Ergebnis kam Dr. ... in seinem Gutachten vom 21. September 1957. Die bei der Klägerin bestehende Psychopathie, die Blutdruckerhöhung und die allgemeine Fettleibigkeit seien nicht so schwerwiegend, daß Berufungsunfähigkeit angenommen werden könne. Dementsprechend hat die Beklagte mit Bescheid vom 16. November 1957 die Rente mit Wirkung vom 1. Januar 1958 an entzogen.

Die Klägerin hat Klage mit der Begründung erhoben, daß sich zwar die bösartige Unterleibserkrankung gebessert habe. Durch die Radium-Röntgenbestrahlung seien die anderen Organe aber so nachteilig beeinflußt worden, daß weiterhin Berufsunfähigkeit angenommen werden müsse. Sie stützte sich hierbei insbesondere auf eine Bescheinigung des behandelnden Arztes Dr. ... vom 26. November 1957. Der gerichtliche Sachverständige Dr. ... vertrat dagegen die Auffassung, eine wesentliche Besserung gegenüber den Befunden vom Dezember 1954 ergebe sich daraus, daß der Carcinom-Verdacht entfallen sei. Die übrigen Leiden seien nicht so schwerwiegend, um der Klägerin nicht noch leichte bis mittelschwere Arbeiten zumuten zu können. Mit Urteil vom 10. Juni 1958 hat das Sozialgericht (SG) den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Rente über Dezember 1957 hinaus weiterzugewähren. Die frühere Rentengewährung habe nicht auf einer damals nicht behebbaren diagnostischen Unsicherheit, sondern auf einer Fehldiagnose beruht. Deshalb sei eine Rentenentziehung nicht mehr möglich.

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Es habe der Verdacht auf eine bestimmte Krankheit bestanden und erst die weiteren Untersuchungen hätten ergeben, daß dieser Verdacht nicht gerechtfertigt sei. Damit handle es sich hier nicht um eine Fehldiagnose.

Durch Urteil vom 13. September 1960 hat das Landessozialgericht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen.

Nach den Befunderhebungen des Strahleninstituts der Universität München habe ein begründeter Verdacht auf ein bösartiges Leiden bestanden. Dies gehe schon aus der Vorgeschichte des Gutachtens vom 4. Oktober 1954 hervor. Am 2. März 1954 sei im Stiftsspital Kempten durch Oberarzt Dr. ... eine Probeexcision und Abrasio durchgeführt worden; die histologische Untersuchung habe sehr für ein Carcinom gesprochen. Die Klägerin sei deshalb in der Zeit vom 15. bis 24. März 1954 und erneut vom 19. bis 25. August 1954 einer kombinierten Radium-Röntgentherapie unterzogen worden. An der Universitätsklinik selbst sei histologisch allerdings nichts Malignes gefunden worden. Dieses histologische Untersuchungsergebnis habe offenbar das Erstgericht dazu veranlaßt, von einer Fehldiagnose auszugehen. Dem könne aber nicht gefolgt werden. Gerade aus dem Gutachten von Dr. ... vom 4. Oktober 1954 gehe hervor, daß die Rente im wesentlichen wegen eines Zustandes nach Radium-Röntgenbehandlung wegen des Verdachts auf Collum-Carcinom bewilligt worden sei. Auch Dr. ... vom Stadtkrankenhaus Kempten habe in seinem Gutachten vom 10. Dezember 1954 einen Zustand nach einer Radium-Röntgenbestrahlung, die wegen des Verdachts auf Collum-Carcinom durchgeführt worden sei, mit Ausfallserscheinungen von seiten der Ovarien angenommen und die MdE nunmehr mit etwa 60 v.H. bewertet. Ausdrücklich sei in diesem Gutachten darauf hingewiesen worden, daß mit größter Wahrscheinlichkeit die Invalidität bei Recidivfreiheit nur eine vorübergehende sei. Aus diesen beiden Gutachten gehe eindeutig hervor, daß für die Rentenbewilligung nicht irrtümlich von dem Bestehen einer bösartigen Geschwulstkrankheit oder einem unbegründeten Verdacht auf eine derartige Erkrankung ausgegangen worden sei, der Grund für die Gewährung der Rente sei vielmehr in erster Linie der Zustand nach Radium-Röntgenbestrahlung gewesen. Von einer Fehldiagnose könne bei dieser Sachlage nicht die Rede sein. Bei einem Krebsleiden liege Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit nicht nur wegen der Krebserkrankung auf viele Jahre hinaus vor, sondern die Rentengewährung sei schon auf Grund der Folgen der Radium-Röntgenbestrahlung ohne weiteres gerechtfertigt. Denn die Einflüsse der Bestrahlung auf den Körper und den seelischen Zustand der davon Betroffenen seien derart schwerwiegend, daß selbst dann eine körperliche Arbeitsleistung für einen längeren Zeitraum nicht verlangt werden könne, wenn durch eine spätere histologische Untersuchung nichts Malignes gefunden werde. Diese Tatsachen müßten aber zwangsläufig zu der Annahme führen, daß bei Nichtbestätigung des ursprünglichen Verdachts auf ein Collum-Carcinom, vor allem aber nach Abklingen der Folgen der Strahlenbehandlung eine objektive, wesentliche Besserung gegenüber dem Zustand, wie er im Zeitpunkt der Renteneinweisung bestanden habe, eingetreten sei. Hinzu komme, daß die in der Regel bei Krebsverdacht und Strahlenbehandlung auftretenden Depressionen nach Abklingen der Folgen der Behandlung zurückgingen und auch die Gewißheit, daß es sich nicht um eine bösartige Geschwulsterkrankung handele, zu einer Besserung im Gesundheitszustand beitrage. Dies stelle ebenfalls eine Änderung im Sinne des § 1286 der Reichsversicherungsordnung (RVO) dar. Damit aber komme es entscheidend darauf an, ob die bei der Klägerin noch bestehenden Gesundheitsstörungen für sich allein eine Rentengewährung rechtfertigten. Dies sei nach den übereinstimmenden ärztlichen Beurteilungen jedoch nicht der Fall. Dr. ... und Dr. ... sowie Dr. ... hätten im Dezember bzw. Januar 1956 bereits gynäkologischerseits das Vorliegen von Invalidität verneint. Nur wegen der allgemeinen Leistungsminderung infolge Überbelastung des Herzkreislaufs durch den Bluthochdruck und wegen des körperlichen Übergewichts sowie wegen der endokrinen Regulationsstörungen hätten diese Gutachter die Erwerbsminderung noch mit über 50 v.H. beurteilt. Die späteren Untersuchungen durch Dr. ... und Dr. ... im September 1957 hätten dann aber ergeben, daß die neurologisch festgestellte Psychopathie keine Berufsunfähigkeit bedinge und auch die Blutdruckerhöhung und die Fettleibigkeit nicht so schwerwiegend seien, daß noch weiterhin Berufsunfähigkeit angenommen werden könne. Dies vor allem, weil eine Kreislaufschädigung nicht mehr habe nachgewiesen werden können. Diese Beurteilung sei vom gerichtlichen Sachverständigen Dr. ... am 10. Juni 1958 in vollem Umfang bestätigt worden. Der Gutachter habe dabei eingeräumt, daß durch die Überbelastung des Herzens infolge der Fettleibigkeit und der leichten Blutdruckerhöhung eine mäßige Herzleistungsschwäche unterstellt werden könne. Jedoch sei kein Anhalt für eine Dekompensation gegeben gewesen. Zu den von der Klägerin angegebenen Herzanfällen habe der Gutachter überzeugend dargetan, daß es sich nach dem Elektrokardiogrammbefund und dem klinischen Untersuchungsergebnis nicht um ein organisches Herzleiden, sondern nur um funktionelle bzw. psychogene Störungen handele und der Klägerin noch leichte bis mittelschwere Arbeiten im Sitzen sowie im Wechsel zwischen Stehen und Sitzen zugemutet werden könnten. Der Klägerin sei es demnach noch möglich, in ihrem früheren Beruf als Weberin und Einzieherin oder als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik mehr als die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Dem stehe nicht entgegen, daß der Gutachter schwere körperliche oder körperliche Gewandtheit erfordernde Arbeiten nicht mehr für zumutbar gehalten habe. Die Voraussetzungen zur Entziehung der Rente wegen Änderung der Verhältnisse seien daher gegeben.

Gegen dieses ihr am 13. Oktober 1960 zugestellte Urteil hat die Klägerin durch ihre Prozeßbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 9. November 1960, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 11. November 1960, Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.

Sie rügt die Verletzung der §§ 1293 RVO aF, 1286 RVO. Die Voraussetzung zur Entziehung der Rente sei nicht erfüllt. Denn eine Änderung in den zur Rentengewährung führenden Verhältnissen sei nicht eingetreten. Die Rentengewährung sei wegen des von ärztlicher Seite erhobenen Verdachts auf das Vorliegen eines Gebärmutterkrebses erfolgt. Diese Diagnose habe sich aber schon während des Rentenverfahrens als offensichtlich unrichtig erwiesen. In ihrem Gesundheitszustand sei damit tatsächlich seit der Rentengewährung keine Änderung im Sinne einer Besserung eingetreten. Die Annahme des Berufungsgerichts, daß die Rentengewährung nicht wegen des Krebsverdachtes, sondern wegen des Zustandes nach Radium-Röntgen-Bestrahlung erfolgt sei, treffe nicht zu. Die Radiumbestrahlung sei nur wegen der irrtümlich angenommenen Krebserkrankung erfolgt und hätte für sich allein nicht zur Rentengewährung geführt. Es entspreche nicht der von den Versicherungsträgern geübten Praxis, wegen der Folgen einer Radiumbestrahlung Invalidität anzunehmen. Das Berufungsgericht hätte bei zutreffender Gesetzesanwendung die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückweisen müssen.

Sie beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts in Augsburg vom 10.Juni 1958 zurückzuweisen und die Beklagte zu verurteilen, ihr die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Wenn in Fällen dieser Art, in denen wegen des Verdachts auf das Bestehen eines Krebsleidens Rente gewährt werde, eine Rentenentziehung nicht für möglich erachtet werde, falls sich später dieser Verdacht als unbegründet erweise, würde es den Versicherungsträgern zukünftig nur noch schwer zumutbar sein, derartige vorsorgliche Renten überhaupt zu gewähren. Dies sei aber für die Krebserkrankten sehr bedauerlich. Wenn nun im vorliegenden Fall auch nicht die klassischen Verdachtsmomente vorgelegen hätten, so müsse es doch genügen, wenn ein Strahleninstitut auf Grund seiner reichen Erfahrung eine in das Körpergeschehen eingreifende Behandlung, wie es eine Strahlenbehandlung sei, für angezeigt halte. Hier könne man ihr nicht entgegenhalten, sie hätte sich nicht darauf verlassen dürfen; sie könne nicht mehr tun als der Auffassung des Strahleninstituts zu folgen.

Abgesehen davon handele es sich hier nicht einmal ausschließlich um die Rechtsfrage, ob eine wegen Krebsverdachts gewährte Rente entzogen werden könne. Mit ausschlaggebend sei vielmehr, daß allein schon die Strahlenbehandlung einen die Rentengewährung erfordernden Umstand darstelle; die Folgen dieser Behandlung seien aber abgeklungen, so daß insoweit zweifelsohne eine Besserung im Zustand der Klägerin eingetreten sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist, da das Berufungsgericht sie zugelassen hat, auch statthaft. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Es mußte ihr jedoch der Erfolg versagt bleiben.

Wie das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht entschieden hat, durfte die Beklagte die der Klägerin gewährte Rente wieder entziehen, d.h. den Rentenbewilligungsbescheid mit Wirkung vom Ablauf des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Rentenentziehungsbescheid zugestellt ist, zurücknehmen. Die Rentenentziehung richtet sich, da sie unter der Herrschaft des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) erfolgt ist, grundsätzlich nach § 1286 Abs. 1 Satz 1 Abs. 2 RVO, nicht mehr nach § 1293 Abs. 1 RVO aF. Der Umstand, daß der Versicherungsfall vor dem 1.Januar 1957 eingetreten ist, steht nach Art. 2 § 24 aaO der Anwendung dieser Vorschrift nicht entgegen; Art. 2 § 44 ArVNG schließt, da es sich hier nicht um ein am 1.Januar 1957 schwebendes Verfahren handelt, die Anwendung des Art. 2 § 24 ArVNG nicht aus.

Es war zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO vorliegen.

Die Klägerin bezieht auf Grund des Bescheides der Beklagten vom 15. Januar 1955 eine Invalidenrente, die nach Art. 2 §§ 32 ff ArVNG zum 1. Januar 1957 umgestellt worden ist. Diese Rente gilt nach Art. 2 § 38 ArVNG als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Klägerin war daher Empfängerin einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO.

Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts, an die das Revisionsgericht nach § 163 SGG gebunden ist, ist die Klägerin noch in der Lage, ihren früheren Beruf als Weberin und Einzieherin auszuüben. Sie ist daher nicht berufsunfähig nach § 1246 Abs. 2 RVO, worüber auch zwischen den Beteiligten kein Streit besteht.

Entscheidend kam es daher darauf an, ob in den Verhältnissen der Klägerin seit der Rentenbewilligung eine Änderung eingetreten ist. Wäre die Rente auf Grund einer Fehldiagnose zuerkannt worden, wie die Klägerin meint, so würde, wie das BSG bereits entschieden hat (BSG 6, 25; 8, 241), keine Änderung in den Verhältnissen der Klägerin eingetreten sein; die Rentenentziehung wäre also widerrechtlich. Im vorliegenden Fall ist die Rente jedoch nicht wegen einer Krebserkrankung, sondern lediglich wegen des Verdachts auf das Vorliegen einer Krebserkrankung sowie wegen der Folgen einer Radiumbestrahlung gewährt worden. Wenn auch der Rentenbewilligungsbescheid der Beklagten nicht ausdrücklich den Grund der Rentengewährung bezeichnet - was im Interesse der Klarheit wünschenswert und nach § 1631 Abs. 1 Satz 2 RVO auch erforderlich gewesen wäre - so ergibt sich der Grund doch mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Umstand, daß die Rente nur wegen vorübergehender Invalidität gewährt worden ist in Verbindung damit, daß nach den der Rentenbewilligung zugrunde liegenden Gutachten - außer den festgestellten Folgen der Radiumbestrahlung - lediglich der Verdacht auf das Bestehen eines Krebsleidens angenommen wurde. (Gutachten des Dr. ... vom 4. Oktober 1954 und des Dr. ... vom 10. Dezember 1954). Im Zeitpunkt der Rentenentziehung lag dagegen ein Verdacht auf das Bestehen eines Krebsleidens nicht mehr vor, und Folgen der Bestrahlung waren nicht mehr vorhanden. Zwar wurde das Vorliegen von Psychopathie, Blutdruckerhöhung und Fettleibigkeit festgestellt, diese Leiden stehen aber, da sie bei Erlaß des Rentenbewilligungsbescheides noch nicht bestanden haben, der Annahme einer Änderung in den Verhältnissen der Klägerin nicht entgegen. Zweifelsohne liegt eine Änderung in den Verhältnissen der Klägerin insofern vor, als die Folgen der Bestrahlung inzwischen weggefallen sind. Im übrigen ist aber in den Verhältnissen der Klägerin im Sinne des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO keine Änderung eingetreten. Denn entscheidend ist, ob objektiv in dem Gesundheitszustand des Versicherten eine Änderung eingetreten ist, nicht aber, ob früher bestehende Beweisschwierigkeiten, also auch Schwierigkeiten oder gar die Unmöglichkeit, eine verläßliche Diagnose zu stellen, inzwischen behoben sind. Dieser Fall liegt also anders als die bereits früher entschiedenen Fälle der Fehldiagnose (BSG 6, 25; 8, 241). Während bei der Fehldiagnose eine Feststellung in Wahrheit nicht bestehender Leiden und der daraus vermeintlich folgenden Erwerbsbeschränkung getroffen worden ist, fehlt bei einer Rentengewährung wegen bloßen Verdachts auf das Vorliegen eines Leidens die positive Feststellung seines Leidens und Erwerbsbeschränkung. Die Rente wird in solchen, allerdings seltenen Fällen vorsorglich gewährt, ohne daß der Versicherungsträger, streng genommen, dazu verpflichtet wäre. Denn die Rente könnte eigentlich nur gewährt werden, wenn der Versicherungsträger davon überzeugt ist, daß ihre Voraussetzungen vorliegen, da auch im Rentenfeststellungsverfahren der Grundsatz der objektiven Beweislast gilt. Wenn es auch zu begrüßen ist, daß in diesen Fällen die Rente bereits bei Vorliegen eines bloßen Krebsverdachts gewährt wird, weil Arbeitsleistungen, falls ein Krebsleiden wirklich vorläge, für den Versicherten schädliche Folgen haben könnten, so bleibt doch, daß eine derartige Rente nur vorsorglich gewährt wird. In solchen Fällen könnte und sollte der Versicherungsträger die Leistung zwar ausdrücklich bis zur endgültigen Klärung des Befundes oder nur für eine befristete Zeit oder unter Vorbehalt des (begründeten) Widerrufs gewähren. Denn wenn eine Leistung über die gesetzliche Verpflichtung hinaus erbracht wird, bestehen keine Bedenken, sie, anders als in den Normalfällen, auch unter den genannten Bedingungen zu gewähren. Der Versicherte kann sich, falls er mit einer nur vorsorglich gewährten Rente nicht einverstanden ist, versuchen im Klagewege die Gewährung einer normalen Rente zu erreichen, falls er sich davon Erfolg verspricht.

Eine solche Einschränkung ist hier zwar nicht ausgesprochen worden. Dennoch konnte auch in diesem Falle, da den Beteiligten von Anfang an klar war, daß die Leistung nur wegen des Verdachtes auf das Vorliegen eines Krebsleidens gewährt worden ist, die Rente entzogen werden. Es darf nämlich nicht verkannt werden, daß § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO nur eine Regelung derjenigen Fälle enthält, bei welchen die Rente wegen des Vorliegens eines Leidens und einer daraus sich ergebenden Erwerbsbeschränkung gewährt worden ist. Denn es wird in dieser Vorschrift auf eine Änderung in den Verhältnissen des Versicherten abgestellt. Unter den "Verhältnissen des Versicherten" sind die objektiven Tatbestände, vor allem also der Gesundheitszustand des Versicherten, zu verstehen. Ähnlich wie § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der eine rechtskräftig gewordene Entscheidung über einen sich aus einem festgestellten Sachverhalt ergebenden Anspruch auf wiederkehrende Leistungen voraussetzt - er dient der Durchbrechung der Rechtskraft - ist auch § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO nur als Korrekturmöglichkeit gegenüber einem entsprechenden bindend gewordenen Rentenbewilligungsbescheid anzusehen. § 1286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 RVO kann also nur auf Fälle angewandt werden, in welchen die Rentenbewilligung wegen des Vorliegens von "Verhältnissen", d.h. wegen des Vorliegens eines Leidens und einer daraus folgenden Erwerbsbeschränkung, erfolgt ist. § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO stellt es ja auch darauf ab, daß der Versicherte nicht "mehr" berufsunfähig ist. Er setzt also voraus, daß der Rentenbewilligungsbescheid wegen des Vorliegens von Berufsunfähigkeit gewährt worden ist. In den Fällen einer nur vorsorglichen Rentengewährung ist aber die Rente nicht wegen Vorliegens von Berufsunfähigkeit gewährt worden, vielmehr ist diese Frage offengelassen worden und die Rente gewährt worden, obwohl nicht feststand, daß Berufsunfähigkeit vorlag. § 1286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 RVO paßt also für Fälle dieser Art nicht. Es wäre also nicht zutreffend, den Rentenentzug in diesen Fällen als rechtswidrig anzusehen, weil eine Änderung in den Verhältnissen nicht eingetreten sei, richtig ist vielmehr, daß § 1286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 RVO solche Fälle überhaupt nicht erfaßt.

Verfehlt wäre allerdings die Annahme, daß in diesen Fällen die Rente mangels einer anwendbaren Entziehungsvorschrift überhaupt nicht entzogen werden könnte. Nach § 77 SGG kann ein bindend gewordener Rentenbewilligungsbescheid zwar nur zurückgenommen werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist. Wenn aber das Gesetz für einzelne Fälle oder bestimmte Gruppen von Fällen überhaupt keine Regelung des Rechts auf Rücknahme eines Verwaltungsaktes getroffen hat und nicht angenommen werden muß, daß die getroffene Regelung bewußt ausschließlicher Natur sein soll, wenn also eine Regelung ersichtlich lückenhaft ist und sich auch ein entsprechendes Gewohnheitsrecht auf sozialrechtlichem Gebiet nicht gebildet hat, müssen die Gerichte diese Gesetzeslücke schließen. Hierbei könnte daran gedacht werden, die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts über die Rücknahme von Verwaltungsakten heranzuziehen. Diese sind zwar nicht als Gesetz und jedenfalls auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts, auf dem sie ja niemals angewandt worden sind, auch nicht als Gewohnheitsrecht anzusehen. Sie könnten aber Bedeutung bei der Ausfüllung einer Gesetzeslücke haben. Soweit es möglich ist, sollte aber zunächst geprüft werden, ob nicht sozialversicherungsrechtliche Verwaltungsverfahrensvorschriften, die die Frage der Rücknahme von Verwaltungsakten in ähnlich gelagerten Fällen regeln, entsprechend angewandt werden können. Hier jedenfalls bot sich der letztere Weg als der diesem Fall angemessenere an, da die Interessenlage eine ähnliche ist wie in den Normalfällen, in welchen die Rente wegen Vorliegens einer Krankheit und einer Erwerbsminderung gewährt wird. Der erkennende Senat hielt es daher für richtig, auf den vorliegenden Fall die Vorschrift des § 1281 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 RVO entsprechend anzuwenden.

Eine entsprechende Anwendung des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO bedeutet aber, daß eine Rentenentziehung zu erfolgen hat, wenn - neben dem Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO - der bei der Rentenfeststellung bestehende Verdacht auf das Vorliegen eines Leidens sich später nicht bestätigt. Dies ist hier der Fall. Der Verdacht auf das Vorliegen eines Krebsleidens ist inzwischen entfallen (im Ergebnis für die Rentenentziehung in diesen Fällen ebenfalls Urteil des RVA vom 25. April 1930 - Deutsche Invalidenversicherung 1930 S. 150; RVO-Gesamtkommentar Anm. 1 zu § 1286, Verbandskomm. 6. Aufl. Anm. 5 zu § 1286; aA Brackmann, Handbuch, S. 724 d mit weiteren Literaturhinweisen). Dieses Ergebnis entspricht auch den praktischen Bedürfnissen. Denn dem Versicherungsträger würde in solchen Fällen sonst kaum zuzumuten sein, vorsorglich eine solche Rente zu gewähren, obwohl dies im Interesse der betroffenen Versicherten dringend erforderlich ist.

Nach § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO muß zwischen der Änderung in den Verhältnissen und dem Umstand, daß keine Erwerbsunfähigkeit (und Berufsunfähigkeit) mehr vorliegt, ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Die in dem Wegfall der Bestrahlungsfolgen liegende Änderung ist für das Nichtmehrbestehen von Erwerbsunfähigkeit (und Berufsunfähigkeit) allein nicht als ursächlich anzusehen, weil allein schon bei Weiterbestehen des Verdachts auf Krebs Erwerbsunfähigkeit vorliegen würde. Denn es entspricht der Praxis der Beklagten schon allein bei Verdacht auf das Vorliegen eines Krebsleidens vorsorglich Rente zu gewähren. Da hier aber auch der Krebsverdacht inzwischen behoben ist, muß angenommen werden, daß das Nichtmehrvorliegen von Erwerbsunfähigkeit (und Berufsunfähigkeit) durch Änderung der die Rentengewährung begründenden Umstände (Krebsverdacht und Bestrahlung) verursacht ist.

Die Rentenentziehung ist somit zu Recht erfolgt. Da kein Anhalt dafür vorliegt, daß die Klägerin zur Zeit der Rentenentziehung und späterhin aus anderen Gründen erwerbsunfähig oder berufsunfähig geworden ist - die neu festgestellten Leiden reichen für eine solche Annahme nicht aus -, ist die Rücknahme des Rentenbewilligungsbescheides, d.h. die Rentenentziehung, rechtmäßig, so daß das angefochtene Urteil zutreffend ist. Die Revision mußte somit als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 295

NJW 1963, 413

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