Entscheidungsstichwort (Thema)
Alterserkrankungen. Nachschaden. MdE. Erhöhung der MdE. Wechselwirkung. Zusammenwirken von Gesundheitsstörungen. Kompensation von Funktionsausfällen
Leitsatz (amtlich)
Wenn Schädigungsfolgen wegen altersbedingter Gesundheitsstörungen schlechter ausgeglichen werden können, ist die schädigungsbedingte MdE nicht höher zu bewerten.
Orientierungssatz
Nachträgliche Gesundheitsstörungen (hier: Hirnarteriosklerose), die in ihrem gesundheitlichen Erscheinungsbild nicht durch Schädigungsfolgen beeinflußt sind, werden dem schädigenden Ereignis nicht zugerechnet, auch wenn sie sich wegen eines verminderten Kompensationsvermögens stärker auswirken. Die MdE wird nicht erhöht.
Normenkette
BVG § 30 Abs 1; SGB 10 § 48 Abs 1
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 26.05.1988; Aktenzeichen L 1/2 V 9/87) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 16.12.1986; Aktenzeichen S 18 V 446/83) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine Erhöhung der schädigungsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 auf 80 vH mit der Begründung, die Folgen einer schädigungsunabhängigen Hirnarteriosklerose seien wegen der anerkannten Hirnverletzung nicht kompensierbar.
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten entsprechend verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die zugelassene Berufung das Urteil im wesentlichen bestätigt (Urteile vom 16. Dezember 1986 und 26. Mai 1988). Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger leide an zwei ineinandergreifende Gesundheitsstörungen. Die als Schädigungsfolge anerkannte schwere substantielle Hirnverletzung mit hirnorganischem Psychosyndrom hindere den Kläger daran, die Auswirkungen einer altersentsprechenden Hirnarteriosklerose durch Einsatz von Willen und Energie im sonst üblichen Rahmen, also gering zu halten. Die Arteriosklerose sei mittelbare Schädigungsfolge; das sei auch dann zu bejahen, wenn ein an sich schädigungsunabhängiges Ereignis bei der Entstehung oder dem Ausmaß der Folgen in rechtserheblicher Weise mitwirke.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er sieht das Urteil im Widerspruch zu der im Versorgungsrecht herrschenden Kausalitätslehre.
Er beantragt,
die angefochtene Entscheidung zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet. Die MdE des Klägers ist nicht gemäß § 48 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) neu festzusetzen, weil die Hirnarteriosklerose keine wesentliche Änderung der schädigungsbedingten MdE bewirkt hat.
Die Arteriosklerose ist nach den Feststellungen des LSG, das sich in vollem Umfang auf ein eingeholtes psychiatrisch/neurologisches Sachverständigengutachten stützt, schicksalhaft und altersbedingt entstanden. Weder gibt es Feststellungen dazu, daß die Therapie der Arteriosklerose durch die Hirnverletzung erschwert worden wäre, noch dazu, daß der tatsächliche Verlauf der neuen Erkrankung durch die Schädigungsfolgen beeinflußt worden wäre. Lediglich vermag der Kläger die durch die neue Gesundheitsstörung hervorgerufene Minderleistung nicht ebenso gut wie ein Gesunder zu kompensieren. Damit hat das LSG keine durch die Schädigungsfolge wesentlich ursächlich beeinflußte Entwicklung des Altersleidens festgestellt, die als mittelbare Schädigungsfolge zu bewerten wäre (vgl Urteil des Senats vom 1. April 1981 - 9 RV 33/80 = Meso B 10/386; vgl auch die vom LSG zitierte Entscheidung in Breithaupt 1977, 340). Das LSG hat auch nicht etwa eine Verschlimmerung der Schädigungsfolgen festgestellt, soweit es sich darauf stützt, daß der Kläger wegen der Schädigungsfolgen mit den Auswirkungen der schädigungsunabhängigen Hirnstörungen und umgekehrt nicht so leicht fertig wird wie ein sonst Hirngesunder. Damit ist nicht eine stärkere, ungewöhnliche Auswirkung des anerkannten Leidens, sondern ein ungewöhnlicher Verlauf des neu hinzugetretenen Leidens umschrieben.
Bei derart nebeneinanderstehenden Gesundheitsstörungen wird die MdE im Sinne des § 30 Abs 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) durch Auswirkungen der schädigungsunabhängigen Krankheit selbst dann nicht erhöht, wenn sich erst durch das Zusammenwirken ungünstigere Auswirkungen bei den Schädigungsfolgen zeigen. Nachträgliche Gesundheitsstörungen, die in ihrem gesundheitlichen Erscheinungsbild nicht durch die Schädigungsfolgen beeinflußt sind, die vielmehr mit der Schädigung nur über ihre Auswirkungen auf die MdE verbunden sind, werden dem schädigenden Ereignis nicht zugerechnet. Dies ist in der Rechtsprechung in aller Deutlichkeit an dem schädigungsbedingten Verlust eines ersten von zwei paarigen Organen und einem schädigungsunabhängigen nachfolgenden Verlust des zweiten Organs entwickelt worden. Für die Beurteilung der wehrdienstbedingten Schädigungsfolgen und des Grades, um den die Erwerbsfähigkeit in Verbindung mit diesen Folgen gemindert ist, ist auf diejenigen Gegebenheiten abzustellen, welche bei Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden haben (BSGE 17, 99; 17, 114; 19, 201; 23, 188; 27, 142; 41, 70 = SozR 3100 § 30 Nr 11; BSGE 47, 123 = SozR 3100 § 89 Nr 7). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten, zumal sie sich in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit gegenteiligen Auffassungen in der Literatur entwickelt hat (insbesondere BSGE 41, 70, 72 ff); sie dient einer Haftungsbeschränkung und schließt die Einbeziehung des allgemeinen Risikos der Altersveränderungen, der Verschleißerscheinungen und der sonstigen späteren Unfälle und Gesundheitsstörungen aus dem Entschädigungstatbestand aus.
Vermeintliche Härten dieser Rechtsprechung werden vielfältig gemildert: Es ist bekannt, daß die Aufgabenergänzung durch den gesunden Körper stets auch von individuellen Besonderheiten abhängig ist und je nach der Lebensentwicklung besser oder schlechter gelingt (so auch BSGE 41, 70, 75). Die regelmäßig stärkere Auswirkung der Schädigungsfolgen im Alter infolge von schädigungsunabhängigen Altersschwächen und -leiden wird schon vom Gesetzgeber durch die Beibehaltung des MdE-Grades unter Anerkennung eines besonderen beruflichen Betroffenseins selbst nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (vgl BSGE 55, 292 = BSG SozR 1300 § 48 Nr 6) sowie durch den Alterszuschlag des § 31 Abs 1 Satz 2 BVG ausgeglichen. Die MdE, die nach den Schädigungsfolgen zur Zeit der Schädigung bemessen wird, ist insoweit vor einer Herabsetzung wegen nachträglicher schädigungsunabhängiger Einwirkungen auf die Leistungsfähigkeit, insbesondere durch das Alter, bewahrt. Die am allgemeinen Erwerbsleben gemessene MdE (§ 30 Abs 1 BVG) bleibt einschließlich des Zuschlags für die besondere berufliche Betroffenheit (§ 30 Abs 2 BVG) als Berechnungsfaktor für die Grundrente erhalten.
Bei anderen Leistungen werden sogar nachträglich hinzutretende schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen mitberücksichtigt. Das gilt für die Pflegezulage, solange die Schädigungsfolgen im Zusammenwirken mit veränderten schädigungsunabhängigen Umständen noch annähernd gleichwertig die gesteigerte Hilflosigkeit verursachen (vgl BSGE 41, 80 = BSG SozR 3100 § 35 Nr 2; abgrenzend BSGE 48, 248 = SozR 1300 § 35 Nr 11). Auch Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs 3 BVG ist schon dann zu gewähren, wenn erst im Zusammenwirken von Schädigungsfolgen mit nach der Schädigung aufgetretenen schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen der vom Gesetz vorausgesetzte Einkommensverlust verursacht wird und die Schädigungsfolgen wenigstens wesentliche Mitursache sind (vgl BSGE 37, 80 = SozR 3100 § 30 Nr 1; vgl auch SozR 3100 § 30 Nr 19 mit der hier nicht bedeutsamen Abweichung in BSGE 45, 227 = SozR 3100 § 30 Nr 33), wobei insbesondere das altersbedingte Ausscheiden und die hierdurch verursachten Einbußen gemäß § 30 Abs 6 BVG grundsätzlich nicht als Nachschaden gelten (vgl hierzu insbesondere BSGE 56, 121, 122 f = BSG SozR 3100 § 30 Nr 60).
Da die schädigungsunabhängige Arteriosklerose eine Höherbewertung der MdE beim Kläger nicht rechtfertigt, war die Klage entgegen der Entscheidung der Vorinstanzen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen