Leitsatz (amtlich)
1. Für die Prüfung, ob die Berufung zulässig ist, kommt es regelmäßig auf den Zeitpunkt ihrer Einlegung an.
2. Betrifft die Berufung bei der Einlegung eine zeitlich nicht begrenzte Waisenrente (über das 18. Lebensjahr hinaus), so wird sie nicht deshalb unzulässig, weil der Berufungskläger im Laufe des Berufungsverfahrens heiratet und danach die Waisenrente nur noch bis zum Ablauf des Heiratsmonats beansprucht.
Leitsatz (redaktionell)
Prozeßanträge, die nur den rechtlichen Folgen eines außerprozessualen, sich nicht unmittelbar auf den Klageanspruch beziehenden Ereignisses Rechnung tragen, machen die einmal zulässig eingelegte Berufung nicht unstatthaft.
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25; AVG § 44 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Mai 1961 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger (geb. 1938) war Beamtenanwärter bei der Bayerischen Bereitschaftspolizei. Er beantragte, ihm die Waisenrente aus der Angestelltenversicherung über das 18. Lebensjahr hinaus zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil der Dienst bei der Bereitschaftspolizei keine Berufsausbildung im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) sei (Bescheid vom 1.8.1957). Das Sozialgericht (SG) Nürnberg wies die Klage mit der gleichen Begründung ab (Urteil vom 9.10.1958). Der Kläger - damals noch gesetzlich vertreten durch das Kreisjugendamt - legte am 3. November 1958 Berufung ein. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) am 30. Mai 1961 teilte er mit, daß er am 12. August 1960 geheiratet habe. Er beantragte nur noch, ihm die Waisenrente vom 1. Januar 1957 bis 31. August 1960 (Ablauf des Heiratsmonats) zu gewähren. Das LSG verwarf die Berufung als unzulässig, weil sie im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume (§ 146 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) betroffen habe, das SG die Berufung nicht zugelassen habe und ein wesentlicher Mangel des Verfahrens weder gerügt noch sonst ersichtlich sei. Die Berufung sei zwar, als sie eingelegt wurde, zulässig gewesen. Bei der Anwendung des § 146 SGG seien aber die bis zur mündlichen Verhandlung eingetretenen tatsächlichen Änderungen zu berücksichtigen. Maßgeblich für die Beurteilung der Zulässigkeit der Berufung sei der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung. - Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 30.5.1961).
Der Kläger legte Revision ein mit dem Antrag, ihm über das 18. Lebensjahr hinaus Waisenrente zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Er rügte, das LSG habe § 146 SGG falsch ausgelegt und zu Unrecht ein Prozeßurteil statt eines Sachurteils erlassen. Nach dem Wortlaut und Sinn des § 146 SGG sei für die Frage, ob die Berufung statthaft sei, der Zeitpunkt ihrer Einlegung maßgeblich. Sein Anspruch auf die Waisenrente sei bis zu seiner Heirat begründet; die Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei sei Berufsausbildung im Sinne des Gesetzes.
Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist zulässig und begründet; das LSG hätte, wie der Kläger mit Recht rügt, in der Sache entscheiden müssen. Es hat richtig erkannt, daß die Berufung, als sie am 3. November 1958 eingelegt wurde, zulässig gewesen ist. Damals galt § 146 SGG schon in der Fassung des Zweiten Änderungsgesetzes vom 25. Juni 1958 (BGBl I 409). Danach ist in Angelegenheiten der Rentenversicherung die Berufung nicht zulässig, soweit sie Beginn oder Ende der Rente oder nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Keiner dieser Ausschlußgründe lag vor; die Berufung des Klägers war von Anfang an auf Zahlung einer laufenden, d. h. zeitlich nicht begrenzten Waisenrente gerichtet (die nach dem Gesetz allerdings längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt werden kann). Dadurch, daß der Kläger in der 2 1/2 Jahre später stattfindenden mündlichen Verhandlung vor dem LSG den Rentenanspruch auf einen zu dieser Zeit abgelaufenen Zeitraum beschränkt hat, ist das Rechtsmittel nicht unzulässig geworden.
Der Meinung des LSG, für die Zulässigkeit der Berufung nach § 146 SGG komme es auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht an, die bis zu diesem Zeitpunkt eingetretenen tatsächlichen Änderungen müßten berücksichtigt werden, konnte der Senat nicht folgen. Wäre diese Meinung richtig, würde sie in Rentenstreitsachen stets den Ausschluß der Berufung nach § 146 SGG zur Folge haben, wenn im Verlauf des Berufungsverfahrens der Berufungskläger zum Beispiel verstorben ist oder als Waise das 25. Lebensjahr vollendet hat. Die Zulässigkeit der Berufung hinge in solchen Fällen letztlich von dem Zeitpunkt ab, in dem die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht stattfindet; der Berufungskläger würde Gefahr laufen, daß sein Rechtsmittel nachträglich ohne sein Zutun unzulässig wird. Eine weitere unangemessene Folge dieser Rechtsmeinung bestünde darin, daß bei Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung das SG die Berufung nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zulassen könnte, weil es die im Laufe des Berufungsverfahrens eintretenden Änderungen im Sachverhalt nicht voraussehen kann. Im sozialgerichtlichen Verfahren kann es daher für die Prüfung, ob die Berufung zulässig ist, im allgemeinen nicht auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht ankommen. Es gilt hier nichts anderes als im Zivilprozeß. Die neuere Rechtsprechung der Zivilgerichte zu §§ 511 a und 546 der Zivilprozeßordnung (ZPO) hält vor allem mit Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse für die Zulässigkeit des Rechtsmittels regelmäßig den Zeitpunkt seiner Einlegung für maßgebend (RGZ 168, 355; BGHZ 1, 29 = NJW 1951, 195; BAG 3, 265 = NJW 1957, 478; BGH in LM § 546 ZPO Nr. 8). Sind die Voraussetzungen, unter denen das Gesetz die Einlegung des Rechtsmittels zuläßt, im Zeitpunkt der Einlegung erfüllt und ist in dieser Weise das Rechtsmittelgericht mit der Sache befaßt worden, so muß der allgemeine Gedanke der Entlastung des Rechtsmittelgerichts vor den Interessen des Rechtsmittelklägers zurücktreten; die Rechtsstellung, die er mit der zulässigen Einlegung des Rechtsmittels im Prozeß erlangt hat, kann er nicht ohne sein maßgebliches Zutun verlieren (RGZ aaO). Daß sich die von den Zivilgerichten aufgestellten Grundsätze auf die Prüfung der Zulässigkeit des Rechtsmittels beziehen, soweit sie von dem Erreichen der Rechtsmittelsumme abhängig ist, steht ihrer entsprechenden Anwendung auch im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entgegen. Hier ist zwar - außer in den Fällen des § 149 SGG - die Zulässigkeit der Berufung nicht von der Höhe eines Beschwerdewertes abhängig, sondern nach anderen Gesichtspunkten geregelt. Es sprechen aber auch bei dieser Regelung die von den Zivilgerichten herausgestellten und im sozialgerichtlichen Verfahren nicht weniger wichtigen rechtlichen und praktischen Erwägungen dafür, den Zeitpunkt der Berufungseinlegung als in der Regel maßgeblich für die Zulässigkeit der Berufung anzusehen. In diesem Sinne hat das Bundessozialgericht schon wiederholt entschieden (vgl. SozR SGG § 146 Bl. Da 3 Nr. 6, Da 4 Nr. 8 und 9; BSG 16, 134, 135). Hieran ist entgegen der Meinung des LSG festzuhalten. Ist die Berufung zur Zeit ihrer Einlegung zulässig, so kann eine spätere Beschränkung des Berufungsantrags, die so weit geht, daß nunmehr ein Berufungsausschlußgrund gegeben wäre, die Zulässigkeit der Berufung in der Regel nicht mehr beeinflussen. Eine Ausnahme gilt nach der Rechtsprechung (vgl. RGZ aaO) nur für den Fall, daß die spätere Einschränkung des Berufungsantrags "willkürlich" erfolgt, d. h. nicht durch eine Veränderung im Beschwerdegegenstand selbst veranlaßt ist. Die Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der Berufung dürfen nicht umgangen werden, ein Rechtsmittelkläger, der seine Beschwer erst später freiwillig vermindert, soll nicht günstiger behandelt werden als ein Beteiligter, der das Rechtsmittel schon bei der Einlegung beschränkt.
Von einer willkürlichen Umgehung der Rechtsmittelgrenzen kann aber im Falle des Klägers keine Rede sein. Mit der Heirat im August 1960 - einem außerprozessualen Verhalten, das sich nicht unmittelbar auf den Klageanspruch bezog - hat er aufgehört, nach dem Gesetz anspruchsberechtigte Waise zu sein (§ 44 Abs. 1 Satz 2 AVL). Diese Rechtsfolge lag außerhalb seines Willens. Wenn er ihr im Prozeß Rechnung getragen und den Waisenrentenanspruch in der Berufungsverhandlung einsichtigerweise für die Zeit bis zum Ablauf des Heiratsmonats - und damit auf einen bereits abgelaufenen Zeitraum - beschränkt hat, so hat er damit den Beschwerdegegenstand nicht willkürlich vermindert. An der Zulässigkeit der Berufung hat sich dadurch nichts geändert. Prozeßanträge, die nur den rechtlichen Folgen eines außerprozessualen, sich nicht unmittelbar auf den Klageanspruch beziehenden Ereignisses - wie hier der Heirat des Klägers - Rechnung tragen, machen die einmal zulässig eingelegte Berufung nicht unstatthaft. Das von der gegenteiligen Rechtsauffassung ausgehende Urteil des LSG muß daher aufgehoben werden.
Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil das angefochtene Urteil keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen über die Tätigkeit enthält, die der Kläger als Berufsausbildung angesehen wissen will. Sie zu treffen hatte das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus keinen Anlaß. Das LSG muß dies nunmehr in einer neuen Verhandlung nachholen. Zu diesem Zweck wird der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Bei der neuen Verhandlung wird das LSG auch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.
Fundstellen
NJW 1964, 691 |
MDR 1964, 358 |