Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Bizepssehnenriß. Gelegenheitsursache. haftungsausfüllende Kausalität
Orientierungssatz
1. Zur Frage, ob ein Bizepssehnenriß wesentlich dadurch mit verursacht worden ist, daß dem Versicherten ein schwerer Gegenstand beim Anheben entglitt und er sich beim Nachfassen den rechten Arm verdrehte.
2. Für den Fall, daß die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ob die Krankheitsanlage so stark und so leicht ansprechbar war, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen keiner besonderen, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern daß jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte, müssen die konkurrierenden Ursachen zunächst sicher feststehen. Ebenso wie die betriebsbedingten Ursachen müssen auch die körpereigenen Ursachen erwiesen sein. Nur im Hinblick auf ihre jeweilige Beziehung zum Erfolg reicht das Vorliegen der Wahrscheinlichkeit aus (vgl BSG vom 29.3.1984 2 RU 21/83 = HV-INFO 1986, 647 bis 651); kann eine Ursache dagegen nicht sicher festgestellt werden, stellt sich nicht einmal die Frage ob sie im konkreten Einzelfall auch nur als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn in Betracht zu ziehen ist (vgl BSG vom 20.1.1987 2 RU 27/86 = BSGE 61, 127 ff, 130).
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.11.1988; Aktenzeichen L 5 U 138/86) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 10.09.1986; Aktenzeichen S 2 (4, 17) U 51/82) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die bei dem Kläger bestehende Bizepssehnenruptur Folge eines Arbeitsunfalles ist.
Der Kläger zog sich am 11. April 1981 eine Ruptur der langen Bizepssehne am rechten Oberarm zu, als er bei seiner Tätigkeit als Hausmeister ein 60 bis 80 kg schweres Schachtgitter anheben wollte, ihm dieses entglitt und er sich beim Nachfassen mit der rechten Hand den Arm verdrehte. Gestützt auf ein Gutachten des Chirurgen Dr. F. vom 14. Dezember 1981 lehnte es die Beklagte mit Bescheid vom 24. Februar 1982 ab, dem Kläger eine Entschädigung zu gewähren: Die Ruptur der langen Bizepssehne sei nur in seltenen Fällen traumatischen Ursprungs und sei auch im vorliegenden Fall auf degenerative Verschleißerscheinungen der Sehne zurückzuführen.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) den Orthopäden Dr. K. als Sachverständigen gehört, der in seinem durch eine weitere Stellungnahme ergänzten Gutachten vom 14. Februar 1984 zu dem Ergebnis gelangt ist, der Vorfall vom 11. April 1981 sei nur als sogenannte Gelegenheitsursache zu werten. Zum einen habe nämlich keine außergewöhnliche Kraftanstrengung vorgelegen und zum anderen könne eine Sehne - ohne gleichzeitige Muskelverletzung - nur reißen, wenn irgendwelche Vorschäden vorhanden seien. Der behandelnde Arzt des Klägers, der Neurologe und Psychiater Dr. B. , hat dem SG mitgeteilt, das Ereignis vom 11. April 1981 sei Anlaß, nicht aber Ursache des Sehnenrisses gewesen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. September 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat weiter Beweis erhoben ua durch Anhörung des Sachverständigen Dr. M. und Einholung eines Gutachtens nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Prof. Dr. P. . Dr. M. ist am 5. Mai 1987 zu dem Ergebnis gelangt, der Arbeitsvorgang sei lediglich als Gelegenheitsursache zu bewerten. Bei dieser Auffassung ist er auch in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 24. Juni 1988 verblieben, in der er insbesondere unter Bezugnahme auf die Darlegungen in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 3. Aufl, Seiten 376 bis 379, ausgeführt hat, unfallbedingte Sehnenrupturen seien äußerst selten; lediglich Verletzungsmechanismen, bei denen die Bizepsmuskulatur maximal angespannt werde - wie zB beim Abfangen eines Sturzes -, könnten zu Spontanrupturen führen. Dagegen seien häufiger geschilderte Vorgänge wie das sogenannte "Verheben" nicht geeignet, eine unfallbedingte Sehnenruptur hervorzurufen. Prof. Dr. P. hat in seinem Gutachten vom 21. August 1987 dagegen die Meinung vertreten, auch eine völlig gesunde Bizepssehne könne bei plötzlicher Gewaltanstrengung reißen. Hier jedenfalls sei die Gewalteinwirkung von den Vorgutachtern hochgradig "heruntergespielt" worden. Zu beachten sei in diesem Zusammenhang auch, daß Tätigkeiten der vorliegenden Art nach den Unfallverhütungsvorschriften nur mit Winde, Hebel oder ähnlichen Hilfseinrichtungen ausgeführt werden dürfen.
Das LSG hat das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 1982 aufgehoben und festgestellt, daß der am 11. April 1981 erlittene Bizepssehnenabriß Folge eines Arbeitsunfalles sei (Urteil vom 8. November 1988). Zur Begründung hat es ausgeführt, daß es bei dem Arbeitsvorgang mit Wahrscheinlichkeit zu einer im Rechtssinne wesentlichen Einwirkung auf die Sehne gekommen sei. Für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs sei die Kenntnis des konkreten Unfallmechanismus einerseits und des Ausmaßes der Vorschädigung andererseits von entscheidender Bedeutung. Hier seien bei dem Arbeitsvorgang erhebliche Kräfte wirksam geworden, die mit denen vergleichbar seien, die von Schönberger/Mehrtens/Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 4. Aufl, S 405) als geeignete indirekte Verletzungsmechanismen beschrieben würden. Diese neueren unfallmedizinischen Erkenntnisse habe Dr. M. , der sich in seiner ergänzenden Stellungnahme noch auf die Ausführungen in der 3. Auflage des oben genannten Werkes bezogen habe, nicht berücksichtigt. Demgegenüber ließen sich keine sicheren Feststellungen über das Ausmaß der degenerativen Sehnenveränderungen treffen. Die bloße Möglichkeit einer gravierenden Vorschädigung schließe die Wahrscheinlichkeit des auf der betrieblichen Ursache beruhenden Zusammenhangs nicht aus. Das LSG hat die Revision wegen der für grundsätzlich bedeutsam erachteten Frage der Beweislastverteilung zugelassen.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm und der Grundsätze über die Beweislastverteilung. Im vorliegenden Fall sei das Unfallereignis für das Entstehen der Sehnenruptur nur als Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, nicht aber als wesentliche Bedingung im Rechtssinne anzusehen; denn im Hinblick auf die Vorschädigung der oberen Bizepssehne hätte das LSG dem Unfallereignis nicht die Bedeutung einer wesentlichen Mitursache beimessen dürfen. Die Auffassung des LSG wäre nur dann richtig, wenn es auch ohne Vorschädigung - bei gesunder Sehne - zu dem gleichen Körperschaden gekommen wäre. Ein Unfallereignis sei nicht schon deshalb wesentliche Bedingung für die Entstehung eines Körperschadens, weil es stärker als ein anderes, alltäglich vorkommendes Ereignis sei. Entscheidend sei insoweit vielmehr das Ausmaß der Vorschädigung. Bei Nichtfeststellbarkeit dieses Ausmaßes hätte das LSG den erforderlichen Kausalzusammenhang nach den Regeln der objektiven Beweislast verneinen müssen. Im übrigen handele es sich in erster Linie aber nicht um eine Frage der Beweislastverteilung, sondern um eine Frage der objektiv richtigen Auswertung der Sachverständigengutachten. Diesbezüglich habe das LSG seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, sondern die entscheidungserheblichen medizinischen Zusammenhänge unter Verstoß gegen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG in einer Weise "zurechtgebogen", die dem Inhalt der Gutachten nicht entsprächen. Wenn das LSG Zweifel daran gehabt habe, ob den Sachverständigen Dres. F. , K. und M. der Begriff der Gelegenheitsursache inhaltlich geläufig gewesen sei, wäre es verpflichtet gewesen, Dr. M. unter Hinweis auf diese Bedenken noch einmal zu hören. Dies habe das LSG unter Verletzung des § 103 SGG unterlassen. Schließlich habe es das LSG verfahrensfehlerhaft versäumt, seine "besseren" medizinischen Erkenntnisse in das Gerichtsverfahren einzuführen (§ 128 Abs 2 SGG). Es habe auch nicht aufgezeigt, daß und welche wesentlichen Unterschiede zwischen der 3. und 4. Auflage des Standardwerkes von Schönberger ua bestehe und daß die von Dr. M. vertretene Auffassung als "veraltet" anzusehen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. November 1988 zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 10. September 1986 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet, weil der am 11. April 1981 erlittene Bizepssehnenabriß Folge eines Arbeitsunfalles ist.
Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Nach den nichtangegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat der Kläger den Bizepssehnenabriß erlitten, als er bei seiner Tätigkeit als Hausmeister (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) ein 60 bis 80 kg schweres Schachtgitter mit beiden Händen anheben wollte, ihm dieses entglitt und er es - allein mit der rechten Hand nachfassend - wieder abzufangen versuchte. Entgegen der Meinung der Revision ist das LSG in rechtlich zutreffender Weise zu dem Ergebnis gelangt, diese unfallbringende Tätigkeit habe eine rechtlich wesentliche Ursache dargestellt, während sich eine gravierende körpereigene Ursache nicht habe feststellen lassen.
Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, daß das Unfallereignis in kausaler Konkurrenz mit einer bei dem Kläger vorhandenen Krankheitsanlage den Körperschaden herbeigeführt hat. Ob das Unfallereignis die Entstehung des Körperschadens im Sinne der in der Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre den Körperschaden mitverursacht hat, richtet sich in derartigen Fällen danach, ob das Unfallereignis eine wesentliche Bedingung für das Entstehen des Körperschadens oder die Krankheitsanlage von überragender Bedeutung und damit die alleinige Ursache waren. Das Vorhandensein einer Anlage schließt hiernach allein nicht aus, den Körperschaden als durch das Unfallereignis mitverursacht anzusehen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist für den Fall, daß die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, vielmehr darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark und so leicht ansprechbar war, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen keiner besonderen, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern daß jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 11. Aufl, S 488s mit zahlreichen Rechtsprechungshinweisen). Um diese wertende Gegenüberstellung vornehmen zu können, müssen die konkurrierenden Ursachen zunächst sicher feststehen. Ebenso wie die betriebsbedingten Ursachen müssen auch die körpereigenen Ursachen erwiesen sein. Nur im Hinblick auf ihre jeweilige Beziehung zum Erfolg reicht das Vorliegen der Wahrscheinlichkeit aus (vgl Urteile des Senats vom 29. Februar 1984 - 2 RU 24/83 - und 29. März 1984 - 2 RU 21/83 -, HV-INFO 1986, 647 bis 651); kann eine Ursache dagegen nicht sicher festgestellt werden, stellt sich nicht einmal die Frage, ob sie im konkreten Einzelfall auch nur als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn in Betracht zu ziehen ist (vgl BSGE 61, 127 ff, 130).
Im vorliegenden Fall ist die betriebliche Ursache - eine erhebliche, auf die Bizepssehne wirkende Kraft als geeigneter indirekter Unfallmechanismus für den Riß der Bizepssehne - nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG erwiesen, während die Vorschädigung als innere Ursache wegen der natürlichen Gegebenheiten nur in Umrissen, aber nicht dem genauen Ausmaß und dem genauen Gewicht seiner ursächlichen Bedeutung nach festgestellt werden konnte. Zu Recht hat das LSG deshalb der nachgewiesenen äußeren Einwirkung lediglich eine leichtere Vorschädigung gegenübergestellt und eine gravierende, den Riß überwiegend herbeiführende Vorschädigung - als bloße Möglichkeit - nicht in die Kausalitätsprüfung einbezogen.
Ist es aber wahrscheinlich, daß die erwiesene äußere Einwirkung den Körperschaden zumindest wesentlich mitverursacht hat, so stellt sich die Frage der Beweislastverteilung nicht; denn die anspruchsbegründenden Tatsachen des § 548 Abs 1 RVO sind damit festgestellt. Davon geht letztlich auch die Revision aus, die meint, die Entscheidung beruhe im wesentlichen auf einer unzutreffenden Beweiswürdigung durch das LSG. Die insofern vorgebrachten Verfahrensrügen, auch soweit sie eine Verletzung der Amtsermittlungspflichten betreffen, hält der Senat nicht für durchgreifend, ohne daß es einer näheren Begründung bedarf (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG). Auch die weitere Rüge, das LSG habe § 128 Abs 2 SGG verletzt, indem es seine "besseren" medizinischen Erkenntnisse nicht in den Prozeß eingeführt habe, ist nicht begründet. Das LSG ist unter kritischer Auswertung der Gutachten von Dr. F. , Dr. K. , Dr. M. und Prof. Dr. P. , insbesondere mit Blick auf den festgestellten Unfallhergang, zu dem Ergebnis gelangt, die obere rechte Bizepssehne habe auch ohne stärkere Vorschädigung reißen können, weil ein "geeigneter indirekter Verletzungsmechanismus" vorgelegen habe. Die bei der unfallbringenden Tätigkeit aufgetretene Krafteinwirkung sei mit jener vergleichbar, die bei dem Abfangen eines Sturzes, einer schweren Last oder bei ähnlichen Vorgängen auftreten würde, und die in der 4. Auflage des Werkes von Schönberger/Mehrtens/Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, S 405) als ausreichend beschrieben werde, um eine - nicht erheblich vorgeschädigte - Bizepssehne zu zerreißen. Diese "neueren unfallmedizinischen Erkenntnisse" habe insbesondere Dr. M. nicht berücksichtigt, der sich in seiner ergänzenden Stellungnahme noch auf die Ausführungen in der 3. Auflage des oben genannten Werkes bezogen habe.
Bei dieser Urteilsbegründung hat sich das LSG nicht auf Tatsachen gestützt, zu denen sich die Beteiligten nicht hatten äußern können (§ 128 Abs 2 SGG). Abgesehen davon, daß - entgegen der Auffassung der Revision - ein Gericht die Beteiligten grundsätzlich nicht darauf hinweisen muß, wenn es "neuere medizinische Werke verwerten" will, sind bereits in der von Dr. M. zitierten 3. Auflage des genannten Werkes ähnliche Ereignisse (S 379: Heben eines Torflügels, Abfangen eines Sturzes, Reißleinenverletzung bei Fallschirmspringern) im Gegensatz zu den alltäglichen Kraftentfaltungen als geeignete indirekte Unfallmechanismen beschrieben worden. Diese haben in der 4. Auflage lediglich durch zwei weitere Beispielsfälle (Abfangen einer schweren Last, Anheben einer in ihrem Gewicht falsch eingeschätzten Last) eine Ergänzung erfahren, so daß nicht von neuen medizinischen Erkenntnissen im Sinne einer geänderten medizinischen Lehrmeinung gesprochen werden kann. Unabhängig hiervon behauptet die Revision selbst nicht, daß die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn das LSG die erwähnten Beispielsfälle zuvor in das Verfahren eingeführt hätte.
Die Revision der Beklagten ist daher unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen