Orientierungssatz
Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt vor, wenn das Gericht bei einer Feststellungsklage das Feststellungsinteresse verneint, obwohl es eine Sachentscheidung hätte treffen müssen (vgl BSG 1960-02-26 3 RJ 148/57 = SozR Nr 23 zu § 55 SGG). Die Annahme des Berufungsgerichts, daß kein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung bestehe, weil die "Reizleitungsstörung des Herzens" keine MdE bedinge und eine Verschlimmerung dieses Leidens nicht zu erwarten sei, ist unzutreffend. Für die begehrte Anerkennung besteht schon dann das für eine Feststellungsklage erforderliche Feststellungsinteresse, wenn für die als Schädigungsfolge anzuerkennende Gesundheitsstörung Heilbehandlung beansprucht werden kann.
Normenkette
SGG § 55
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 21.04.1960) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. April 1960 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1914 geborene Kläger leistete von Oktober 1936 bis April 1945 Wehrdienst und befand sich anschließend bis Dezember 1946 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Er erhielt nach dem Hessischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. wegen ausgedehnter Narben an beiden Oberschenkeln mit Schwäche im linken Bein und Neigung zum Anschwellen des linken Unterschenkels, Bewegungseinschränkung im dritten Finger links und zweiten Finger rechts, Verdickung der Rückenmuskulatur beiderseits in der Brust-Lendengegend mit Beschwerden, Narben an mehreren Fingern beider Hände sowie wegen Restfolgen nach Eiweißmangelschaden mit Kreislaufschwäche und Durchblutungsstörung an Händen und Füßen (Bescheid vom 30. Oktober 1948 und Benachrichtigung vom 18. Februar 1950). Durch Umanerkennungsbescheid vom 7. Mai 1951 gewährte das Versorgungsamt (VersorgA) Rente unter im wesentlichen gleicher Übernahme der anerkannten Schädigungsfolgen nach dem gleichen MdE-Grad auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Nach versorgungsärztlicher Untersuchung des Klägers am 21. September 1955 durch den Facharzt für innere Krankheiten, Regierungsmedizinalrat Dr. W..., stellte das VersorA die Versorgungsbezüge mit Bescheid vom 26. September 1955 gemäß § 62 Abs. 1 BVG neu fest. Es erkannte die Restfolgen nach Eiweißmangelschaden mit Kreislaufschwäche und Durchblutungsstörung an Händen und Füßen nicht mehr als Schädigungsfolge an, weil diese Gesundheitsstörungen inzwischen behoben und die vorhandenen nervösen Regulationsstörungen weder auf den Wehrdienst noch auf die Kriegsgefangenschaft zurückzuführen seien. Wegen der übrigen auch schon früher anerkannten Schädigungsfolgen gewährte das VersorgA ab 1. November 1955 nur noch eine Rente nach einer MdE um 40 v.H. . Eine Erhöhung dieser MdE gemäß § 30 BVG wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins wurde durch den ergänzenden Bescheid vom 14. Dezember 1955 abgelehnt, weil die Beschäftigung des Klägers als Postangestellter bei einer Vergütung nach TOA VII dem vor der Wehrdienstleistung ausgeübten Beruf gleichwertig sei. Der gegen den Neufeststellungsbescheid vom 26. September 1955 und der gegen den Ablehnungsbescheid vom 14. Dezember 1955 eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg. Die Klage wies das Sozialgericht (SG) Darmstadt mit Urteil vom 6. Juni 1957 ab.
Im Verfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) beantragte der Kläger, über den 31. Oktober 1955 hinaus "Reizleitungsstörung des Herzens und Durchblutungsstörungen des linken Beines" als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren, hilfsweise festzustellen, daß Reizleitungsstörungen des Herzens und Durchblutungsstörungen am linken Bein Schädigungsfolgen sind. Das LSG wies durch Urteil vom 21. April 1960 die Berufung zurück. Es führte aus, daß in den dem Umanerkennungsbescheid vom 7. Mai 1951 zugrunde liegenden Verhältnissen eine wesentliche Besserung eingetreten sei. Restfolgen eines Eiweißmangelschadens und die daraus resultierende Kreislaufschwäche seien nicht mehr nachweisbar. Durch das Gutachten der medizinischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten Darmstadt sei außerdem nachgewiesen, daß an den Händen und Füßen keine Durchblutungsstörungen mehr bestehen. Die vom Kläger begehrte Anerkennung von venösen Durchblutungsstörungen und dadurch bedingter Anschwellungen des linken Unterschenkels sei nicht gerechtfertigt, weil dieser Körperschaden von der als Schädigungsfolge im Neufeststellungsbescheid bezeichneten "Neigung zu Anschwellungen des linken Unterschenkels" miterfaßt werde. Wegen der anerkannten Schädigungsfolgen stehe dem Kläger nur eine Rente nach einer MdE um 40 v.H. zu. Er sei auch nicht besonders beruflich betroffen, weil er durch seinen Berufswechsel keinen wirtschaftlichen Nachteil erlitten habe. In seinem jetzigen Beruf als Postsekretär befinde er sich in wirtschaftlichen Verhältnissen, die denen eines Weißbinderfachvorarbeiters entsprechen. Soweit der Kläger hilfsweise beantragt habe, die bei ihm diagnostizierten Reizleitungsstörungen als Schädigungsfolge anzuerkennen, sei die Klage abzuweisen, weil er ein Interesse an alsbaldiger Feststellung des geltend gemachten Versorgungsleidens nicht habe. Durch die Reizleitungsstörungen werde keine meßbare MdE hervorgerufen. Auch sei eine Verschlimmerung dieses Leidens zukünftig nicht zu erwarten. Das LSG ließ die Revision nicht zu.
Mit der Revision beantragt der Kläger,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. April 1960 und das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 6. Juni 1957 sowie die Bescheide vom 26. September 1955 und 14. Dezember 1955 und den Widerspruchsbescheid vom 20. März 1956 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, über den 31. Oktober 1955 hinaus "Reizleitungsstörung des Herzens und funktionelle Durchblutungsstörung des linken Beines" als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren.
Die Revision beanstandet zunächst, daß die vom Berufungsgericht getroffene und auf das Gutachten der Medizinischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten Darmstadt gestützte Feststellung, an den Händen und Füßen seien keine Durchblutungsstörungen mehr vorhanden, im Widerspruch zu den in diesem Gutachten gemachten Angaben stehe. Zwar habe das LSG in den Gründen seiner Entscheidung auch ausgeführt, daß die venösen Durchblutungsstörungen und die dadurch bedingte Anschwellung des linken Unterschenkels nicht anerkannt werden könnten, weil diese Gesundheitsstörungen schon durch die Bezeichnung "Neigung zur Anschwellung des linken Unterschenkels" miterfaßt werden. Aber selbst dann, wenn das LSG von bestehenden Durchblutungsstörungen am linken Bein ausgegangen sei, habe das LSG gegen wesentliche Verfahrensvorschriften verstoßen. Das Gutachten der Medizinischen Klinik spreche nämlich von einer venösen Abflußbehinderung, durch die der linke Fuß kälter als der rechte werde, und gehe daher über die als Schädigungsfolge anerkannte "Neigung zur Anschwellung des linken Unterschenkels" hinaus. Das LSG hätte die Feststellungen im Gutachten übernehmen oder ein Obergutachten einholen müssen. Darüber hinaus leide das Verfahren des Berufungsgerichts aber auch insoweit an einem wesentlichen Mangel, als das LSG die erhobene Feststellungsklage auf Anerkennung der Reizleitungsstörung des Herzens wegen fehlenden Feststellungsinteresses abgewiesen habe. Die Annahme des LSG, bei einer durch dieses Leiden nicht geminderten Erwerbsfähigkeit und bei einer nicht zu erwartenden Verschlimmerung dieser Gesundheitsstörung werde das rechtliche Interesse an einer alsbaldigen Feststellung ausgeschlossen, sei unzutreffend. Ein Feststellungsinteresse bestehe schon deshalb, weil für dieses Leiden eine Heilbehandlung in Frage kommen könne. Das LSG habe auch die Möglichkeit einer künftigen Verschlimmerung der Reizleitungsstörung des Herzens nicht verneinen dürfen, weil es nach den Erkenntnissen der Wissenschaft nicht angängig sei, eine Verschlechterung dieses Leidens von vornherein auszuschließen. Auch soweit das Vordergericht eine Höherbewertung der MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins abgelehnt habe, liege eine wesentliche Verfahrensverletzung vor. Das angefochtene Urteil enthalte keine Begründung, weshalb der Kläger nicht besonders beruflich betroffen sei, insbesondere fehle es an einer Gegenüberstellung seines jetzigen tatsächlichen Einkommens mit dem eines selbständigen Weißbindermeisters, dem Berufsstand, den er ohne seine Verwundung erreicht haben würde. Auch müsse nunmehr nach Inkrafttreten des Gesetzes vom 27. Juni 1960 noch geprüft werden, ob sein jetzt ausgeübter Beruf mit dem vor der Schädigung ausgeübten Beruf sozial gleichwertig sei.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. April 1960 als unzulässig zu verwerfen.
Er hält die vom Kläger erhobenen Rügen für unbegründet.
Nachdem sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt haben, hat der Senat von der Möglichkeit, in dieser Weise zu entscheiden, Gebrauch gemacht.
Die Revision ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft, weil das Verfahren des Berufungsgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Der Kläger rügt zu Recht als einen Verfahrensverstoß, daß das LSG seine Feststellungsklage, mit der er die Anerkennung von "Reizleitungsstörung des Herzens" begehrte, wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses abgewiesen hat. Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt vor, wenn das LSG bei einer Feststellungsklage das Feststellungsinteresse verneint, obwohl es eine Sachentscheidung hätte treffen müssen (BSG in SozR SGG § 55 Bl. Da 7 Nr. 23). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Die Annahme des Berufungsgerichts, daß der Kläger kein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung habe, weil die "Reizleitungsstörung des Herzens" keine MdE bedinge und eine Verschlimmerung dieses Leidens nicht zu erwarten sei, ist unzutreffend. Für die vom Kläger begehrte Anerkennung besteht schon dann das für eine Feststellungsklage erforderliche Feststellungsinteresse, wenn für die als Schädigungsfolge anzuerkennende Gesundheitsstörung Heilbehandlung beansprucht werden kann (§ 10 BVG). Die Möglichkeit eines solchen Anspruchs des Klägers ist nicht auszuschließen. Der Anspruch auf Heilbehandlung setzt nicht voraus, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Reizleitungsstörung des Herzens gemindert oder eine Verschlechterung dieses Leidens zu erwarten ist. Heilbehandlung ist auch dann zu gewähren, wenn die Gesundheitsstörung beseitigt oder wesentlich gebessert werden kann oder wenn die durch die Gesundheitsstörung bedingten körperlichen Beschwerden behoben werden können (§ 10 Abs. 1 Satz 2 BVG aF und § 10 Abs. 1 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 nF). Daß diese mit der Heilbehandlung verfolgten Zwecke nicht zu erreichen sind, hat das LSG aber weder angenommen noch läßt sich dies aus den vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen folgern. Der Anspruch auf Heilbehandlung entfällt auch nicht deshalb, weil für die Reizleitungsstörung des Herzens ein Rentenanspruch des Klägers verneint worden ist. Wie der erkennende Senats bereits im Urteil vom 14. November 1961 - 9 RV 1434/59 - entschieden hat, erfordert § 10 Abs. 1 Satz 1 BVG aF lediglich die Gewährung einer Versorgungsrente ohne Rücksicht darauf, für welche Schädigungsfolge die Rente bewilligt worden ist. Das LSG durfte deshalb die Feststellungsklage des Klägers nicht wegen fehlenden Feststellungsinteresses abweisen.
Auf Grund des festgestellten Verfahrensmangels ist die Revision gegen das Urteil des LSG statthaft. Der Senat konnte es deshalb offen lassen, ob auch die weiteren vom Kläger noch erhobenen Verfahrensrügen durchgreifen. Auf diese Rügen kam es zur Prüfung der Frage, ob die Revision statthaft ist, daher nicht mehr an.
Die Revision ist auch begründet. Das Urteil des LSG beruht auf der vom Kläger gerügten Gesetzesverletzung, die zur Statthaftigkeit der Revision geführt hat. Die angefochtene Entscheidung wäre ohne diese Gesetzesverletzung anders ausgefallen. Das Urteil des LSG unterliegt daher der Aufhebung. Da der Senat keine eigenen tatsächlichen Feststellungen treffen kann, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Im weiteren Verfahren wird das LSG, das im Tatbestand seines Urteils vom Beruf eines "Weißbindermeisters", in den Gründen dagegen nur von dem eines "Weißbinderfachvorarbeiters" spricht, auch zu beachten haben, daß bei einem geltend gemachten besonderen beruflichen Betroffenseins nicht nur zu prüfen ist, ob dem Kläger durch seinen Berufswechsel ein wesentlicher wirtschaftlicher Nachteil entstanden ist, sondern auch, ob seine jetzt ausgeübte Tätigkeit gegenüber seinem früher ausgeübten oder nachweislich angestrebten Beruf als ein erheblicher sozialer Abstieg zu werten ist. Dies galt auch schon vor dem Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 - BGBl. I, 453 - (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14. November 1961 - 9 RV 304/56 - in SozR BVG § 30 Bl Ca 9 Nr. 12).
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen