Leitsatz (redaktionell)
Ein Sozialversicherungsträger kann die Wirksamkeit einer freiwillig fortgesetzten Rentenversicherung innerhalb der 10-Jahres- Frist des RVO § 1423 Abs 2 trotz jahrelanger Beitragsentrichtung auch dann noch wirksam beanstanden, wenn bereits aus der bei ihm eingereichten 1. Karte die fehlende Versicherungsberechtigung offensichtlich hervorgeht.
Orientierungssatz
Zum Begriff des Anerkenntnisses iS von RVO § 1423 Abs 3.
Normenkette
RVO § 1423 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Februar 1960 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 9. Dezember 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
In dem Rechtsstreit geht es darum, ob die Beklagte die von der Klägerin entrichteten freiwilligen Beiträge zu Recht beanstandet hat.
Für die im Jahre 1908 geborene Klägerin waren für die Zeit ihrer versicherungspflichtigen Beschäftigung vom April bis September 1950 21 Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung (JV) entrichtet worden. Die Klägerin setzte 1951 die Versicherung freiwillig fort und entrichtete bis einschließlich 1957 insgesamt 290 freiwillige Wochenbeiträge. Die Beklagte beanstandete durch Bescheid vom 12. August 1957 die Wirksamkeit dieser Beiträge, weil die Klägerin weder nach § 1244 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, § 1233 RVO noch nach Art. 2 § 4 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zur freiwilligen Fortsetzung der Versicherung berechtigt gewesen sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 9. Dezember 1958). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, daß die Berechtigung der Klägerin zur Weiterversicherung nicht aus den Gründen der Bescheide verneint werden könne (Urteil vom 24. Februar 1960). Es hat angenommen, die Klägerin habe nach Treu und Glauben darauf vertrauen dürfen, daß ihre Versicherungsberechtigung gegeben gewesen sei, weil der Versicherungsträger ihre Versicherungskarten unbeanstandet entgegengenommen habe, obwohl aus der Karte Nr. 1 die fehlende Versicherungsberechtigung offensichtlich hervorgegangen sei. Der Versicherungsträger habe es pflichtwidrig unterlassen, die bei ihm eingegangenen Karten auf sofort erkennbare Beanstandungsgründe zu prüfen und die Beiträge beizeiten zu beanstanden. Sein Verhalten komme unter dem Gesichtspunkt des Rechtsscheins einem stillschweigenden Anerkenntnis der Rechtsgültigkeit der Beiträge gleich.
Mit der von dem LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Detmold vom 9. Dezember 1958 zurückzuweisen.
Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1445 RVO aF (§ 1423 RVO). Sie meint, das Berufungsgericht habe einen neuen, im Gesetz nicht vorgesehenen Ausschließungsgrund für das Beanstandungsrecht geschaffen. Das Beanstandungsrecht sei im Gesetz aber abschließend geregelt. Das Berufungsgericht habe auch das Wesen des Kartenumtausch- und Kartenaufbewahrungsverfahrens verkannt. Sie sei gesetzlich nicht verpflichtet, die Versicherungsberechtigung sofort bei Eingang der Versicherungskarte zu prüfen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist begründet.
Mit Recht hat die Beklagte die von der Klägerin entrichteten freiwilligen Beiträge beanstandet.
Zur Entrichtung freiwilliger Beiträge von 1951 an war die Klägerin, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt berechtigt. Auch ein Anerkenntnis der Versicherungsberechtigung oder der Gültigkeit der freiwilligen Beiträge, durch die Beklagte, das nach § 1423 Abs. 3 Satz 2 RVO der Beanstandung entgegenstände, liegt, wie das LSG ebenfalls zu Recht ausgeführt hat, nicht vor. Insbesondere kann auch daraus, daß die Beklagte den Markenerlös für die freiwilligen Beiträge laufend vereinnahmt, ferner die Quittungskarten Nr. 1 bis 3 ohne Prüfung entgegengenommen hat und die Landesversicherungsanstalt (LVA) H als Ursprungsanstalt die Karten ohne Beanstandung in ihr Kartenarchiv eingeordnet hat, nicht gefolgert werden, die freiwilligen Beiträge der Klägerin seien von der Beklagten als zu Recht entrichtet anerkannt worden (vgl. auch RVA AN 1936, 329, 330; Bayer. LVA EuM Bd. 2, 308, 311; Bd. 3, 212, 214; Sächs. LVA EuM Bd. 10, 316, 318); denn es handelte sich bei diesen Maßnahmen lediglich um rein tatsächliche Vorgänge des Beitragsverfahrens. Bei all diesen Vorgängen fehlt es an einer schlüssigen Handlung des Versicherungsträgers, aus der eine Willenserklärung im Sinne eines Anerkenntnisses entnommen werden kann.
Ebensowenig kann, wie das Berufungsgericht weiterhin zutreffend dargelegt hat, in dem Aufdruck des Kontrollstempels in den Quittungskarten Nr. 3 und 4 und in der Entgegennahme des Geldbetrages für freiwillige Beiträge durch den Überwachungsbeamten der Beklagten ein die Beklagte bindendes Anerkenntnis erblickt werden. Der Stempelaufdruck stellt weder eine auf ein Anerkenntnis gerichtete Willenserklärung dar noch soll er eine solche beweisen. Mit dem Kontrollstempel wird die Quittungskarte auch dann versehen, wenn der Überwachungsbeamte die Versicherungspflicht oder -berechtigung nicht für gegeben erachtet und deshalb die Karte an den Versicherungsträger weitergibt, wie es mit der Quittungskarte Nr. 4 geschehen ist. Durch den Stempelaufdruck nimmt der Überwachungsbeamte zu der Frage der Versicherungsberechtigung oder der Gültigkeit der in der Karte verwendeten Beitragsmarken nicht Stellung (RVA AN 1914, 685, 687). Dies gilt gleichermaßen für die Entgegennahme des Geldbetrages für freiwillige Beiträge und die Erteilung einer Empfangsbescheinigung hierüber; denn der Überwachungsbeamte wurde hierbei nur wie eine Verkaufsstelle für Beitragsmarken tätig. Nach den nicht in zulässiger Weise angegriffenen und deshalb für das BSG nach § 163 SGG bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts haben dem Überwachungsbeamten anläßlich der Prüfung der Karte Nr. 3 die Vorkarten oder die entsprechenden Aufrechnungsbescheinigungen der Klägerin, aus denen sich die fehlende Versicherungsberechtigung ergab, nicht vorgelegen. Der Überwachungsbeamte hat danach eine Prüfung der Versicherungsberechtigung und der Rechtswirksamkeit der Beiträge nicht vorgenommen und eine Stellungnahme dazu nicht abgegeben. Seine Überprüfung der Quittungskarte Nr. 4 führte zur Beanstandung der Beiträge.
In der Auskunft des Versicherungsamts kann ein Anerkenntnis der Versicherungsberechtigung der Klägerin seitens der Beklagten ebenfalls nicht erblickt werden. Nach § 1445 Abs. 2 RVO aF, § 1423 Abs. 3 RVO war und ist nur der Rentenversicherungsträger selbst zum Anerkenntnis der Versicherungsberechtigung oder der Gültigkeit freiwilliger Beiträge befugt, nicht aber sind es andere Behörden oder Stellen, auch wenn sie mit Aufgaben der Rentenversicherung gesetzlich befaßt sind (RVA AN 1931, 470). Auskünfte des Versicherungsamts binden den Versicherungsträger nicht; auch haftet er für solche Auskünfte, wenn sie unrichtig sind, nicht; denn die Versicherungsämter sind keine Organe der Versicherungsträger, sondern selbständige oder unselbständige Behörden einer Stadt oder eines Landkreises (§§ 36, 38 RVO). Sie haben die Auskunftserteilung, die ihnen nach §§ 37 Abs. 1, 1324 Satz 2 RVO obliegt, als staatliche Auftragsangelegenheit eigenverantwortlich wahrzunehmen. - Aus denselben Gründen kann auch die Aufrechnung und der Umtausch der Quittungskarten der Klägerin durch die Ausgabestelle für Quittungskarten der Stadt Bielefeld nicht als Anerkenntnis i. S. des § 1445 Abs. 2 RVO a. F., § 1423 Abs. 3 RVO angesehen werden.
Zu Unrecht hat aber das Berufungsgericht angenommen, das Verhalten der Beklagten komme nach Treu und Glauben unter dem Gesichtspunkt des Rechtsscheins einem stillschweigenden Anerkenntnis der Rechtsgültigkeit der freiwilligen Beiträge gleich. Wie der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits ausgesprochen hat, war und ist der Versicherungsträger nicht verpflichtet, die bei ihm eingehenden (aufgerechneten) Versicherungskarten einzeln auf sofort erkennbare Beanstandungsgründe zu prüfen (Urteil vom 23. März 1965, SozR RVO § 1421 Nr. 1). Auch nach Ansicht des erkennenden Senats bestand keine Rechtspflicht der Beklagten gegenüber der Klägerin, die Gültigkeit der von der Klägerin verwendeten Beitragsmarken schon nach Eingang der Quittungskarten und vor Einordnung in das Kartenarchiv zu prüfen und die Beanstandung in angemessener Frist auszusprechen. Zur Anfechtung der Rechtsgültigkeit der Verwendung von Beitragsmarken ist der Versicherungsträger vielmehr innerhalb der in § 1445 Abs. 3 RVO aF, § 1423 Abs. 2 RVO bestimmten Frist von zehn Jahren befugt. Sein Beanstandungsrecht kann er bis zum Ablauf der Zehnjahresfrist jederzeit ausüben. Es kommt nicht darauf an, ob er die Unwirksamkeit der Beiträge schon früher hätte erkennen und beanstanden können. Das folgt nicht nur aus dem Wortlaut der genannten Vorschriften, sondern vor allem auch aus ihrer Entstehungsgeschichte. Bis zum Inkrafttreten des § 1445 RVO aF konnten unter der Geltung des Invalidenversicherungsgesetzes (§ 147 JVG) zu Unrecht entrichtete Beiträge zeitlich unbegrenzt beanstandet werden, und zwar auch dann, wenn sie auf Veranlassung oder mit Zustimmung des Versicherungsträgers entrichtet worden waren (RVA AN 1912, 676, 677). Diese dem Versicherten ungünstige Rechtslage wurde bei den Beratungen der 16. Kommission des Reichstages über den Entwurf des § 1427 (§ 1445 RVO aF) als unbefriedigend und unbillig empfunden. Gleichwohl wurde ein der Kommission vorliegender Antrag, die Beanstandung von Beiträgen auf einen Zeitraum von vier Jahren zu begrenzen, nach eingehender Erörterung des Für und Wider als zu weitgehend abgelehnt. Dafür wurde angeführt, daß den Versicherungsträgern eine außergewöhnliche Mehrarbeit und in zahlreichen Fällen eine überflüssige Belastung erwachsen würde, wenn sie in allen Fällen das Versicherungsverhältnis vor Ablauf der vierjährigen Frist prüfen müßten; werde die Prüfung nicht rechtzeitig und vollständig durchgeführt, so habe dies zur Folge, daß zahlreiche zu Unrecht verwendete Beiträge als rechtswirksam behandelt werden müßten und zur Bewilligung von Renten führen würden. Die Reichstagskommission einigte sich schließlich auf die zehnjährige Beanstandungsfrist. Dabei wurde nicht verkannt, daß auch eine Beanstandung nach zehn Jahren für den Versicherten eine unbillige Härte bedeuten könne.
Um den Versicherten schon vor Ablauf der Zehnjahresfrist gegen Beanstandungen seiner Beiträge zu sichern, wurde daraufhin der Absatz 2 in den § 1445 RVO aF eingefügt, wonach der Versicherte von dem Versicherungsträger die Feststellung der Gültigkeit der verwendeten Beitragsmarken oder ein Anerkenntnis über die Versicherungspflicht oder -berechtigung verlangen kann (Bericht der 16. Kommission des Reichstages über den Entwurf einer RVO, 4. Teil, Seite 192 bis 195). An dieser in § 1445 Abs. 2 und 3 RVO aF getroffenen Regelung hat der Gesetzgeber bei allen späteren Änderungen der RVO festgehalten. Insbesondere ist § 1445 RVO aF durch das ArVNG zwar neu gefaßt und mit § 11 der Durchführungsverordnung zur 2. Lohnabzugsverordnung zu einer Vorschrift vereinigt worden, im übrigen aber unverändert als § 1423 Abs. 1 bis 3 in die RVO übernommen worden.
Wie mithin die Entstehungsgeschichte der Vorschriften zeigt, hat der Gesetzgeber die aus der zehnjährigen Beanstandungsfrist für den Versicherten möglichen Härten nicht verkannt, sondern er hat diese Frist in Abwägung der schutzwürdigen Interessen von Versicherten und Versicherungsträger für notwendig erachtet. Im Hinblick auf diese bewußte gesetzliche Regelung ist eine Einschränkung des Beanstandungsrechts des Versicherungsträgers aus anderen, im Gesetz nicht vorgesehenen Gründen, verwehrt.
Auf die danach begründete Revision der Beklagten war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen