Leitsatz (amtlich)

Kommt es bei der Entscheidung der Frage, ob einer Teilzeitarbeitskraft das Arbeitsfeld praktisch verschlossen ist, auf die Verhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes der gesamten BRD an, so beschränkt sich die Ermittlung über die Größe des allgemeinen Arbeitsfeldes oder eines Teilbereichs des allgemeinen Arbeitsfeldes praktisch auf eine Anfrage bei der BA in Nürnberg.

 

Normenkette

RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RKG § 47 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 1968 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Unter den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger ab 1. November 1967 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit statt der gewährten Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.

Der im Jahre 1911 geborene Kläger war als Maschinenarbeiter, Vorarbeiter und Kolonnenführer tätig. Mit Bescheid vom 26. Januar 1966 lehnte die Beklagte eine Rentengewährung ab. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 21. März 1966 zurückgewiesen. Die vom Kläger dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Aachen mit Urteil vom 11. Oktober 1966 abgewiesen. Während des anschließenden Berufungsverfahrens gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 24. Januar 1968 ab 1. November 1967 die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit. In einem Erörterungstermin vor dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 11. März 1968 nahm der Kläger die Klage zurück, soweit mit ihr Rentenansprüche für die Zeit bis zum 31. Oktober 1967 geltend gemacht worden waren, ab 1. November 1967 begehrte er jedoch die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit.

Das LSG hat mit Urteil vom 9. Mai 1968 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Aachen zurückgewiesen. Es kam zu dem Ergebnis, daß dem Kläger ab 1. November 1967 nicht die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit, sondern nur die gewährte Leistung wegen Berufsunfähigkeit zustehe. Nach seinen Feststellungen kann der Kläger noch halbschichtig - also etwa vier Stunden täglich - leichte Arbeiten verrichten. Diese Fähigkeit schließe die Erwerbsunfähigkeit aus, ohne daß es noch der konkreten Feststellung bedürfe, ob und in welchem Umfang im Wohngebiet des Klägers Arbeitsplätze vorhanden seien, die seinem Gesundheitszustand entsprächen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er ist der Ansicht, daß noch hätte geprüft werden müssen, ob es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Teilzeitarbeitsplätze, die er noch ausfüllen könne, in so großer Anzahl gebe, daß ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen sei.

Der Kläger und die Beklagte beantragen,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 1968 aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Auch die Beklagte ist der Ansicht, es müsse noch geprüft werden, ob im Bundesgebiet Teilzeitarbeitsplätze, die der Kläger mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen könne, in genügender Zahl vorhanden seien.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird.

Die im vorliegenden Fall entscheidende Frage, ob ein Versicherter auf eine Teilzeittätigkeit ohne Rücksicht darauf verwiesen werden kann, ob und in welchem Umfang es für die Tätigkeiten, die er noch verrichten kann, Arbeitsplätze gibt, hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch Beschluß vom 10. Dezember 1969 - GS 2/68 - dahin entschieden, daß es bei Anwendung des § 1247 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung erheblich ist, ob Arbeitsplätze, die der Versicherte mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausüben kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind. Auf solche Arbeitsplätze kann der Versicherte nur verwiesen werden, wenn ihm der Arbeitsmarkt nicht praktisch verschlossen ist, d. h. wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen nicht ungünstiger als 75 : 100 ist. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Der Rechtsansicht des LSG, daß die Fähigkeit, noch halbschichtig arbeiten zu können, die Erwerbsunfähigkeit ausschließe, ohne daß es noch der konkreten Feststellung bedürfe, ob und in welchem Umfang für den Kläger geeignete Arbeitsplätze vorhanden sind, kann dagegen nicht gefolgt werden.

Der Große Senat des BSG hat in Abschnitt C V des genannten Beschlusses vom 10. Dezember 1969 i. V. m. Abschnitt C V des Beschlusses vom gleichen Tage in Sachen M gegen LVA B - GS 4/69 - Anhaltspunkte dafür gegeben, wann das Arbeitsfeld in der Regel als verschlossen angesehen werden kann. Das LSG hat, was im Hinblick auf diese Grundsätze von Bedeutung ist, festgestellt, daß der Kläger noch halbschichtig leichte Arbeiten verrichten kann. Damit kann er nicht auf das gesamte Teilzeitarbeitsfeld, d. h. nicht auf alle leichten bis mittelschweren Arbeiten im Sitzen, im Stehen und im Umhergehen in geschlossenen Räumen und im Freien, verwiesen werden. Das LSG wird zu prüfen haben, ob es sich bei den Einschränkungen um starke Einschränkungen im Sinne von Abschnitt C V 1 des o. a. Beschlusses i. V. m. Abschnitt C V 2 b aa und bb des Beschlusses des Großen Senats in Sachen M gegen LVA B - GS 4/69 - handelt. Handelt es sich um starke Einschränkungen in diesem Sinne, so kann der Kläger nicht auf dieses Arbeitsfeld verwiesen werden, es sei denn, daß das Arbeitsamt oder die Beklagte ihm einen entsprechenden Arbeitsplatz nachweisen würden - gleichgültig ob er von diesem Angebot Gebrauch macht oder nicht - oder wenn er anderweitig einen solchen Arbeitsplatz nicht nur vergönnungsweise erhalten hätte. Handelt es sich dagegen nicht um starke Einschränkungen in diesem Sinne, kann der Kläger auf dieses Arbeitsfeld verwiesen werden. Diese Entscheidung kann nicht ohne Kenntnis der zahlenmäßigen Größe der Gruppe von für den Kläger geeigneten Teilzeitarbeitsplätzen getroffen werden, da nur bei Kenntnis dieser Zahl entschieden werden kann, ob es sich gegenüber dem uneingeschränkten Arbeitsmarkt um eine starke Einschränkung handelt.

Da der Kläger grundsätzlich auf das Arbeitsfeld der gesamten Bundesrepublik Deutschland verwiesen werden kann, kommt zur Klärung dieser Frage praktisch allein die Einholung einer Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg in Betracht, weil nur diese ihrem gesetzlichen Auftrag nach und wegen der ihr zur Verfügung stehenden Unterlagen und wegen ihrer Möglichkeiten zur Beschaffung und Auswertung der erforderlichen Daten einen ausreichenden Überblick über die Verhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes der gesamten Bundesrepublik Deutschland oder eines Teilbereichs dieses Arbeitsmarktes der Bundesrepublik Deutschland haben kann. Andere zentrale Stellen können, wenn überhaupt, allenfalls Kenntnisse über die Verhältnisse der von ihnen betreuten oder erfaßten einzelnen Berufe oder Berufsgruppen, nicht aber ausreichende Kenntnisse über den allgemeinen Arbeitsmarkt oder Teilbereiche des allgemeinen Arbeitsmarktes haben. Andererseits kommen örtlich oder bezirklich zuständige Arbeitsbehörden und sonstige Stellen in diesen Fällen als Auskunftsstellen nicht in Betracht, weil sie allenfalls ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen über die Verhältnisse ihres Bereichs haben können, allein entscheidend aber die Situation auf dem Arbeitsmarkt der gesamten Bundesrepublik Deutschland, nicht aber die in bezirklichen oder örtlichen Bereichen ist. Wenn aber selbst die Bundesanstalt für Arbeit in N zur Zeit noch nicht in der Lage sein sollte, die ungefähre Größe der für den Kläger in Betracht kommenden Teilgebiete des allgemeinen Arbeitsmarktes anzugeben, könnte der Kläger nach den Grundsätzen des o. a. Beschlusses nicht auf dieses Teilzeitarbeitsfeld verwiesen werden; denn auch in einem solchen Falle muß nach dem o. a. Beschluß angenommen werden, daß ihm das Arbeitsfeld praktisch verschlossen ist. Wenn die für die Beobachtung des Arbeitsmarktes und die Arbeitsvermittlung zuständige Arbeitsverwaltung nicht in der Lage ist, die ungefähre zahlenmäßige Größe eines Teilzeitarbeitsmarktes anzugeben, muß nämlich davon ausgegangen werden, daß ihr auch nicht bekannt ist, wo und in welchem Umfang sich solche Stellen befinden. Daher muß man annehmen, daß es sich insoweit um einen nicht funktionierenden Teilzeitarbeitsmarkt handelt, der dem Versicherten praktisch verschlossen ist. Zwar ist auch der Kläger verpflichtet, von sich aus einen solchen Arbeitsplatz zu suchen. Doch kann nicht angenommen werden, daß er eine bessere Übersicht über diesen Arbeitsmarkt hat als die Bundesanstalt für Arbeit in N selbst.

Da der erkennende Senat im Revisionsverfahren die erforderlichen Tatsachen zur Prüfung der Frage, ob dem Kläger der Teilzeitarbeitsmarkt praktisch verschlossen ist und er daher zu seiner Rente wegen Berufsunfähigkeit keine mehr als nur geringfügigen Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann, nicht selbst feststellen kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes).

Dem LSG bleibt auch die Kostenentscheidung hinsichtlich des Revisionsverfahrens vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669736

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