Entscheidungsstichwort (Thema)
Kriegsopferversorgung. MdE-Bewertung. Änderung der Verhältnisse. freie Beweiswürdigung. wesentlicher Verfahrensmangel
Orientierungssatz
Das Gericht verletzt das Recht auf freie Beweiswürdigung, wenn es bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Neubewertung einer MdE eines Versorgungsberechtigten wegen einer Änderung der Verhältnisse die der Erstanerkennung eines Versorgungsleidens zugrunde liegenden medizinischen Unterlagen nicht sachkundig daraufhin auswerten läßt, ob die angenommene Konsolidierung eines Leidens tatsächlich sichergestellt gewesen ist.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1, § 162 Abs. 1 Nr. 2; BVG § 62 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 09.04.1968) |
SG Speyer (Entscheidung vom 23.01.1967) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 9. April 1968 aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger, geboren am 7. September 1925, erkrankte im Jahre 1944 als Soldat an einer Rippenfellentzündung; er befand sich darauf bis Februar 1945 in Lazarettbehandlung wegen einer Lungentuberkulose.
Er beantragte im Februar 1949, ihm Versorgung zu gewähren. Bei der amtsärztlichen Untersuchung durch den Kreisarzt in D wurden geringe fibröse Veränderungen in beiden Spitzenoberfeldern der Lunge ohne Anzeichen einer Aktivität sowie eine rechtsseitige Pleuraschwarte als Folge der im Jahre 1944 überstandenen Rippenfellentzündung und Lungentuberkulose festgestellt. Durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt Hessen (KB-Abteilung) vom 24. August 1950 wurden als Schädigungsfolgen anerkannt: "Geringe tuberkulöse Veränderungen in beiden Spitzenoberfeldern ohne Anzeichen von Aktivität, Rippenfellschwarte rechts mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v. H.". Im November 1950 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag wegen tuberkulöser Erkrankung des rechten Auges. Durch Umanerkennungs- und Neufeststellungsbescheid vom 21. August 1952 wurde daraufhin nach Einholung eines augenärztlichen Gutachtens zusätzlich anerkannt: Praktische Blindheit rechts infolge Augentuberkulose; die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde vom 1. November 1950 an auf 50 v. H. erhöht.
Bei den Nachuntersuchungen im Jahre 1958 und 1961 wurden keine wesentlichen Änderungen der Verhältnisse festgestellt. Im Oktober 1965 führte der Lungenfacharzt Dr. med. H nach Untersuchung und Auswertung der Akten der Tuberkulosefürsorgestelle in einem Gutachten aus, seit der Voruntersuchung sei keine Befundänderung eingetreten, doch müsse eine wesentliche Änderung darin erblickt werden, daß nach jahrelanger Beobachtung sowohl der tuberkulöse Lungenprozeß als auch der tuberkulöse Netzhaut-Aderhautprozeß als endgültig abgeheilt zu bezeichnen seien; die MdE für den Lungenprozeß betrage 20 v. H., für den Augenprozeß 30 v. H., zusammen und bleibend würde dies einer MdE von 40 v. H. entsprechen. Das Versorgungsamt setzte darauf durch Neufeststellungsbescheid vom 12. November 1965 unter Neubezeichnung der Schädigungsfolgen die MdE vom 1. Januar 1966 an auf 40 v. H. fest. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos, weil in dem Inaktivbleiben einer früher aktiven, ihrer Natur nach zu Rückfällen neigenden Krankheit eine wesentliche Änderung im Sinne des § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu erblicken sei (Bescheid vom 3. Februar 1966).
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Speyer mit Urteil vom 23. Januar 1967 abgewiesen. Mit der Berufung hat der Kläger geltend gemacht, die jahrelange Inaktivität der Tuberkulose könne nicht zu einer Herabsetzung der MdE führen, da von Anfang an nur eine inaktive Lungentuberkulose anerkannt gewesen sei. Im übrigen könne die Herabsetzung der MdE für die Lungenerkrankung auf 20 v. H. nicht zu einer Bewertung der Gesamt-MdE unter 45 v. H. führen.
Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat mit Urteil vom 9. April 1968 wie folgt entschieden:
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des SG Speyer vom 23. Januar 1967 und die Bescheide vom 12. November 1965 und 3. Februar 1966 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die mit Bescheid vom 21. August 1952 anerkannten Schädigungsfolgen über den 31. Dezember 1965 hinaus Versorgung nach einer MdE von 50 v. H. zu gewähren. Das LSG hat ausgeführt: Bei einer Erkrankung, bei der die Gefahr des Rückfalls bestehe, könne eine wesentliche Änderung im Sinne des § 62 BVG auch dann angenommen werden, wenn die Erkrankung über längere Zeit hinweg inaktiv geblieben sei. Im vorliegenden Fall sei aber von vornherein bei dem Kläger eine inaktive Lungentuberkulose anerkannt worden, die bereits 1945 abgelaufen sei und bei der die Gefahr einer neuen Aktivität wegen des Zeitablaufs ohne ärztliche Behandlung objektiv nicht bestanden habe. Es habe nicht der Verdacht bestanden, daß der Leidenszustand des Klägers noch nicht ganz zur Ruhe gekommen sei. Die Versorgungsbehörde habe bereits bei der ursprünglichen Anerkennung im Jahre 1950 davon ausgehen können, daß der Lungenprozeß aus dem Jahre 1945 abgeheilt sei und die Heilung sich bewährt habe. Sie habe deshalb auch nirgends zum Ausdruck gebracht, daß die MdE höher angesetzt worden sei, weil eine Konsolidierung des Leidens noch nicht sichergestellt gewesen sei. Die weitere Anerkennung der tuberkulösen Erkrankung des rechten Auges im Jahre 1932 könne eine andere Beurteilung nicht rechtfertigen, da die ursprüngliche Anerkennung 1950 ohne Kenntnis des Augenbefundes vorgenommen sei.
Der Beklagte hat formgerecht und fristgemäß Revision eingelegt. Er beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Speyer zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte rügt, das LSG habe die Verfahrensvorschrift des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Es habe für die Entscheidung wesentliche tatsächliche Umstände übersehen bzw. falsch gewürdigt. Es habe sich insbesondere zu Unrecht über das lungenfachärztliche Gutachten des Dr. med. H vom Oktober 1965 hinweggesetzt, aus dem zu entnehmen gewesen sei, daß im Jahre 1950 noch keine Stabilisierung des Lungenprozesses eingetreten sei.
Der Kläger hat im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Der Beklagte rügt ordnungsgemäß (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) und zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel, das LSG habe die Verfahrensvorschrift des § 128 Abs. 1 SGG verletzt.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG auch dann vorliegt, wenn - ohne wesentliche Änderung der Befunde - eine Krankheit, die ihrer Natur nach zu Rückfällen neigt - wie das bei der Tuberkulose der Fall ist -, längere Zeit inaktiv bleibt. Bei dem nach § 62 Abs. 1 BVG notwendigen Vergleich der Verhältnisse hat das LSG offenbar den Zeitpunkt der Erstfeststellung im Jahre 1950 als maßgeblich angesehen, obgleich es am Schluß der Urteilsbegründung heißt, der Gesamtzustand des Leidens habe sich gegenüber der ursprünglichen Anerkennung und gegenüber der Umanerkennung vom 21. August 1952 nicht geändert. Das LSG hat eine wesentliche Änderung im Sinne des § 62 BVG verneint, weil schon für die "Erstfeststellung" im August 1950 maßgebend gewesen sei, daß bei dem Kläger eine inaktive Lungentuberkulose vorgelegen habe, die bereits im Jahre 1944 abgelaufen gewesen sei und bei der die Gefahr einer neuen Aktivität wegen Zeitablaufs ohne ärztliche Behandlung objektiv nicht mehr bestanden habe; bei der Erstfeststellung der Tuberkulose als Schädigungsfolge (mit einer MdE von 30 v. H.) sei der Verdacht, daß der Leidenszustand des Klägers noch nicht ganz zur Ruhe gekommen sei, nicht mehr gegeben gewesen; die Versorgungsbehörde habe bereits damals davon ausgehen können, daß der Lungenprozeß aus dem Jahre 1945 abgeheilt gewesen sei und die Heilung sich bewährt habe.
Diese Feststellungen sind nicht verfahrensrechtlich einwandfrei zustandegekommen; das LSG hat sie nicht auf geeignete medizinische Unterlagen gestützt. Die Feststellungen des LSG, daß die Konsolidierung des Leidens im Jahre 1950 bereits sichergestellt gewesen ist, kann weder darin, daß beim Kläger von vornherein eine inaktive Lungentuberkulose anerkannt worden ist (vgl. insoweit Urteil des Bundessozialgerichts vom 15. Oktober 1963 - 11 RV 236/61 -) noch darin, daß hierbei nicht ausdrücklich erwähnt worden ist, der Leidenszustand des Klägers sei noch nicht ganz zur Ruhe gekommen, eine hinreichende Stütze finden. Auch die Höhe der damals festgesetzten MdE läßt nicht schon die Schlußfolgerung zu, daß bei der Erstbeurteilung der Heilbewährungsprozeß schon als abgeschlossen angesehen worden ist. Allein aus dem Umstand, daß die Rippenfellentzündung und die Tuberkulose im Jahre 1944 überstanden worden sind, also aus dem Zeitablauf, hat das LSG noch nicht entnehmen dürfen, daß der Leidenszustand im Jahre 1950 gänzlich zur Ruhe gekommen war. Dies hat das LSG jedenfalls nicht tun dürfen, ohne die medizinischen Unterlagen, die der Erstanerkennung zugrunde gelegen haben, sachkundig daraufhin auswerten zu lassen, ob die Konsolidierung des Leidens tatsächlich sichergestellt gewesen ist. Insoweit ist möglicherweise bedeutsam gewesen, daß der röntgenologische Befund des Facharztes Dr. Z vom 26. Januar 1949 den Verdacht von Aktivitätszeichen nicht ausgeschlossen hat, daß der Kläger im Jahre 1949 mehrfach arbeitsunfähig krank gewesen ist und die Diagnose des behandelnden Arztes "Verdacht auf Lungen-Tbc" gelautet hat, daß er - nach seinen Angaben - die Arbeit in der Landwirtschaft als für ihn zu schwer aufgegeben hat und schließlich, daß er seit 1. Februar 1949 in ständiger Überwachung der Tuberkulose-Fürsorgestelle gestanden hat. Ferner ist auf die anamnestischen Angaben des Klägers bei seiner Untersuchung durch das Kreisgesundheitsamt vom 26. April 1950 und bei seiner Untersuchung durch den Internisten Dr. B vom 30. Mai 1950 hinzuweisen; der Kläger hat dort über Beschwerden geklagt, die häufig bei Lungenerkrankungen auftreten. Zu beachten ist möglicherweise auch, daß der Versorgungsbehörde bereits am 28. Juni 1950, also zwei Monate vor der Erstanerkennung gemeldet worden ist, daß der Kläger seit 19. Juni 1950 wegen einer Netzhautablösung arbeitsunfähig krank sei; diese Erkrankung hat sich später als eine tuberkulöse Augenerkrankung erwiesen, die der Augenarzt Prof. Dr. K in seinem Gutachten vom 20. Juli 1951 als sekundäre tuberkulöse Erkrankung angesehen hat. Unter diesen Umständen hat das LSG die Frage, ob bei Erlaß des Erstanerkennungsbescheides der Leidenszustand des Klägers schon ganz zur Ruhe gekommen war und es einer Heilbewährung - möglicherweise unter Arbeitsbelastung - nicht mehr bedurfte, nicht aus eigener Sachkunde beurteilen dürfen. Der Beklagte hat seinen Neufeststellungsbescheid auf das Gutachten des Lungenfacharztes Dr. H vom 25. Oktober 1965 gestützt, in dem die Auffassung vertreten wird, es sei eine wesentliche Änderung darin zu erblicken, daß nach jahrelanger Beobachtung sowohl der tuberkulöse Lungenprozeß und der tuberkulöse Netz- oder Aderhautprozeß als endgültig abgeheilt anzusehen sei. Das LSG hat diesem Gutachten zwar nicht folgen müssen, wenn es der Auffassung gewesen ist, der Gutachter habe die Änderung der Verhältnisse ohne hinreichende Auswertung der der Erstanerkennung zugrunde liegenden medizinischen Unterlagen bejaht. Es hat dann aber eine Ergänzung dieses Gutachtens oder ein anderes ärztliches Gutachten einholen müssen, um sich die notwendige ärztliche Auswertung der früheren Unterlagen als Beweisgrundlage für seine Feststellungen zu verschaffen. Da das LSG Feststellungen ohne geeignete Beweisunterlagen getroffen hat, hat es jedenfalls auch, wie der Beklagte gerügt hat, die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis frei zu würdigen, überschritten und danach gegen § 128 SGG verstoßen. Es kann dahingestellt bleiben, ob daneben auch eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) vorliegt.
Die damit nach §§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164 SGG zulässige Revision ist auch begründet, weil das LSG ohne den gerügten und vorliegenden Verfahrensmangel möglicherweise zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Das LSG wird gegebenenfalls auch zu prüfen haben, ob es trotz einer etwaigen berechtigten Herabsetzung der MdE wegen des Lungenbefundes bei der bisherigen Gesamt-MdE verbleiben kann. Der Senat kann nicht selbst in der Sache entscheiden, weil verfahrensgerechte tatsächliche Feststellungen fehlen. Der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen