Orientierungssatz
Bei der Beurteilung des Anspruchs auf Pflegezulage ist beim Zusammentreffen anerkannter Schädigungsfolgen mit schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörungen vom Gesamtleidenszustand auszugehen.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.12.1973; Aktenzeichen l 1 V 120/73) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 13.12.1972; Aktenzeichen S 1a V 412/72) |
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Dezember 1973 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die ursprüngliche Klägerin, die Beschädigte Käthe F (Frau F.), die am 19. November 1905 geboren und am 17. Dezember 1974 verstorben ist, bezog Rente aufgrund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH wegen entartender Veränderungen im rechten Ellenbogen- und Unterarmdrehgelenk mit Bewegungsstörungen.
Im Juli 1970 erlitt Frau F einen Schlaganfall mit einer Lähmung der gesamten linken Körperseite und einer Störung der vegetativen Zentren. Ihr Antrag auf Neufeststellung ihrer Versorgungsbezüge wurde durch Bescheid des Versorgungsamts vom 28. Oktober 1971 abgelehnt. Der Widerspruch, mit dem sie auch die Gewährung von Pflegezulage begehrte, war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 8. März 1972). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 13. Dezember 1972 eine Erhöhung der MdE abgelehnt, den Beklagten aber verurteilt, Frau F. ab 1. Januar 1971 Pflegezulage der Stufe I zu gewähren. Zwar könnten die anerkannten Schädigungsfolgen mit einer MdE um nur 30 vH normalerweise nicht als wesentlich für eine Hilflosigkeit angesehen werden. Hier liege jedoch ein Sonderfall vor, weil die Schädigungsfolgen die Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes beträfen und durch den Schlaganfall die Gebrauchsfähigkeit des linken Armes völlig aufgehoben worden sei, auf dessen Benutzung sich Frau F. nach der schädigungsbedingten Beeinträchtigung des rechten Armes umgestellt habe.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 11. Dezember 1973 die Entscheidung des SG aufgehoben, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Eine Pflegezulage der Stufe I stehe schon deswegen nicht lzu, weil sie nicht dem Ausmaß der Hilflosigkeit entspreche. Dem Zustand von Frau F sei vielmehr mindestens eine Pflegezulage der Stufe II oder einer höheren Stufe angemessen. Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG liege bei ihr nicht vor. Ihr gegenwärtiger Leidenszustand erfordere vielmehr dauerndes Krankenlager (§ 35 Abs 1 Satz 2 BVG) und eine damit verbundene besondere Pflege. Hierfür seien jedoch die anerkannten Schädigungsfolgen weder allein noch im versorgungsrechtlichen Sinn mitursächlich. Im Sinne des Versorgungsrechts seien alleinige Ursache für den Zustand des dauernden Krankenlagers die Folgen des schädigungsunabhängigen Schlaganfalls; ihnen komme die weitaus überwiegende Bedeutung für den gegenwärtigen Leidenszustand zu.
Frau F. hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 11. Dezember 1973 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Freiburg vom 13. Dezember 1972 zurückzuweisen.
Sie rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 35 BVG. Diese Vorschrift erfordere eine zweistufige Prüfung. Zunächst müsse unter Beachtung des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG festgestellt werden, ob der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos sei; danach müsse weiter geprüft werden, ob dem Beschädigten nach § 35 Abs 1Satz 2 BVG eine über die Stufe I hinausgehende Pflegezulage gewährt werden könne. Sowohl bei § 35 Abs 1 Satz 1 BVG als auch bei § 35 Abs 1 Satz 2 BVG müsse gleichzeitig untersucht werden, ob die Schädigung alleinige oder wesentliche Mitursache der Hilflosigkeit oder der erhöhten Pflegebedürftigkeit sei. Hiervon sei das SG zutreffend ausgegangen und habe zunächst die Hilflosigkeit von Frau F. im Sinne des § 35 BVG bestätigt, der Schädigung eine wesentliche Mitursache hieran zugestanden und sodann festgestellt, daß in Anbetracht des Umfangs der anerkannten Schädigung die Gewährung einer Pflegezulage nach Stufe I angemessen sei. Das LSG habe dagegen die Mitwirkung der anerkannten Schädigung an der Hilflosigkeit von Frau F. im Sinne des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG zu Unrecht übergangen und ausschließlich deren Anteil an der erhöhten Pflegebedürftigkeit nach § 35 Abs 1 Satz 2 BVG gemessen und beurteilt.
Der Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 11. Dezember 1973 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Auffassung der Revision, die sie aus der Anerkennung eines Leidens im Sinne der Verschlimmerung herleite, sei schon deshalb unzutreffend, weil es bei der Pflegezulage nicht um eine MdE gehe. Diese Versorgungsleistung sei vielmehr von dem Eintritt eines weiteren Ereignisses, der Hilflosigkeit, abhängig.
Frau F. ist am 17. Dezember 1974 verstorben. Ihr Ehemann und ihre beiden Kinder haben den Rechtsstreit als ihre Rechtsnachfolger aufgenommen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist zulässig, kann aber keinen Erfolg haben.
Die ursprüngliche Klägerin, Frau F., hatte gegen das Urteil des SG, das zur Gewährung von Pflegezulage der Stufe I verurteilt, aber eine höhere Pflegezulage und eine Erhöhung der MdE abgelehnt hatte, keine Berufung eingelegt. Deshalb war im Berufungs- und ist im Revisionsverfahren nur noch darüber zu entscheiden, ob der Klägerin eine Pflegezulage der Stufe I zusteht. Daß das LSG die Kausalität der anerkannten Schädigungsfolgen für die erhöhte Pflegebedürftigkeit geprüft hat, beruht im Gegensatz zur Auffassung der Revision nicht darauf, daß es dies übersehen hat, sondern auf seiner Ansicht über das Verhältnis der Sätze 1 und 2 in § 35 Abs 1 BVG zueinander.
Nach Satz 1 wird eine Pflegezulage (Stufe I) gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Ist die Gesundheitsstörung so schwer, daß sie dauerndes Krankenlager oder außergewöhnliche Pflege erfordert, so ist nach Satz 2 die Pflegezulage je nach Lage des Falles unter Berücksichtigung der für die Pflege erforderlichen Aufwendungen auf die Stufen II, III, IV und V zu erhöhen.
Das LSG hat ausgesprochen, daß Frau F. nicht hilflos im Sinne von § 35 Abs 1 Satz 1 BVG gewesen ist. Dies ist keine tatsächliche Feststellung, die das Bundessozialgericht nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindet, sondern eine Rechtsansicht. Das LSG hat sie daraus hergeleitet, daß der Leidenszustand von Frau F. ständiges Krankenlager im Sinne von § 35 Abs 1 Satz 2 BVG erforderte. Es ist demnach offenbar der Ansicht, daß die Pflegezulage im Sinne von § 35 Abs 1 Satz 1 BVG und die nach § 35 Abs 1 Satz 2 BVG verschiedene, von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängige Versorgungsleistungen sind. Diese Auffassung ist mit dem Gesetz nicht vereinbar.
Die Gewährung der Pflegezulage sowohl nach § 35 Abs 1 Satz 1 als auch nach Satz 2 BVG setzt gleichermaßen voraus, daß der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos ist. Mit der verschiedenen - nach Stufen gegliederten - Regelung in Satz 1 und in Satz 2 hat der Gesetzgeber der Erfahrung und den Bedürfnissen der Beschädigten Rechnung getragen, daß das Ausmaß der Hilflosigkeit ganz verschieden sein kann und eine erhöhte Pflegebedürftigkeit dementsprechend erhöhte Aufwendungen erforderlich macht. Liegen "nur" solche Beeinträchtigungen durch Schädigungsfolgen vor, welche den Merkmalen des Satzes 1 entsprechen, ist eine Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren. Geht aber die Hilflosigkeit infolge der Schädigung über das in Satz 1 bezeichnete Maß hinaus und ist zB dauerndes Krankenlager (evtl mit weiteren Einschränkungen) oder außergewöhnliche Pflege erforderlich, dann kommt eine erhöhte Pflegezulage in Betracht. Welches Ausmaß die Hilflosigkeit durch Schädigungsfolgen und die dadurch bedingte Pflegebedürftigkeit erreichen und welche Stufe der Pflegezulage demnach zu gewähren ist, richtet sich - jedenfalls bei der erstmaligen Gewährung der Pflegezulage - nach dem Gesamtleidenszustand im Zeitpunkt der Antragstellung bzw im Zeitpunkt der Bescheiderteilung oder der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz. Für diesen Zeitpunkt ist die Kausalfrage dahin zu stellen, worauf, also auf welche Ursachen, der Gesamtleidenszustand zurückzuführen ist. Stellt sich dabei heraus, daß den Nichtschädigungsfolgen - wie hier bei der früheren Klägerin - die alleinige oder überragende Bedeutung zukommt und daß die Schädigungsfolgen nur von unwesentlicher Bedeutung sind, was das LSG hier unangefochten festgestellt hat, dann kann eine Pflegezulage nicht gewährt werden.
Die Auffassung der Rechtsnachfolger der ursprünglichen Klägerin, daß dann wenigstens eine Pflegezulage nach Stufe I zustehe, findet im Gesetz keine Stütze. Dabei würde ein rein fiktiver Leidenszustand konstruiert werden, der bei der früheren Klägerin niemals vorgelegen hat. Denn vor dem Schlaganfall war sie nicht hilflos, wobei noch auf das geringe Ausmaß der Schädigungsfolgen (MdE um 30 vH) hinzuweisen ist. Nach dem Schlaganfall bestand zwar Hilflosigkeit, aber das sehr schwerwiegende Krankheitsbild, das sofort zu einer schlaffen Halbseitenlähmung mit dauerndem Krankenlager und ständiger erhöhter Pflegebedürftigkeit geführt hatte, war nicht durch die Schädigung verursacht. Dieser Zustand der Hilflosigkeit war nicht nach § 35 Abs 1 Satz 1 BVG zu beurteilen, sondern unstreitig nach Absatz 1 Satz 2 aaO.
Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn der Gesamtleidenszustand zunächst eine Pflegezulage nach Stufe I rechtfertigt und dann infolge einer späteren Verschlimmerung der Schädigungsfolgen oder der Nichtschädigungsfolgen ein Zustand der erhöhten, nach § 35 Abs 1 Satz 2 BVG zu bemessenden Pflegebedürftigkeit eintritt, braucht für den vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden.
Zwar hat hier das Berufungsgericht gelegentlich zwischen "Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG" und einem Zustand "des dauernden Krankenlagers bzw außergewöhnlicher pflege (§ 35 Abs 1 Satz 2 BVG)" unterschieden. Aus dem angefochtenen Urteil insgesamt gesehen aber läßt sich entnehmen, daß das LSG angenommen hat, die frühere Klägerin sei zwar hilflos gewesen, aber dieser Zustand sei überwiegend durch die Folgen des Schlaganfalls und nicht etwa durch die Schädigungsfolgen verursacht. Dies ergibt sich zur Gewissheit des Senats aus der Auseinandersetzung mit den erstatteten ärztlichen Gutachten. In diesem Zusammenhang hat das Vordergericht auch das Gutachten des Facharztes für Chirurgie, Oberarzt Dr. J., berücksichtigt. Beim Abwägen der Auffassung dieses Sachverständigen gegenüber den übrigen erstatteten ärztlichen Gutachten, welche das LSG im einzelnen bezeichnet hat, hat es dargelegt, daß der Gesamtleidenszustand infolge seiner Schwere von dem apoplektischen Insult, nicht aber von den anerkannten Schädigungsfolgen in dem Sinne geprägt war, daß letztere als Ursachen im Rechtssinne auch bei einer Mitverursachung nicht in Betracht kommen. Diese, der Abwägung der Kausalität zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen, sind mit der Revision nicht angegriffen worden. Im Gegenteil, die Revision bestätigt ausdrücklich, daß für den Gesamtleidenszustand eine Verursachung bzw Mitverursachung durch die Schädigungsfolgen ausscheidet.
Wenn auch die Rechtsauffassung des LSG zur Systematik des § 35 BVG nicht frei von Bedenken ist, so kann doch das Ergebnis, zu dem das Berufungsgericht gelangt ist, aufrechterhalten werden (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Die notwendigen tatsächlichen Feststellungen hat das LSG getroffen. Sie sind von der Revision nicht angegriffen worden und binden deshalb das Revisionsgericht. Der Senat hat für seine Entscheidung eine ausreichende Grundlage. Deshalb war im Ergebnis die Revision zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen