Leitsatz (amtlich)

Zum Begriff der Abkommenszeit iS von Art 4 Abs 2 RV/UVAbk Polen vom 9.10.1975 (Abweichung von BSG vom 25.11.1986 - 11a RA 58/85 = BSGE 61, 30 = SozR 6710 Art 4 Nr 5, Anschluß an BSG vom 21.6.1989 - 1 RA 53/88).

 

Normenkette

RV/UVAbk POL Art 4 Abs 2 Fassung: 1975-10-09; RVO § 1250 Abs 1 Buchst a; RV/UVAbk POL Art 15 Abs 2 Fassung: 1975-10-09; RV/UVAbkPOLG Art 2 Abs 1 Fassung: 1976-03-12

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 12.11.1987; Aktenzeichen L 10 J 57/87)

SG Lüneburg (Entscheidung vom 14.11.1986; Aktenzeichen S 5 J 267/84)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der dem Kläger von der Beklagten gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) streitig.

Der 1919 in P.       bei F.      /Schlesien geborene Kläger erlernte den Beruf des Drogisten. Vom April 1934 bis März 1937 war er als Lehrling, danach bis September 1937 als Drogistengehilfe in einer Drogerie seines Geburtsortes tätig. Ab Oktober 1937 bis zur Einberufung zur Wehrmacht im Oktober 1940 war er als Verkäufer in einer Drogerie in R.          (E.          ) in Schlesien tätig. Nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Oktober 1946 war er zunächst bis 1952 versicherungspflichtig beschäftigt und später als selbständiger Drogist tätig.

Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 19. September 1979 stellte die Beklagte den Versicherungsverlauf des Klägers fest; Beschäftigungszeiten von April 1934 bis September 1940 erkannte sie nicht als Versicherungszeiten an, weil bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) keine Versicherungsunterlagen vorhanden seien.

Mit Bescheid vom 8. November 1982 bewilligte die Beklagte dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit. Mit seinem Widerspruch dagegen beantragte der Kläger Berücksichtigung von Beitragszeiten ab 1940 und sogleich die Überprüfung des Bescheides vom 19. September 1979 wegen der vor 1940 liegenden Versicherungszeiten. Die Beklagte half mit Bescheid vom 22. April 1983 teilweise ab, beließ es aber hinsichtlich der Zeit von April 1934 bis Oktober 1940 ausdrücklich bei den Feststellungen des bestandskräftigen Bescheides vom 19. September 1979. Wegen der beantragten Überprüfung der geltend gemachten Versicherungszeit von 1934 bis 1940 erließ die Beklagte gemäß § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) am 30. September 1983 einen gesonderten Bescheid, mit dem sie ihren ursprünglichen Bescheid vom 19. September 1979 bestätigte. Den Widerspruch des Klägers hiergegen lehnte sie, nachdem sie mit gesondertem Bescheid vom 9. April 1984 dessen Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umgewandelt hatte, mit Bescheid vom 11. Juli 1984 ab.

Mit Urteil vom 14. November 1986 gab das Sozialgericht (SG) der dagegen erhobenen, auf die Geltendmachung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit vom 1. April 1937 bis 5. Oktober 1940 beschränkten Klage statt und verurteilte die Beklagte, den Zeitraum vom 1. April 1937 bis zum 5. Oktober 1940 als glaubhaft gemachte Beitragszeit anzuerkennen und rentensteigernd zu berücksichtigen. Die Behauptung des Klägers, daß seine Versicherungsunterlagen beim Arbeitgeber bei Kriegsende in Schlesien verlorengegangen bzw vernichtet worden seien, sei glaubhaft gemacht worden.

Auf die von der Beklagten hiergegen eingelegte Berufung hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Die vom Kläger behauptete Beitragszeit sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht worden. Eine Anerkennung der streitigen Zeit als Versicherungszeit komme auch nicht nach den Vorschriften des Sozialversicherungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen - DPSVA - vom 9. Oktober 1975 (BGBl II 1976, 396) in Betracht, da der Kläger nicht zu dem vom Abkommen erfaßten Personenkreis gehöre.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen und formellen Rechts.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 1. April 1937 bis zum 5. Oktober 1940 nach Art 4 der Durchführungsvereinbarung zum deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen vom 9. Oktober 1975 anzuerkennen, hilfsweise, die LVA-Hannover zu verurteilen, die Zeit vom 1. April 1937 bis zum 5. Oktober 1940 als glaubhaft gemachte Beitragszeit in der Angestelltenversicherung anzurechnen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die kraft Zulassung durch das LSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch darauf, daß die Zeit vom 1. April 1937 bis 5. Oktober 1940 bei der Berechnung seiner Rente wegen Erwerbsunfähigkeit rentensteigernd berücksichtigt wird. Die Beklagte mußte demgemäß ihren bestandskräftigen Bescheid vom 19.  September 1979 nicht gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zurücknehmen.

Die vom Kläger beantragte Anrechnung ist nur möglich, wenn für die streitige Zeit eine Beitragsentrichtung zur deutschen Rentenversicherung gemäß § 1250 Abs 1 Buchstabe a RVO nachgewiesen oder nach den §§ 1, 10 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960 (BGBl I 137) zumindest glaubhaft gemacht worden ist. Beides hat das LSG rechtsfehlerfrei verneint. Die von ihm dazu getroffenen tatsächlichen Feststellungen hat der Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angegriffen, so daß das Revisionsgericht gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an sie gebunden ist. Der Vortrag des Klägers zu den Versicherungskarten zielt inhaltlich darauf, die entsprechende Beweiswürdigung durch das LSG in Frage zu stellen. Es ist aber nicht zu erkennen, daß das angefochtene Urteil insoweit auf einem Verfahrensfehler beruht, insbesondere das LSG bei der Beweiswürdigung Denkgesetze verletzt hat. Wenn das Gericht aus der Auskunft der BfA, für den Kläger lägen in ihrem Archiv keine entsprechenden Versicherungsunterlagen vor, obwohl gerade im Namensbereich des Klägers die Unterlagen der früheren Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) erhalten geblieben seien, den negativen Schluß zieht, daß für den Kläger eben keine Beitragsmarken in der fraglichen Zeit geklebt worden seien, so ist das nicht zu beanstanden. In gleicher Weise ist die Ableitung durch das LSG, eine Beitragsentrichtung sei auch nicht glaubhaft gemacht, nicht als fehlerhaft zu bezeichnen. Die vom Kläger vorgetragene Möglichkeit, daß gelegentlich vielleicht doch mehr als 24 Beitragsmarken auf eine Versicherungskarte geklebt wurden, entkräftet nicht die Plausibilität der Gedankenführung des LSG, daß beim Kläger immerhin fast 20 Beitragsmarken zusätzlich und unzulässigerweise auf eine Versicherungskarte hätten geklebt werden müssen, daher allenfalls eine Glaubhaftmachung für die Zeit ab dem 25. Beschäftigungsmonat in Betracht komme. Die hierauf bezogenen Ausführungen des LSG sind prozeßrechtlich nicht zu beanstanden.

Entgegen der Ansicht des Klägers kann eine rentensteigernde Anrechnung der streitigen Zeit auch nicht in Anwendung des DPSVA vom 9. Oktober 1975 (BGBl II 1976, 396) und dem dazu ergangenen Zustimmungsgesetz vom 12. März 1976 (BGBl II 1976, 393) hergeleitet werden. Nach Art 4 Abs 2 DPSVA berücksichtigt der Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt (Wohnstaat), bei Feststellung der Rente nach den für ihn geltenden Vorschriften "Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat" so, als ob sie im Gebiet des Wohnstaates zurückgelegt worden wären. Dies gilt auch für entsprechende Zeiten, die vor Inkrafttreten des DPSVA zurückgelegt worden sind (Art 15 Abs 2 DPSVA). Dazu erläutert Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes, daß Zeiten, die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigen sind, gemäß Art 4 Abs 2 des Abkommens in demselben zeitlichen Umfang in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in entsprechender Anwendung des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 zu berücksichtigen sind, solange der Berechtigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes wohnt. Soweit sich Zeiten nach Abs 1 mit Zeiten überschneiden, die nach deutschem Recht zu berücksichtigen sind, werden gemäß Abs 2 der Vorschrift die erstgenannten Zeiten berücksichtigt; dies gilt nicht für Zeiten, für die Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden sind.

Die Zeiten, deren Anrechnung der Kläger begehrt, sind für die Beklagte als Versicherungsträger des Wohnstaates keine Zeiten "im anderen Staat" iS des DPSVA. Die Stadt R.          im E.        , in der der Kläger in der streitigen Zeit als Verkäufer tätig war, gehörte zum Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 und unterlag damals dem deutschen Sozialversicherungsrecht und damit auch dem Angestelltenversicherungsgesetz. Der erkennende Senat ist mit dem früheren 11a Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 25. November 1986 - 11a RA 58/85 - (BSGE 61, 30 = SozR 6710 Art 4 Nr 5) und dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil des 1. Senats des BSG vom 21. Juni 1989 - 1 RA 53/88 - der Meinung, daß das DPSVA zwar die unter polnischer Verwaltung stehenden früheren deutschen Ostgebiete in Ansehung des Abkommens zu dem Gebiet der Volksrepublik Polen rechnet, ohne über die völkerrechtliche Zuordnung im übrigen zu entscheiden. Wie der 1. Senat aaO zu Recht herausgestellt hat, bedeutet das aber nicht, daß jede Zeit vor oder nach dem Beginn der polnischen Verwaltung über die früheren deutschen Ostgebiete, die auf dem Territorium der heutigen Volksrepublik Polen zurückgelegt worden und nach deren innerstaatlichem Recht zu berücksichtigen ist, für Personen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik als Zeit "im anderen Staat" zu gelten hat. Denn abweichend von der Ansicht des 11a Senats (aaO) stellt diese Formulierung nicht auf den Geltungsbereich rechtlicher Normen bei Vertragsabschluß - das Jahr 1975 - ab, sondern darauf, zu welchem Rechtskreis der Beschäftigungsort zu der konkreten Zeit zählte, als dort die fraglichen Beitragszeiten zurückgelegt worden sein sollen. Der ausführlichen Begründung dieser Rechtsauffassung, die der 1. Senat in seinem angeführten Urteil gegeben hat, schließt sich der erkennende Senat vollinhaltlich an. Beschäftigungszeiten wie die hier im Streit stehenden Zeiten, die in einem ehemals zum Deutschen Reich gehörenden Gebiet unter der Geltung der Reichsversicherungsgesetze zurückgelegt worden sind, sind für Personen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland von vornherein nicht Gegenstand des Abkommens gewesen und können daher auch nicht als Abkommenszeiten jetzt bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden.

Der Revision des Klägers mußte nach allem der Erfolg versagt bleiben; sie war zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666285

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