Leitsatz (amtlich)
Hat zunächst eine Stelle der Ärztekammer über die Befreiung eines Kassenarztes vom Notfalldienst entschieden und tritt während des Widerspruchsverfahrens eine Notfalldienstordnung in Kraft, nach der nunmehr die KÄV für die Befreiung von Kassenärzten zuständig ist, so gilt diese Rechtsänderung - mangels abweichender Bestimmungen in der Notfalldienstordnung - auch für anhängige Widerspruchsverfahren; in einem solchen Fall hat deshalb die Widerspruchsstelle der KÄV (hier: ihr Vorstand) über den Widerspruch zu entscheiden.
Normenkette
RVO § 368n Abs. 1 S. 1 Fassung: 1955-08-17; SGG § 85 Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2. Juli 1975 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger, der als Kassenarzt Mitglied der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) ist, beantragte im März 1972 bei der - damals noch für die Durchführung des ärztlichen Notfalldienstes zuständigen - Ärztekammer N (ÄK), ihn aus gesundheitlichen Gründen vom Notfalldienst zu befreien. Die örtlich zuständige Kreisstelle der ÄK lehnte den Antrag mit einem Bescheid vom 26. Mai 1972 ab; gegen ihn legte der Kläger Widerspruch ein. Im Laufe des Widerspruchsverfahrens trat eine "Gemeinsame Notfalldienstordnung der Ärztekammer N und der Kassenärztlichen Vereinigung N" in Kraft; danach entscheidet nunmehr über Befreiungsanträge von Mitgliedern der Beklagten der örtlich zuständige Kreisstellenvorstand der KÄV und über den Widerspruch des Arztes der Vorstand der KÄV. Aufgrund dieser Bestimmungen gab die ÄK das bei ihr anhängige Widerspruchsverfahren des Klägers an die Beklagte ab. Deren Vorstand wies den Widerspruch mit Bescheid vom 18. Juni 1973 zurück, nachdem der Vorsitzende der örtlich zuständigen Kreisstelle der KÄV in einem an den Vorstand der Beklagten gerichteten Schreiben vom 23. März 1973 eine Heranziehung des Klägers zum Notfalldienst für zumutbar gehalten hatte.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage als unbegründet abgewiesen (Urteil vom 29. März 1974). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil geändert und den - vom Kläger im Hauptantrag allein noch angefochtenen - Widerspruchsbescheid der Beklagten aufgehoben: Für ihn sei kein Raum gewesen, da ihm kein im sozialgerichtlichen Vorverfahren nachprüfbarer Verwaltungsakt vorausgegangen sei; den - nicht von einer Einrichtung der Beklagten erlassenen - Bescheid der Kreisstelle der ÄK habe die Beklagte nach § 85 Abs. 2 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht überprüfen dürfen; ihren Zuständigkeitsbereich habe auch die Gemeinsame Notfalldienstordnung nicht erweitert und - mangels einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung - nicht erweitern können. Im übrigen betreffe der Bescheid nicht den kassenärztlichen, sondern den allgemeinen ärztlichen Notfalldienst, für den weiterhin allein die ÄK zuständig sei; ein Zuständigkeits- oder Funktionswechsel sei mit der Notfalldienstordnung nicht eingetreten. Nach Erlaß des Widerspruchsbescheides könne der fehlende Erstbescheid nicht mehr nachgeholt werden, da das Widerspruchsverfahren der "Eigen- oder Selbstkontrolle" der Verwaltung diene; eine solche finde nicht statt, wenn an Stelle "des zunächst üblichen Verwaltungsakts der Widerspruchsbescheid unmittelbar sofort erlassen" werde. Abschließend hat das LSG der Beklagten bestimmte Weisungen für die weitere Behandlung der Sache gegeben (Urteil vom 2. Juli 1975).
Die Beklagte hat die mit Beschluß des Senats vom 26. März 1976 zugelassene Revision eingelegt. Sie macht im wesentlichen geltend, mit dem Inkrafttreten der Notfalldienstordnung sei die Zuständigkeit für die Entscheidung über Befreiungsanträge ihrer Mitglieder auf sie übergegangen. Das gelte auch, wenn der Erstbescheid von einer Stelle der ÄK erlassen worden sei. In diesem Sinne habe bereits das Bundessozialgericht (BSG) in einem ähnlichen Fall am 21. November 1972 entschieden. Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der beklagten KÄV ist begründet. Das LSG hätte ihren - selbständig anfechtbaren (vgl. auch § 79 Abs. 1 und Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960) - Widerspruchsbescheid nicht aus verfahrensrechtlichen Gründen aufheben dürfen, sondern hätte ihn auf seine inhaltliche Richtigkeit prüfen müssen.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts hat der Vorstand der Beklagten mit Recht über den Widerspruch des Klägers entschieden, obwohl der Erstbescheid nicht von einer Stelle der Beklagten erlassen worden ist. Die Gemeinsame Notfalldienstordnung der ÄK Nordrhein und der Beklagten vom 1. Dezember 1972, die sich - soweit sie den Notfalldienst von Mitgliedern der Beklagten betrifft - auf § 368 n Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm § 6 Abs. 4 des Bundesmantelvertrages für Ärzte und § 4 Abs. 8 der Satzung der Beklagten stützt, hat auch das Verfahren für die Heranziehung zum und die Befreiung vom Notfalldienst neu geregelt. Danach entscheidet nunmehr über Anträge auf Befreiung von Mitgliedern der Beklagten deren örtlich zuständiger Kreisstellenvorstand nach Anhörung des Kreisstellenvorstandes der ÄK Nordrhein (§ 3 Nr. 2 a); über den Widerspruch des betroffenen Arztes entscheidet, sofern ihm der Kreisstellenvorstand der Beklagten nicht abhilft, ihr Vorstand nach Anhörung des Präsidenten der ÄK Nordrhein (§ 3 Nr. 3 a). Diese Bestimmungen sind am 1. Januar 1973 in Kraft getreten, Seitdem ist der Vorstand der Beklagten die zuständige Widerspruchsstelle für Befreiungsanträge von Mitgliedern der KÄV. Das gilt auch für Fälle, in denen der Befreiungsantrag vor dem 1. Januar 1973 gestellt worden ist und wie hier, ein Organ der ÄK den Erstbescheid erlassen hat. Daß diese "Übergangsfälle" von der Neuregelung der Zuständigkeit ausgenommen sein sollen was rechtlich möglich, wenn auch wenig zweckmäßig gewesen wäre-, ist der Notfalldienstordnung nicht zu entnehmen und hat ihr auch das LSG nicht entnommen. Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat vielmehr der Vorstand der Beklagten den Widerspruchsbescheid deshalb nicht erlassen dürfen, weil der Erstbescheid nicht von einer Einrichtung der Beklagten, sondern einer Stelle außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs erlassen worden sei und daher kein im Wege der "Eigen- oder Selbstkontrolle" nachprüfbarer Verwaltungsakt vorgelegen habe; daß die Beklagte nur ihre eigenen Entscheidungen einer Nachprüfung unterziehen könne, ergebe sich aus § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG. Schon dieser Hinweis auf § 85 SGG zeigt, daß das LSG die von ihm angenommene Unzulässigkeit des von der Beklagten erlassenen Widerspruchsbescheides nicht aus der Notfalldienstordnung selbst, d. h. einer nur im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden und deshalb für den Senat irrevisiblen Regelung (§ 162 SGG), sondern aus Vorschriften und Grundsätzen des Bundesrechts abgeleitet hat. Seine Auffassung kann daher vom Senat voll nachgeprüft werden.
Zuzustimmen ist dabei dem LSG im Ausgangspunkt seiner Überlegungen, daß jede Instanz der Verwaltung, zu der auch die Widerspruchsstellen gehören, auf ihren Zuständigkeitsbereich beschränkt ist, eine Widerspruchsstelle der Sozialversicherung mithin nur Verwaltungsakte aus dem Bereich der Sozialversicherung nachprüfen darf. Ob dies aus § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG folgt, wie das LSG gemeint hat, braucht nicht entschieden zu werden. Nach dieser Vorschrift erläßt den Widerspruchsbescheid "in Angelegenheiten der Sozialversicherung" die von der Vertreterversammlung bestimmte Stelle. Daß zu den Angelegenheiten der Sozialversicherung auch die Einrichtung eines Notfalldienstes gehört, wenn und soweit dieser von Kassenärzten durchzuführen ist, ergibt sich aus § 368 n Abs. 1 RVO, der den Kassenärztlichen Vereinigungen die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Versicherten - einschließlich der Versorgung in Notfällen - überträgt (vgl. BSG 33, 165, 166). Mit der Einrichtung eines solchen Notfalldienstes werden alle Maßnahmen, die seiner Durchführung dienen, insbesondere die Heranziehung von Kassenärzten zum Notfalldienst und- als ihr Gegenstück - Entscheidungen über eine beantragte Befreiung, zu Angelegenheiten der Sozialversicherung, gleichgültig, ob und welche Stellen bisher darüber entschieden haben. Waren dies, wie hier, Organe der ÄK, dann ist auch die Nachprüfung eines Bescheides, den eine solche Stelle einem Kassenarzt auf einen Befreiungsantrag erteilt hat, eine Angelegenheit der Sozialversicherung, die von der nach § 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG bestimmten Widerspruchsstelle (die auch der Vorstand der KÄV sein kann, vgl. BSG 27, 146, 148; 28, 73, 74) zu entscheiden ist.
Offen bleiben kann ferner, ob es der Funktion des Widerspruchsverfahren als einer Einrichtung der "Selbstkontrolle" der Verwaltung und den Erfordernissen einer geordneten Verwaltung entspricht, daß eine Widerspruchsstelle grundsätzlich nur Verwaltungsakte einer ihr im Instanzenzug nachgeordneten Stelle überprüfen darf, jedenfalls nicht Verwaltungsakte, die von Stellen erlassen sind, die - wie die Organe der ÄK im Verhältnis zu denen der KÄV - einer anderen Körperschaft angehören, zumal wenn diese Akte in einem anderen Rechtsweg (hier: vor den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit) anzufechten sind (vgl. auch BSG 24, 134: keine gemeinsame Widerspruchsstelle für mehrere Versicherungsträger).
Auch wenn ein Grundsatz dieses Inhalts für das Widerspruchsverfahren bestehen sollte, so kann er jedenfalls nicht ausnahmslos gelten, insbesondere dann nicht, wenn nach Einlegung eines Widerspruchs bei der bisher zuständigen Stelle deren Zuständigkeiten ganz oder teilweise auf eine andere Stelle übergehen. Wird dabei nicht ausdrücklich bestimmt, daß die anhängigen Widerspruchsfälle noch von der zunächst angerufenen Stelle zu entscheiden sind, dann werden auch diese Fälle von dem Zuständigkeitswechsel erfaßt. Daß es dazu einer "entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung" bedarf, ist entgegen der Ansicht des LSG nicht anzunehmen. Aus der Ermächtigung, die bisherige Zuständigkeitsordnung neu zu regeln, folgt ohne weiteres die Befugnis, in die Neuregelung auch bereits anhängige Fälle einzubeziehen, was schon deshalb zweckmäßig ist, weil sonst für eine mehr oder weniger lange Übergangszeit mehrere Verwaltungsinstanzen nebeneinander für die Entscheidung gleichartiger Fälle zuständig wären. Die vom LSG für seine abweichende Auffassung angeführten Äußerungen im Schrifttum sprechen nicht gegen die hier vertretene Ansicht; sie betreffen im wesentlichen nur den - unbestreitbaren - Grundsatz, daß jede Verwaltungsinstanz auf ihren Zuständigkeitsbereich beschränkt ist (vgl. Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl., § 72, besonders unter IV; Rudolf in Erichsen-Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 442 ff).
Im übrigen hat auch das LSG nicht angenommen, daß nach Aufhebung des Widerspruchsbescheids der Beklagten nunmehr die ÄK über den Widerspruch des Klägers zu entscheiden habe; in seinem Urteil hat es nämlich abschließend der beklagten KÄV bestimmte Weisungen für die weitere Behandlung der Sache gegeben. Dies kann, da das LSG die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens seitens der Beklagten gegenwärtig für unzulässig gehalten hat, nur bedeuten, daß zunächst eine Kreisstelle der Beklagten einen neuen Bescheid zu erlassen habe, was wiederum erst nach Aufhebung des bereits vorliegenden, von einer Kreisstelle der ÄK erlassenen Bescheides geschehen könnte. Wer für diese Aufhebung zuständig sein soll, hat das LSG offen gelassen; in Betracht käme vom Standpunkt des LSG wohl nur eine Widerspruchsstelle der ÄK. Für eine derart umständliche Gestaltung des Verfahrens besteht indessen - jedenfalls in Fällen, in denen, wie hier, nach Einlegung des Widerspruchs ein Zuständigkeitswechsel mit Wirkung auch für anhängige Sachen eingetreten ist - keine sachliche Notwendigkeit. Ob sie sich dann nicht vermeiden läßt, wenn nicht eine Änderung der Zuständigkeit eingetreten, sondern schon der Erstbescheid von einer unzuständigen Stelle erlassen und wegen dieses Verfahrensfehlers mit dem Widerspruch angefochten worden ist, kann auf sich beruhen, da ein solcher Fall hier nicht vorliegt.
Die Beklagte hat schließlich mit Recht darauf hingewiesen, daß der Senat schon früher in einem ähnlichen Fall einen Widerspruchsbescheid einer KÄV nicht deswegen als rechtswidrig aufgehoben hat, weil ihm ein Bescheid zugrunde lag, den eine - damals möglicherweise sogar unzuständige - Kreisärzteschaft erlassen hatte (SozR Nr. 28 zu § 12 SGG).
Hiernach hätte auch im vorliegenden Fall das LSG den Widerspruchsbescheid der Beklagten auf seine inhaltliche Richtigkeit prüfen müssen. Zur Nachholung dieser Prüfung ist der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.
Fundstellen