Leitsatz (amtlich)
Das Tatbestandsmerkmal "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" erfordert zwar keine örtliche Verbindung der Gefahrenquelle mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen, es ist aber nur erfüllt, wenn der schädigende Vorgang einer Gefahrenquelle entspringt, der eine Verbindung mit typischem Kriegsgeschehen eigen ist; eine solche Verbindung fehlt, wenn ein Unfall durch Hantieren mit einer pulvergefüllten Glasflasche entstanden ist, mag auch das Pulver aus einer gefundenen Stabbrandbombe herrühren.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, §§ 1, 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07, § 5 Abs. 1 Buchst. e
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. November 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Im Mai 1944 fand der damals 14 1/2jährige Kläger, der als Lok-Junghelfer in einem Reichsbahnbetriebswerk beschäftigt war, am Waldrand in der Nähe seiner Wohnung eine Stabbrandbombe und nahm sie mit nach Hause. Dort entfernte er den Zünder, entleerte das Pulver und füllte es in eine Glasflasche. Später holte er die Glasflasche wieder, schüttete daraus Pulver auf den Bürgersteig, vermengte es mit Papierschnitzeln und zündete es mit einem Streichholz an. Als er Pulver aus der Flasche auf das brennende Gemenge nachschüttete, explodierte die Flasche. Durch die Explosion erlitt der Kläger erhebliche Verletzungen; die linke Hand und der rechte Daumen mußten abgenommen werden.
Der Kläger beantragte im März 1950 Gewährung einer Versorgungsrente nach dem Hessischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) vom 8. April 1947 wegen Verlustes der linken Hand und des rechten Daumens. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 26. Oktober 1950 ab, weil eine unmittelbare Kriegseinwirkung nicht vorgelegen habe. Das Sozialgericht Wiesbaden wies die Klage durch Urteil vom 13. Juli 1954 ab; die Berufung des Klägers wies das Hessische Landessozialgericht durch Urteil vom 5. November 1955 zurück; die Revision ließ es zu: Es komme nicht darauf an, ob sich der Kläger der Gefährlichkeit seines Handelns bewußt geworden sei und seinen Willen demgemäß habe bestimmen können; das Tatbestandsmerkmal "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich", das Anspruchsvoraussetzung sei, sei nicht gegeben; es fehle die örtliche Verbindung mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen.
Das Urteil wurde dem Kläger am 15. Dezember 1955 zugestellt. Am 29. Dezember 1955 legte er Revision ein und beantragte, die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen des Verlustes der linken Hand und des rechten Daumens vom 1. Oktober 1950 an eine Versorgungsrente zu gewähren. Er begründete die Revision am 16. Januar 1956: Das Landessozialgericht habe die Vorschriften des § 1 Abs. 1 KBLG (§§ 1, 5 Abs. 1 e BVG) und der dazu ergangenen Durchführungsvorschriften unrichtig ausgelegt. Durch die Mitnahme der Stabbrandbombe in die Wohnung sei die örtliche Verbindung mit dem Kriegsgeschehen nicht unterbrochen worden. Der ursächliche Zusammenhang hätte nur durch ein "eigenverantwortliches Handeln" des Klägers unterbrochen werden können. Der Kläger habe aber die Fähigkeit, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen, nicht gehabt; er sei in einer kinderreichen Familie ohne genügende Erziehung aufgewachsen.
Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist zulässig, sie ist aber nicht begründet.
Das Landessozialgericht hat das angefochtene Urteil auf § 1 Abs. 1 des Hessischen KBLG vom 8. April 1947 (GVBl. S. 19) und auf § 2 Abs. 1 Buchstabe e der Ersten Hessischen Durchführungsverordnung DVO) vom 28. Januar 1950 (GVBl. S. 40) gestützt. Beide Vorschriften sind revisibel im Sinne des § 162 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das Hessische KBLG ist, wie auch das Bayerische Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte vom 26. März 1947 (GVOBl. S. 107) und das Württ.-Badische Gesetz Nr. 74 über Leistungen an Körperbeschädigte vom 21. Januar 1947 (RegBl. S. 7), nach Art. 125 Nr. 1 des Grundgesetzes (GG) mit dem Inkrafttreten des GG Bundesrecht geworden (vgl. hierzu BSG. 1 S. 56 ff. (59) und Urteil des BSG. vom 16.10.1956, 10 RV 315/54). Die DVO zum Hessischen KBLG ist, jedenfalls hinsichtlich des hier in Betracht kommenden § 2, überbezirkliches Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG, da sie mit den Durchführungsverordnungen zu dem Bayerischen KBLG und dem Württ.-Badischen Gesetz Nr. 74 insoweit inhaltlich übereinstimmt.
§ 1 Abs. 1 des Hessischen KBLG bestimmt, daß Personen, die durch unmittelbare Kriegseinwirkung Gesundheitsschäden erlitten haben, Versorgung erhalten; nach § 2 e der Ersten DVO zu diesem Gesetz sind unmittelbare Kriegseinwirkungen insbesondere: Nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Die Anspruchsvoraussetzungen sind also dieselben wie nach den §§ 1, 5 Abs. 1 e des Bundesversorgungsgesetzes (BVG): es müssen kriegerische Vorgänge einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hervorgerufen haben, dieser Gefahrenbereich muß sich nachträglich, d. h. im zeitlichen Abstand zu den kriegerischen Vorgängen, aber in ursächlichem Zusammenhang mit ihnen, schädigend ausgewirkt haben. Wirkt sich also ein kriegerischer Vorgang nachträglich schädigend aus, so ist dies versorgungsrechtlich nur dann erheblich, wenn der kriegerische Vorgang zunächst einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hat und die Schädigung diesem entspringt (BSG. 2, S. 1 (2); BSG. 1, S. 72 (75)). Der Tatbestand, an den der Versorgungsanspruch geknüpft ist, umfaßt hiernach eine Ursachenreihe, die sich aus drei Gliedern zusammensetzt: Kriegerischer Vorgang, kriegseigentümlicher Gefahrenbereich, schädigendes Ereignis in nachträglicher Auswirkung eines solchen Gefahrenbereichs. Für das Vorliegen des Zwischengliedes, des Tatbestandsmerkmals "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich", genügt es nicht, daß Gefahren in kriegseigentümlicher Weise entstanden sind. Sie müssen vielmehr auch nach ihrer Entstehung fortwirkend kriegseigentümlich geblieben sein und bis zum Eintritt des schädigenden Ereignisses in dieser Weise fortbestanden haben (vgl. Urteil des BSG. vom 22.1.1957 - 10 RV 435/55).
Sicherlich kann nun das Herumliegen einer Brandbombe an einem allgemein zugängigen Ort einen Gefahrenherd begründen, der kriegseigentümlichen Charakter trägt; wenn aber das Landessozialgericht meint, der Begriff "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" setze eine örtliche Verbindung mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen, dem Abwurf und dem späteren Herumliegen der Brandbombe, voraus, eine Verlagerung des gefährlichen Gegenstands an einen anderen Ort durch andere Einwirkungen löse die Verbindung mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen, so kann dem nicht gefolgt werden. Diese enge Auslegung kann aus den gesetzlichen Bestimmungen nicht hergeleitet werden (vgl. auch Rohwer-Kahlmann, BVBl. 1951 S. 461). Die Eigenart des Begriffs "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" erfordert weder eine zeitliche noch eine örtliche Verbindung mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen. Es ist sehr wohl möglich, daß auch bei einer "Verlagerung" des Spreng- oder Brandkörpers von dem Ort, an dem er ursprünglich den kriegsbedingten Gefahrenzustand hervorgerufen hat, dieser Zustand aufrechterhalten bleibt. So ist es jedenfalls dann, wenn der Spreng- oder Brandkörper aus Unachtsamkeit verschleppt oder zur Unschädlichmachung oder Sicherstellung fortgeschafft wird. Der Begriff "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" ist nicht durch eine örtliche Begrenzung gekennzeichnet, etwa in der Weise, daß nur die Abwurfstelle einer Brandbombe seine Merkmale erfüllt (vgl. auch BSG 1, S. 72, 75).
Zutreffend ist dagegen die Annahme des Landessozialgerichts, daß es notwendig ist, kriegseigentümliche Gefahrenbereiche, wie sie dem Herumliegen einer Bombe entspringen, zu begrenzen und schädigende Vorgänge, wie sie sich hier abgespielt haben, besonderen, von dem Kriegsgeschehen zu trennenden Gefahrenbereichen zuzuordnen. Von einem "kriegseigentümlichen Gefahrenbereich" kann nämlich jedenfalls dann nicht gesprochen werden, wenn das schädigende Ereignis einer Gefahrenquelle entspringt, der eine Verbindung mit dem typischen Kriegsgeschehen nicht mehr eigen ist.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Landessozialgerichts, von denen das Revisionsgericht auszugehen hat (§ 163 SGG), ist das schädigende Ereignis nicht von der Bombe selbst ausgegangen. Es ist auch nicht durch das Hantieren mit der Bombe entstanden; es hat auch das Zerlegen der Bombe in ihre Bestandteile noch keinen Schaden ausgelöst. Ausgegangen ist der schädigende Vorgang von der mit Pulver gefüllten Glasflasche, aus der Pulver auf ein angezündetes Gemenge von Pulver und Papier nachgeschüttet wurde. Demgegenüber ist die Bedeutung der Brandbombe in dem Ablauf des Geschehens mehr und mehr zurückgetreten. Das Manipulieren und das Experimentieren mit der pulvergefüllten Glasflasche ist eine Gefahrenquelle besonderer Art gewesen; ihr hat etwas Kriegseigentümliches nicht mehr angehaftet. Es ist das gefährliche Experiment und das unvorsichtige Umgehen mit feuergefährlichen oder explosiven Stoffen, sei es aus Neugier, sei es aus Spieltrieb, sei es zu Versuchszwecken, das hier im Vordergrund steht. Eine solche Gefahrenquelle bringt das Leben auch ohne Krieg und Kriegsauswirkungen mit sich; ähnliche Gefahrenquellen sind z. B. vorhanden, wenn jemand in der Silvesternacht oder auf Jahrmärkten mit Feuerwerkskörpern hantiert oder wenn mit einer Spiritusflasche oder mit Karbid unvorsichtig umgegangen wird. Die Verbindung des schädigenden Geschehens mit dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich, der durch das Herumliegen der Bombe begründet worden ist, bestellt hier nur darin, daß eines der Mittel für das gefährliche Experiment aus der Stabbrandbombe herrührte. Diese Verbindung ist eine nur lose, keineswegs zwangsläufige und mehr zufällige. Ein schädigender Vorgang dieser Art wäre genau so denkbar, wenn sich der Kläger das Pulver anderweitig beschafft hätte, z. B. dadurch, daß er es - wie er zunächst auch tatsächlich angegeben hat - aus Sprengkapseln der Reichsbahn entnommen oder wenn er die Flasche mit einem anderen gefährlichen Stoff gefüllt hätte. Die Frage, woher das Pulver herrührte, kann hier ebensowenig von Bedeutung sein, wie die, woher Glasflasche, Papierschnitzel und Streichholz stammten, derer sich der Kläger bedient hatte. Es kommt vielmehr darauf an, ob das Geschehen, das zu der Schädigung führte, als solches kriegseigentümlichen Charakter trug. Das aber war nicht der Fall.
Nach dem Sinn und Zweck des gesetzlichen Tatbestands, aus dem hier der Anspruch hergeleitet wird, kam es dem Gesetzgeber darauf an, die Fälle versorgungsrechtlich zu schützen, die dem typischen Kriegsgeschehen, den Erscheinungsformen des Krieges mit seinen Auswirkungen zuzuordnen sind, nicht aber die Fälle, die keine anormalen Lebenstatbestände darstellen und keine Kriegserscheinung sind.
Wenn der Kläger ausführt, der kriegseigentümliche Gefahrenbereich habe bis zu dem schädigenden Vorgang fortbestanden, sein eigenes Tun sei nicht geeignet gewesen, den ursächlichen Zusammenhang zu "unterbrechen" und den kriegseigentümlichen Gefahrenbereich aufzuheben, mangels "Einsichtsfähigkeit" könne er für sein Handeln nicht verantwortlich gemacht werden, so ist demgegenüber zu beachten, daß hier nicht etwa die fehlende ursächliche Verknüpfung zwischen kriegerischem Vorgang und schädigendem Ereignis den Versorgungsanspruch scheitern läßt; entscheidend ist vielmehr, daß es an einem anderen Tatbestandsmerkmal des Versorgungsanspruchs fehlt, nämlich an dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich, dem die Schädigung entsprungen sein muß. Der kriegseigentümliche Gefahrenbereich hätte möglicherweise durch die Mitnahme der Bombe, vielleicht auch durch das Hantieren mit ihr unberührt bleiben können (vgl. hierzu BSG. 1 S. 72), soweit die von der Bombe ausgehende Gefahr unerkannt geblieben oder mangels Einsichtsfähigkeit des Handelnden unerkennbar gewesen ist (Bünger, Der Versorgungsbeamte, 1956 S. 74). Der Umstand, daß hier an die Stelle des kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs ein von dem Geschädigten selbst geschaffener Gefahrenbereich getreten ist, hätte versorgungsrechtlich nur dann erheblich sein und Veranlassung geben können, die Frage der "Eigenverantwortung" zu erörtern, wenn der schädigende Vorgang von der Brandbombe ausgegangen wäre. Die Gefahr aber, die von der Brandbombe ausgegangen war, kann, wie dargelegt, nicht mehr für das schädigende Ereignis verantwortlich gemacht werden; dieses ist vielmehr auf eine andere, von dem Kriegsgeschehen zu trennende Gefahrenquelle zurückzuführen. Das Landessozialgericht ist danach zu einer im Ergebnis zutreffenden Rechtsanwendung gekommen. Es hat richtig angenommen, daß sich der festgestellte Sachverhalt nicht unter den versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand subsumieren läßt.
Die Revision des Klägers ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen