Entscheidungsstichwort (Thema)
Schockschäden Dritter
Leitsatz (amtlich)
Eine Mutter, die aufgrund der Nachricht von einem vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen ihr Kind (hier: von seiner Ermordung) einen Schockschaden in Gestalt einer dauernden psychischen Gesundheitsstörung erleidet, hat wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG.
Leitsatz (redaktionell)
1. Unter tatsächlichem Angriff iS des OEG § 1 Abs 1 S 1 wird eine unmittelbar auf den Körper eines Menschen zielende feindliche Einwirkung verstanden, wobei der "Erfolg" der Tat (hier: Mitbetroffensein der Mutter des Opfers durch seelischen Schock mit der Folge einer andauernden Depression) nicht gewollt sein muß.
2. Eine seelische Einwirkung ist vom Tatbestand des OEG § 1 Abs 1 S 1 nicht ausgenommen; eine psychische Erkrankung kann somit eine gesundheitliche Schädigung iS dieser Vorschrift sein.
3. "Wer" nach OEG § 1 Abs 1 den Schaden an der Gesundheit genommen hat, braucht nicht identisch zu sein mit demjenigen, gegen den der tätliche Angriff gelenkt war. Dies kann eine "andere" Person sein:
a) Ist eine Mutter Augenzeugin der Ermordung ihrer Tochter und wird sie hierüber psychisch erschüttert (gedachter Fall), dann ist einmal die Gleichzeitigkeit von Straftat und Zufügen des seelischen Leides gegeben. Zum anderen ist die Unmittelbarkeit des Geschädigtseins nicht deshalb zu leugnen, weil die Kausalkette über die Tötung des Kindes als notwendiges Glied führte. Die Mutter wird hier als Zuschauerin von dem Tathergang überfallen. Sie ist "unmittelbar" beeinträchtigt.
b) Nicht anders ist die Reaktion zu beurteilen, die, wie in dem hier entschiedenen Fall, die Kunde von dem Gewaltverbrechen an dem Kind bei der Mutter hervorruft (seelischer Schock). Dafür ist entscheidend, daß der an der Schockwirkung Erkrankte selbst durch die Gewalttat betroffen ist (unmittelbarer Schaden) und nicht etwa nur deren Rückwirkung zu spüren bekommt. Auf diese Sachlage trifft der Tatbestand des OEG § 1 Abs 1 S 1 zu.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1976-05-11; BVG § 1
Verfahrensgang
SG Heilbronn (Entscheidung vom 09.03.1978; Aktenzeichen S 3 V 1523/77) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 9. März 1978 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin verlor ihr jüngstes Kind, ihre einzige Tochter, im Alter von noch nicht 14 Jahren. Ein Hilfsarbeiter tötete das Mädchen durch Messerstiche. Vorher hatte er es mit Gewalt zum Beischlaf zwingen wollen. Die Leiche des Mädchens wies, 95 Messerstiche auf. Der Täter ist wegen Mordes in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung zu einer Jugendstrafe von 8 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden. Ferner wurde für die Zeit nach Vollstreckung der Strafe die Unterbringung des Täters in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, - Die Klägerin, deren Ehemann einige Jahre vorher nach einem Unfall verstorben war und die nach Wegzug ihrer drei erwachsenen Söhne nur noch das Mädchen in ihrem Haushalt hatte, erlebte auf die Erfahrung der Mordtat an ihrem Kind einen seelischen Schock. Wegen der Folgen dieser seelischen Erschütterung sieht sie sich in ihrer Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt
Das Versorgungsamt stellte fest, daß die Tochter der Klägerin das Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden war (§ 1 Abs 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten - OEG -), und bewilligte der Klägerin ein Bestattungsgeld (§ 36 Abs 3 des Bundesversorgungsgesetzes -BVG-). Die Gewährung von Elternrente lehnte die Versorgungsbehörde ab, weil diese Leistung frühestens erst von dem Monat an zu erbringen sei, in dem die Tochter das 18. Lebensjahr vollendet haben würde (§ 49, Abs 1 BVG). Ferner versagte die Behörde der Klägerin die Beschädigtenversorgung mit der Begründung, daß der tätliche Angriff ausschließlich der Ermordeten gegolten habe und daß das Gesetz auf einen Schaden, der sich erst mittelbar in der Person eines Dritten auswirke, nicht anzuwenden sei (Bescheid vom 22. Juni 1977, Widerspruchsbescheid vom 21. September 1977).
Die Klage, mit der die Klägerin den Anspruch auf Entschädigung als Gewaltopfer verfolgt, hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil des SG Heilbronn vom 9. März 1978). Es hat nicht ermittelt, ob die Klägerin einen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schaden davongetragen hat. Seines Erachtens erübrigt sich die Antwort auf diese Frage. Unter den Schutz des Gesetzes - so hat es ausgeführt - sei nur gestellt, wer der Gewalttat unmittelbar ausgesetzt, dh wer zum Zeitpunkt der Tat am Ort des Angriffs anwesend gewesen sei. und sich in dessen Einwirkungsbereich befunden habe. An dieser eingrenzenden Gesetzesinterpretation hat sich das SG nicht deshalb gehindert gesehen, weil das Gesetz auch eine "andere Person" neben dem Angegriffenen als anspruchsberechtigt bezeichnet. Diese Bezugnahme auf die "andere Person" erläutert das SG damit, daß Nothelfer hätten bedacht werden müssen und solche Dritte, die von einem tätlichen Angriff an Ort und Stelle mitbetroffen sein könnten, wenn sich die Gewalttat auch nicht unmittelbar gegen sie gerichtet habe.
Die Klägerin hat mit Zustimmung des Beklagten die (Sprung-) Revision eingelegt. Sie meint, sie müsse versorgungsrechtlich denjenigen "Zufallsopfern" einer Gewalttat gleichgestellt werden, die durch die Fernwirkung einer Bombenexplosion zu Schaden kämen (§ 1 Abs 2 Nr 2 OEG). Ihres Erachtens ist auf die Grundsätze zurückzugreifen, welche zur zivilrechtlichen Haftung bei Schockschäden Dritter entwickelt worden sind. Die Entschädigungspflicht des Staates nach dem OEG sei nichts anderes als das ersatzweise Eintreten für die Schadensersatzschuld des Täters. Dieser Zusammenhang der Haftungsgrundlagen ergebe sich aus § 5 OEG in Verbindung mit § 81a BVG über den Übergang gesetzlicher Schadensersatzansprüche.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben und das beklagte Land zur Gewährung der Beschädigtenversorgung zu verurteilen;
hilfsweise:
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen;
hilfsweise:
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückzuverweisen.
II
Die Revision der Klägerin hat Erfolg, Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit an den Tatsachenrichter zurückzuverweisen.
Der auf § 1 Abs 1 Satz 1 OEG gestützte Anspruch der Klägerin kann beim gegenwärtigen Sachstand nicht verneint werden. Die Klägerin behauptet, durch die Nachricht von dem qualvollen Tod ihrer Tochter einen schweren seelischen Schock erlitten zu haben; aus dieser Erregung heraus sei sie an einer andauernden Depression erkrankt. Dieser Befund setze sie wahrscheinlich auch in Zukunft außerstande, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Die Behauptung der Klägerin ist bislang nicht widerlegt und somit für die Revisionsinstanz als zutreffend zu unterstellen. Die psychische Erkrankung kann eine gesundheitliche Schädigung im Sinne des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG bedeuten, Daß seelische und geistige Leiden dieses Tatbestandsmerkmal erfüllen können, ist für das Recht der Kriegsopferversorgung anerkannt (speziell für Schockschäden: BSGE 2, 29, 35 f; SozR Nr 40 zu § 1 BVG; ferner zu "seelischen Begleiterscheinungen"; § 30 Abs 1 Satz 1 BVG). Für das OEG ist nicht zu erkennen, daß der Gesetzgeber solche Schäden anders hätte behandelt sehen wollen (Schoreit/Düsseldorf, Kommentar zu OEG, 1977, § 1 Randnr 1). In der Begründung zum Regierungsentwurf eines OEG (BT-Drucks 7/2506 S. 10 unter II B 3) heißt es zwar, daß der Entwurf den wesentlichen Bereich der sogenannten Gewaltkriminalität erfasse, die zu Körperverletzungen oder zum Tod führen könnten. Mit dieser Erwägung wurde aber lediglich erläutert, weshalb die Verletzungshandlung in einem "vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff" bestehen müsse. Bei dieser Überlegung war dem Gesetzgeber bewußt, daß unter tätlichem Angriff eine unmittelbar auf den Körper eines Menschen zielende feindliche Einwirkung verstanden wird (BT-Drucks 7/2506 S. 13 zu § 1 Abs 1; RGSt 59, 264 f). Damit war aber nicht ausgesprochen, daß gesundheitliche Schädigung nur physische Einbuße sein solle, Soweit es um den Schädigungsumfang geht, verlautet in der Begründung des Regierungsentwurfs sogar (aaO S. 11), daß durch die. Bezugnahme auf das BVG der Weg eröffnet werde, "alle erfahrungsgemäß auftretenden Auswirkungen der Gesundheitsschädigung auszugleichen, soweit das Überhaupt möglich" sei. Mithin darf dem Wortlaut und den Materialien des Gesetzes entnommen werden, daß eine seelische Einwirkung vom Tatbestand des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nicht ausgenommen sein sollte.
Die reaktive Schwermut, welche die Klägerin befallen- haben soll, wird auf die strafbare Handlung des Mannes zurückgeführt, der sich an ihrem Kind verging. Nach dem festgestellten Sachverhalt ist auszuschließen, daß der Vorsatz des Täters sich auf die Mitbetroffenheit der Klägerin erstreckte. Hierauf brauchten sich seine Vorstellung und sein Wollen aber auch nicht zu beziehen. Die Vorsätzlichkeit wird nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG für den rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen einen Menschen gefordert. Der "Erfolg" dieser Tat muß nicht gewollt sein.
Dem Anspruch der Klägerin steht nicht entgegen, daß ihre seelische Erschütterung als ein "Drittschaden" angesehen werden könnte. Dies ist allerdings nicht die Auffassung des erkennenden Senats, Für das Recht der Kriegsopferversorgung ist freilich anerkannt, daß versorgungsberechtigt ist," wer selbst - in seiner Person - geschädigt worden ist (BSGE 11, 234; SozR 3100 § 1 Nr 5; dazu: Rüfner, Soziales Entschädigungsrecht, Festschrift zum 25 jährigen Bestehen des BSG, Band 1, 1979, 391, 412), Der nur mittelbar Geschädigte steht nicht unter dem Versorgungsschutz. Dies wird § 1 Abs 1 BVG entnommen. Dort wird erklärt: "Wer ... eine gesundheitliche Schädigung erlitten" habe, erhalte wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung Versorgung. Demgegenüber ist § 1 Abs 1 OEG so gefaßt, daß "wer" den Schaden an der Gesundheit genommen hat, nicht identisch zu sein braucht mit demjenigen, gegen den der tätliche Angriff gelenkt war. Dies kann eine "andere Person" gewesen sein. Dazu ist in der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drucks 7/2506 S. 14) bemerkt, die Beschränkung der Anspruchserfordernisse auf vorsätzliche Gewalttaten mache andererseits eine Ausweitung des berechtigten Personenkreises nötig. Es wurde an Fälle gedacht, "in denen ein tätlicher Angriff rechtlich als fahrlässige Straftat zu werten ist, eine Entschädigung des Verletzten aber dennoch angebracht ist, weil die Handlung der Gewaltkriminalität zuzurechnen ist". Das ist zB der Falls, wenn der Schuß des Angreifers fehlgeht und einen anderen trifft als den, auf den gezielt worden war. Dem Beispiel, daß nicht an dem in Aussicht Genommenen, sondern an einem anderen die Tat zur Auswirkung kommt (aberratio ictus), steht die Gegebenheit des § 1 Abs 2 Nr 2 OEG zur Seite, daß durch ein mit gefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen eine. Gefahr für Leib oder Leben anderer wenigstens fahrlässig herbeigeführt worden ist. Bei dieser Regelung wurden Personenschäden berücksichtigt, die eintreten, "ohne daß die Tat gegen eine Person gerichtet sein muß" (BT-Drucks aaO). Aus dieser Art Tatbestandsgestaltung ist zu folgern, daß der Gesetzgeber sich des Vorsatzkriteriums bediente, um die Entschädigungsregelung vor einer "Ausweitung ... in Richtung einer Art allgemeiner Volksversicherung gegen schwere Unfälle" abzudämmen. Die Verantwortlichkeit des Staates sollte auf den "willentlichen Bruch der Rechtsordnung durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person" begrenzt sein (BT-Drucks 7/2506, Seite 10). Indessen fehlt im Gesetz selbst und in seinen Materialien der deutliche Hinweis, daß "mittelbar Geschädigte" von seinen Gewährleistungen ausgenommen sein sollen. Wichtig war hingegen, - wie bereits hervorgehoben -, daß die Handlung der Gewaltkriminalität zuzurechnen ist. Für den Gebrauch der Worte "oder eine andere Person" ist das Fehlgehen des Angriffs - dieser trifft einen anderen als den Bestimmten - in der Begründung zum Gesetzentwurf lediglich beispielhaft angeführt. Darüber hinaus wird der Beweggrund des Gesetzgebers an dieser Stelle verdeutlicht. Ihm erschien die Entschädigung geboten, wenn "der Betroffene durch eine mit Gewaltanwendung verbundene Straftat in Mitleidenschaft gezogen" wird (aaO Seite 10).
Es mag als Ungereimtheit empfunden werden, wenn der Berechtigtenkreis nach dem OEG weniger eng gezogen sein sollte als im Kriegsopferrecht. Eine unterschiedliche Wertung erscheint nicht als selbstverständlich, zumal beide Rechtsbereiche gemeinsam dem übergeordneten Gesichtspunkt der sozialen Entschädigung (§5 SGB 1) unterstellt sind. Diese Gemeinsamkeit sollte - zumindest fürs erste - auf eine einheitliche Linie der Leistungsgrundlagen schließen lassen. Hinzu kommt, daß das Gewicht der Gesetzesmotivation eher ein gegenteiliges Resultat erwarten läßt. Nach dem OEG wird die Entschädigungspflicht der öffentlichen Hand damit gerechtfertigt, daß der Staat keinen wirksamen Schutz vor krimineller Handlung gegen Leib oder Leben hatte geben können. Im- Vergleich damit - sollte man meinen - ist die Ausgleichspflicht des Staates gegen die Kriegsopfer stärker; denn hier ist die Einbuße an Gesundheit oder der Verlust des Lebens vom Staat selbst abverlangt worden. Ob deshalb in den gleichwohl voneinander abweichenden Gesetzeslösungen eine Unstimmigkeit zu erblicken ist, kann dahinstehen. Bedenken gegen die Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtssätze sind daraus nicht herzuleiten; diese Rechtssätze sind so, wie sie sich der Rechtsauslegung zeigen, hinzunehmen.
Im übrigen ist bei Schockschäden auch in der Rechtsprechung zum Recht der Kriegsopferversorgung nicht mit der gebotenen Klarheit durchgehalten, wie das Merkmal der Unmittelbarkeit im Verhältnis zum Geschädigten aufzufassen ist. Das Wort ist mehrdeutig; es läßt aus sich nicht das mit ihm Gemeinte deutlich werden. Doch wird mit ihm angedeutet, daß die Schädigungskette nicht ins Endlose weiterlaufen soll. Zwischen Tat und Schaden muß eine gewisse Nähe, bestehen. Demgemäß ließe sich daran denken, durch das Erfordernis der Unmittelbarkeit solche Gesundheitsstörungen für rechtlich unerheblich zu erklären, die sich auf der Basis einer ersten Beeinträchtigung entwickeln oder die sich in der Sphäre eines Dritten fortpflanzen (dazu: Wagner, NJW 1966, 569). In dieser Verallgemeinerung kann der Satz jedoch nicht für richtig gehalten werden. So wurde in BSGE 2, 32 die unmittelbare Einwirkung auf eine Beschädigte bejaht, die während zweier Fliegerangriffe einen Schlaganfall davontrug. Es wurde für entscheidend gehalten, daß die Bomben in nächster Nähe gefallen waren und die Schreckwirkung sich spontan - zeitlich direkt - einstellte. Die zeitliche Verbindung war indessen bereits gelockerter bei dem in SozR Nr 19 zu § 5 BVG beurteilten Geschehen. Der Bewohner eines Hauses, in dem durch den Abwurf von Brandbomben Feuer ausgebrochen war, erlag einem Herzschlag. Bei dem Fliegerangriff hatte sich der Verstorbene im Hauskeller befunden. Als er sich an den Löscharbeiten beteiligen wollte und das, Feuer im Hause zu Gesicht bekam, wurde er bewußtlos; alsbald starb er. In dem angeführten Urteil war dem Bundessozialgericht (BSG) für die Frage der Unmittelbarkeit ua bedeutsam, daß der Verstorbene dem Verlauf des Ereignisses nicht als unbeteiligter Zuschauer gegenübergestanden, sondern seine Habe gefährdet gesehen hatte. Die zeitliche Distanz zur eigentlichen Kampfhandlung war noch größer in einer weiteren Rechtssache. Ein Schlaganfall wurde auf die seelische Erschütterung zurückgeführt, die der Betroffene beim Anblick seiner - wenige Minuten vorher - durch Sprengbomben zerstörten Wohnung erlebte (BSG Urteil vom 24. Februar 1960 - 9 RV 908/56). Das BSG meinte, die enge zeitliche Verkettung zwischen Bombenexplosion und der Wahrnehmung ihres Ausgangs rechtfertige die Annahme der Unmittelbarkeit. An dieser Ansicht sah sich das BSG nicht deshalb gehindert, weil zwischen dem Kampfgeschehen und dem Gesundheitsschaden ein Zwischenakt, nämlich die Sachvernichtung, lag. Zieht man zu dieser Entscheidung die Parallele mit der gedachten Situation, daß eine Kutter Augenzeugin der Ermordung ihrer Tochter ist und hierüber psychisch zerrüttet wird, so kann nach dem Vorhergesagten die rechtliche Antwort kaum zweifelhaft sein. Dann wäre einmal die Gleichzeitigkeit von Straftat und Zufügen des seelischen Leidens gegeben. Zum anderen wäre die Unmittelbarkeit des Geschädigtseins nicht deshalb zu leugnen, weil die Kausalkette über die Tötung des Kindes als not- wendiges Glied führte. Ein solcher Tatsachenverlauf wird häufig als "Fernwirkung" bezeichnet. Durch diesen Ausdruck sollte man sich jedoch nicht verleiten lassen, einen entsprechenden Sachverhalt als einen mittelbaren Eingriff in die Gesundheit zu bewerten (BGHZ 56, 163 = NJW 1971, 1833). Die Mutter würde als Zuschauerin von dem Tathergang überfallen. Die Tätlichkeit fände so, wie sie sie mit ansehen mußte, direkten Zugang zu ihrem Gefühl und ihrem Bewußtsein. Sie wäre "unmittelbar" beeinträchtigt. Daß dies der Reflex. auf einen "Fremd" schaden wäre, hätte keine Bedeutung (ebenso Eike Schmidt, MDR 1971, 538, 539). Anders ist jedoch auch die Reaktion nicht zu beurteilen, welche die Kunde von einem Gewaltverbrechen an einem nächsten Familienmitglied hervorruft (RGZ 133, 270, 272; 162, 321 f; BGHZ, 56, 163; abweichend: Eike von Hippel, NJW 1965, 1890, 1891; vgl ferner Deubner, JuS 1971, 622, 624). Dafür ist entscheidend, daß der an der Schockwirkung erkrankte Mensch selbst durch die Gewalttat betroffen ist und nicht etwa nur deren Rückwirkung zu spüren bekommt. Auf diese Sachlage trifft der Tatbestand des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zu, wonach "eine gesundheitliche Schädigung" infolge eines ... tätlichen Angriffs gegen ... eine andere Person" verursacht sein muß. Damit stimmt nicht die Konstellation überein, daß ein "Dritter" nach einem primär Geschädigten an Tbc oder Lues angesteckt wird. Soweit über solche Ansteckungen zu befinden war, gingen die Gesundheitsstörungen der Dritten nicht direkt auf Kriegsereignisse zurück, sondern auf die Krankheiten der zunächst von der Krankheit Befallenen (BSGE 11, 234; SozR 3100 § 1 Nr 5). Demgegenüber bildete die Nachrichtenübermittlung von dem besonders schrecklichen Geschehen eine natürliche Einheit mit dem Gewaltvorgang. Das gilt jedenfalls für den Schockschaden. Soweit dies im Tatsächlichen ebenso wie im Zivilrecht beurteilt wird, bedeutet dies nicht, daß sich die Voraussetzungen für einen Anspruch aus § 823 BGB mit denen für eine Entschädigung nach § 1 OEG decken müßten.
Oben ist über das Bestreben des BSG berichtet worden, in den einschlägigen Entscheidungen zum Schockschaden die zeitliche Unmittelbarkeit nachzuweisen (namentlich BSG am 24. Februar 1960 - 9 RV 908/56 -: Der Anblick der "wenigen Minuten" vorher zerstörten Wohnung). Bei diesem Bemühen ging es darum, die jeweiligen Urteile mit der versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm in Einklang zu halten. Für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Versorgungsrecht ist eine strenge zeitliche Zäsur kennzeichnend. Es ist auf diejenigen Gegebenheiten abzuheben, welche bei Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden. Hierzu ist regelmäßig ein Vergleich anzustellen zwischen dem Zustand der Erwerbsfähigkeit unmittelbar vor Beginn der Schädigung und der Situation unmittelbar nachher. Mit dem Ende des schädigenden Vorgangs ist zugleich die versorgungsrechtlich beachtliche Ursachenkette abgeschlossen (BSGE 41, 70 mN). Mit dem Satz von dem zeitlichen Aus- und Einschnitt soll der Versorgungsbereich gegen solche Einbußen der Erwerbsfähigkeit abgegrenzt werden, die durch Vorkommnisse außerhalb der versorgungsrechtlich erheblichen Ursachenkette ausgelöst werden (BSGE 19, 201, 202).
Die versorgungsrechtliche Kausalitätsnorm gilt nach der erklärten Absicht des Gesetzgebers (BT-Drucks 7/2506 S. 11, 15) auch für die Tatbestände des OEG. Dem widerstreitet indessen die in diesem Urteil gefundene Lösung nicht. Hier war Über die Unmittelbarkeit im Verhältnis von Schädiger und Geschädigtem zu entscheiden. Dies ist keine Frage der Kausalität, sondern der Abgrenzung des berechtigten Personenkreises. Nach der hier vertretenen Rechtsauffassung ist das schadensstiftende Geschehen gegenüber der Klägerin für sich zu betrachten, und zwar unabhängig von dem Ende der Gewalttat an ihrem Kinde. Im Verhältnis zu ihr - der ebenfalls unmittelbar Geschädigten - ist ein einheitlicher, in sich geschlossener Lebensvorgang zu beurteilen, der nicht aufgetrennt werden darf. Die versorgungsrechtlich beachtliche Ursachenkette hat deshalb erst dort aufzuhören, wo sich der Angriff gegen die Klägerin, gegen ihre Psyche auswirkte.
Der Senat verkennt nicht, daß die Anerkennung andauernder Schockschäden als unmittelbare Schäden möglicherweise einen weiten Kreis entschädigungsberechtigter Personen eröffnet. Man kann die Frage stellen, ob es sachangemessen ist, die öffentliche Hand ganz allgemein für Schockschäden beliebiger Personen einstehen zu lassen oder ob man nicht eine Sonderbeziehung des "Drittgeschädigten" zu dem Primärverletzten verlangen soll. Der Gedanke an eine angemessene Haftungsbegrenzung, zB auf Beeinträchtigung naher Angehöriger, liegt nahe (vgl § 1 Abs 3 Nr 4 des Bundesentschädigungsgesetzes). Ob die Rechtsfolgen in solcher oder in anderer Weise einzuschränken sind, obliegt - zumindest in erster Linie - der Gesetzgebung.
Auf der Grundlage des hier Erörterten ergibt sich, daß das angefochtene Urteil nicht aufrechterhalten werden kann. Von seiner abweichenden Rechtsansicht her hatte das SG sich nicht veranlaßt gesehen, der Behauptung der Klägerin nachzugehen, sie sei infolge des Schockschadens psychisch erkrankt und erwerbsbehindert. Hierzu werden nunmehr die nötigen Ermittlungen und Feststellungen nachzuholen sein. Der Senat hält es im Interesse einer beschleunigten Erledigung der Sache für zweckmäßig, den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz).
Das Landessozialgericht hat auch über die Pflicht zur Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens zu erkennen.
Fundstellen
BSGE, 98 |
Breith. 1980, 690 |