Entscheidungsstichwort (Thema)
Musiker in Kulturorchestern
Leitsatz (amtlich)
Die auf Tarifordnung und Satzung beruhende - Versicherung der Musik in Kulturorchestern bei der Versorgungsanstalt der deutschen Kulturorchester rechtfertigt weder nach AVG § 7 Abs 2 noch nach AnVNG Art 2 § 1 Buchst b eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Angestellten.
Leitsatz (redaktionell)
Es ist anzunehmen, daß auch die in AVG § 7 Abs 2 gemeinten Ersatzinstitute eine Verfassung aufweisen müssen, die der der übrigen Versicherungsträger ähnelt.
Unter einem Gesetz ist in diesem Zusammenhang eine Rechtsgrundlage zu verstehen, die sich auch als Gesetz im formellen Sinn darstellt.
Es ist sinnvoll, Abs 2 eng auszulegen und dahin zu verstehen, daß mit der dort erwähnten Ermächtigung nur eine solche gemeint ist, in der die Rentenversicherung konkret ausgesprochen wird. Ist das nicht geschehen, kann nicht anerkannt werden, daß eine Versicherungspflicht, die in einer davon abgeleiteten Rechtsnorm statuiert worden ist, eine "auf Gesetz beruhende Verpflichtung" darstellt.
Normenkette
AVG § 7 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 1 Buchst. b Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. November 1960 und das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Juni 1959 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Versicherung bei der Versorgungsanstalt der deutschen Kulturorchester (VddKO) eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Angestellten (AV) - sei es nach § 7 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) oder nach Art. 2 § 1 b des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) - rechtfertigt.
Der Kläger, Cellist in einem Kulturorchester, ist bei der VddKO gegen Berufsunfähigkeit, Alter und Tod versichert. Er war bis zur Heraufsetzung der Jahresarbeitsverdienstgrenze - März 1957 - wegen der Höhe seines Gehalts in der AV versicherungsfrei. Im April 1957 beantragte er bei der Beklagten, ihn von der Versicherungspflicht in der AV zu befreien. Seinen Antrag stützte er auf § 7 Abs. 2 AVG, hilfsweise auf Art. 2 § 1 b AnVNG. Die Beklagte lehnte den Antrag, auch im Widerspruchsverfahren, ab. Beide Vorinstanzen verpflichteten dagegen die Beklagte, einen Befreiungsbescheid nach § 7 Abs. 2 AVG zu erteilen. Das Landessozialgericht (LSG) ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte Revision ein und beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügte eine Verletzung des § 7 Abs. 2 AVG.
Der Kläger und die Beigeladene beantragten, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, einen Befreiungsbescheid zu erteilen; die Voraussetzungen dafür sind nicht gegeben.
§ 7 Abs. 2 AVG sieht eine Befreiung von der Versicherungspflicht für Personen vor, die auf Grund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe sind. Das ist beim Kläger nicht der Fall.
Die Versicherung des Klägers bei der VddKO beruht auf deren Satzung; diese wurde am 30. April 1938 erlassen (RABl 1938 VI S. 601) und mehrfach, zuletzt am 12. April 1961, geändert (BAnz 1961 Nr. 80). Die VddKO ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ihre Mitglieder sind die Rechtsträger der Kulturorchester, also die Orchesterunternehmer, nicht die Musiker dieser Orchester (§§ 1, 11 der Satzung). Die Anstalt wird von der Bayerischen Versicherungskammer verwaltet sowie gerichtlich und außergerichtlich vertreten (§ 2 der Satzung). Die Pflicht zur Versicherung der Musiker bei der VddKO nach deren Satzung gründet sich auf die Tarifordnung für die deutschen Kulturorchester (TOK) vom 30. März 1938 (RABl 1938 VI S. 597). Im § 20 TOK ist vorgeschrieben, daß die Orchesterunternehmer verpflichtet sind, die Musiker bei der VddKO zu versichern. Die TOK hat ihre Grundlage im Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben (AOGÖ) vom 23. März 1934 (RGBl I 220). Die Vorschrift dieses Gesetzes, auf die sich die TOK stützt (§ 18 AOGÖ), ist nur allgemein gehalten und ermächtigt die Sondertreuhänder - von der Regelung der Arbeitsverhältnisse für Arbeiter abgesehen - lediglich, das Dienstverhältnis von Angestellten, deren Gehalt die für die AV maßgebende Grenze nicht übersteigt, durch eine Tarifordnung zu regeln. Über eine Regelung der Sozialversicherung durch Tarifordnungen ist im AOGÖ nichts bestimmt.
Nach den genannten maßgeblichen Rechtsvorschriften ist zunächst der Kläger nicht, wie es § 7 Abs. 2 AVG verlangt, Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versorgungseinrichtung seiner Berufsgruppe; Mitglied dieser Einrichtung ist allein der zuständige Orchesterträger. Eine entsprechend erweiternde Auslegung dieser Vorschrift erscheint auch nicht berechtigt. Es wäre mit den Grundzügen der deutschen Rentenversicherung nicht vereinbar, wenn die bei der VddKO Versicherten durch eine über den Wortlaut hinausgehende Deutung noch als Mitglieder im Sinne des § 7 Abs. 2 AVG angesehen und behandelt würden. Der Rentenversicherung - wie der gesamten Sozialversicherung - ist es wesentlich, daß die Versicherten maßgeblich an der Verwaltung beteiligt sind und alle wichtigen Entscheidungen, soweit sie sich nicht unmittelbar aus Gesetzen ergeben, beeinflussen können. Das ist jedoch bei der für die VddKO gewählten Organisation nicht möglich. Die Versicherten dieser Anstalt haben keine Stellung, wie sie die sonstigen Versicherten der Rentenversicherung haben. Bei der Bedeutung, die der Selbstverwaltung in der deutschen Sozialversicherung beigelegt ist (vgl. Das Selbstverwaltungsgesetz vom 22. Februar 1951), ist aber anzunehmen, daß auch die in § 7 Abs. 2 gemeinten Ersatzinstitute eine Verfassung aufweisen müssen, die der der übrigen Versicherungsträger ähnelt. Es ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, daß bei den berufsständischen Versicherungen, soweit sie die allgemeine AV ersetzen können, andere Grundsätze gelten dürfen.
Weiter fehlt es auch an der Voraussetzung, daß die Pflicht zur Versicherung durch ein Gesetz angeordnet worden ist oder wenigstens auf einem Gesetz beruht. Unter einem Gesetz ist in diesem Zusammenhang eine Rechtsgrundlage zu verstehen, die sich auch als Gesetz im formellen Sinn darstellt. Dies hat bereits das LSG aus der Tragweite einer Vorschrift wie der des § 7 Abs. 2 AVG, die - ungewöhnliche - Ausnahmen von dem allgemeinen Versicherungszwang ermöglicht, sowie aus ihrer Entstehungsgeschichte gefolgert. Dem stimmt der Senat zu. Dieses Ergebnis ergibt sich aber auch schon aus der Wortfassung des § 7 Abs. 2 AVG. Danach kann die Verpflichtung, einer berufsständischen Versicherungseinrichtung anzugehören, entweder durch Gesetz angeordnet sein oder auf Gesetz beruhen. Ließe man als "Gesetz" jede materielle Rechtsnorm gelten, z. B. auch Tarifordnungen und Satzungen, so wäre eine Versicherungspflicht, die sich nur aus solchen abgeleiteten Normen ergibt, stets auf ein "Gesetz" gegründet und damit "durch Gesetz angeordnet". Für die zweite Alternative, nämlich eine "auf Gesetz beruhende Verpflichtung", bliebe praktisch keine Anwendungsmöglichkeit. Die Unterscheidung zwischen den beiden Alternativen verlangt vielmehr den Schluß, daß der Gesetzgeber die Wahl haben soll, die Verpflichtung selbst festzulegen oder anderen Stellen die Befugnis zu geben, dies zu tun. Diese Befugnis kann mittels abgeleiteter Rechtsnorm ausgeübt werden. Die sich daraus ergebende Verpflichtung "beruht" dann auf Gesetz. Unter Gesetz im Sinne von § 7 Abs. 2 AVG kann deshalb nicht jede beliebige Rechtsnorm verstanden werden, weil sonst die in dieser Vorschrift enthaltene Differenzierung verwischt würde, sondern nur ein formelles Gesetz. Damit scheiden die TOK und die Satzung der VddKO, die formell keine Gesetze sind, als Rechtsgrundlagen im Sinne von § 7 Abs. 2 AVG aus; es bleibt nur das AOGÖ.
Das - inzwischen aufgehobene - AOGÖ war zwar ein Gesetz im formellen Sinn; es hat aber die Versicherungspflicht der Musiker bei der VddKO nicht angeordnet und auch keine Ermächtigung erteilt, wie sie § 7 Abs. 2 AVG voraussetzt. Diese Vorschrift enthält zwar keinen Hinweis darüber, wie die Ermächtigung erteilt werden muß, doch läßt sich aus dem Sinnzusammenhang und der Bedeutung der Bestimmung schließen, daß die Ermächtigung jedenfalls mit auf eine Regelung der Rentenversicherung durch die ermächtigten Stellen gerichtet sein muß. Die Rentenversicherung ist, ihrem Zwangscharakter entsprechend, bis in Einzelheiten hinein gesetzlich genau festgelegt. Sie läßt, von wenigen übersehbaren Ausnahmen abgesehen, keine freien Gestaltungen zu. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich der Regelungen der Versicherungspflicht und der Zuständigkeiten der Versicherungsträger. Sollen davon Ausnahmen ermöglicht werden, und zwar nicht durch Gesetz selbst, sondern lediglich durch die Erteilung einer Befugnis dazu, so muß im Gesetz, das die Befugnis verleiht, zu erkennen sein, daß dies gewollt ist. Die Ermächtigung muß bemerken lassen, daß an eine Änderung oder Durchbrechung von Normen der gesetzlichen Rentenversicherung gedacht ist. Ausnahmen von der Versicherungspflicht in der allgemeinen Rentenversicherung sowie die Errichtung von Ersatzinstituten sind ungewöhnlich und müssen leicht und augenfällig nachprüfbar sein. Unklare oder zu allgemein gehaltene Ermächtigungen sind im System einer gesetzlich streng geordneten Zwangsversicherung unbrauchbar. Daher ist es sinnvoll, § 7 Abs. 2 AVG eng auszulegen und dahin zu verstehen, daß mit der dort erwähnten Ermächtigung nur eine solche gemeint ist, in der die Rentenversicherung konkret angesprochen wird. Ist das nicht geschehen, kann nicht anerkannt werden, daß eine Versicherungspflicht, die in einer davon abgeleiteten Rechtsnorm statuiert worden ist, eine "auf Gesetz beruhende Verpflichtung" darstellt. Eine "auf Gesetz beruhende Verpflichtung" bedeutet mehr als den Umstand, daß sich die Satzung jeder Körperschaft des öffentlichen Rechts irgendwie auf ein Gesetz zurückführen läßt. Das hat das LSG verkannt. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen reicht eine Befugnis, das Dienstverhältnis von versicherungspflichtigen Angestellten zu regeln, nicht aus, zugleich auch für eine bestimmte Berufsgruppe die allgemeine Rentenversicherung durch eine Sonderversicherung zu ersetzen und Angestellte, die es - wie Musiker in Orchestern - typischerweise sind und bleiben, von der Versicherungspflicht in der AV freizustellen. Eine auf diese Ermächtigung gegründete Versorgungsanstalt kann wohl Versorgungen zusätzlich gewähren, aber nicht an die Stelle des sonst zuständigen Versicherungsträgers treten. Die VddKO sollte auch von vornherein den Musikern lediglich einen zusätzlichen Schutz bieten, hatte aber nicht die Aufgabe, ihnen eine Sicherung zu gewährleisten, die die allgemeine Rentenversicherung überflüssig machte. Daran hat sich durch die Einfügung des § 7 Abs. 2 AVG nichts geändert. Der Sinn dieser Vorschrift ist darin zu erblicken, Angestellten, deren Berufsgruppe in der Regel nicht von Angestellten sondern von versicherungsfreien Selbständigen (z. B. Ärzten, Rechtsanwälten) gebildet wird, die Möglichkeit zu geben, die Versorgung ihrer Berufsgruppe ausschließlich in Anspruch zu nehmen, nicht aber sollten aus bisherigen Zusatzversorgungsanstalten Ersatzkassen der AV werden (vgl. über die Entstehungsgeschichte von § 7 Abs. 2 AVG Schewe, Der Betriebsberater 1957, 150).
Dieses Ergebnis wird noch durch folgende Erwägungen gestützt. Eine Befreiung von der Versicherungspflicht ist grundsätzlich von Versorgungsanwartschaften abhängig, deren Mindesthöhe genau bestimmt ist (§§ 6, 7 Abs. 1, 8 AVG). Die Anforderungen an die Versorgungsanwartschaften sind 1957 durch das Neuregelungsgesetz verschärft worden, so daß selbst viele Staats- und Gemeindeangestellten ihre frühere Versicherungsfreiheit verloren und nachversichert werden mußten (vgl. BSG 16, 112). Dieser Tendenz würde es entgegenstehen, wenn eine Versorgungsanwartschaft, an deren Umfang keine Anforderungen gestellt werden, für die Befreiung einer typischen Angestelltengruppe ausreichen sollte. Berücksichtigt man weiter, daß sogar Musiker, die selbständig arbeiten, in der AV pflichtversichert sind (§ 2 Nr. 3 AVG), so ist kein Grund ersichtlich, der Gruppe der Musiker in Kulturorchestern eine Befreiungsmöglichkeit zu gewähren. Schließlich ist auch Vorsorge dafür getroffen, daß die versicherungspflichtigen Musiker durch die zusätzliche Versicherung bei der VddKO geldlich nicht übermäßig belastet werden (§ 22 der Satzung); sie stehen insoweit den übrigen Angestellten im öffentlichen Dienst gleich, für die ebenfalls eine tarifliche Pflicht zur zusätzlichen Versorgung besteht.
Der Kläger kann auch nicht nach Art. 2 § 1 b AnVNG von der Versicherungspflicht befreit werden. Das wäre möglich, wenn er unter anderem mit einer öffentlichen oder privaten Versicherungsunternehmung einen Versicherungsvertrag - bestimmten Inhalts - abgeschlossen hätte und für diese Versicherung mindestens ebensoviel aufwenden müßte wie sonst an Beiträgen zur AV Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht erfüllt. Die VddKO ist kein Versicherungsunternehmen und das Verhältnis des Klägers zu dieser Anstalt beruht auf keinem Versicherungsvertrag. Ob entgegen dem Wortlaut vielleicht eine erweiternde Auslegung dieser Begriffe zulässig ist, braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden. Selbst wenn das so wäre, darf dem Befreiungsantrag deshalb nicht stattgegeben werden, weil der Kläger nicht ebensoviel an Beiträgen zur VddKO zu leisten hat wie zur allgemeinen AV. Nach § 22 der Satzung haben Versicherte der VddKO, die zugleich in der AV pflichtversichert sind, sechs oder acht vom Hundert (v. H.) des Diensteinkommens als Beitrag zu entrichten; nur für Versicherte, die der AV nicht angehören beträgt der Beitrag 14 v. H. des Diensteinkommens, also ebensoviel wie in der AV (§ 112 AVG). Nachdem nunmehr geklärt ist, daß der Kläger keinen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der AV nach § 7 Abs. 2 AVG hat, er also grundsätzlich der AV und lediglich zusätzlich der VddKO angehören muß, besteht für ihn bei der VddKO nur eine Beitragspflicht in Höhe von 6 oder 8 v. H. des Diensteinkommens. Seine Beiträge dort erreichen also nicht die durch Art. 2 § 1 b AnVNG vorgeschriebene Höhe. Die Beklagte darf folglich zugunsten des Klägers keine Befreiung von der Versicherungspflicht aussprechen. Weil der Zweck der VddKO darauf gerichtet ist, eine Sicherung zusätzlich zur AV zu leisten, würde eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der AV im übrigen eben diesen Zweck vereiteln; die Musiker in Kulturorchestern wären hinsichtlich ihrer Altersversorgung benachteiligt und schlechter gestellt als die übrigen Angestellten im öffentlichen Dienst. Das wird durch die vom Senat getroffene Entscheidung verhindert.
Der Bescheid der Beklagten ist daher richtig und muß wiederhergestellt werden (§§ 170 Abs. 2, 193 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen
Haufe-Index 929557 |
BSGE, 154 |