Leitsatz (redaktionell)

1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn die Beteiligten nach Art und Inhalt der Beweisaufnahme keine Möglichkeit hatten, sich allein aufgrund des Vortrags ein klares Bild von dem Inhalt eines Gutachtens zu machen, oder wenn ein Antrag auf Vertagung abgelehnt wird, obwohl sich der Antragsteller zu einem Vorbringen der Gegenseite oder einem Sachverständigengutachten infolge Zeitmangels nicht mehr äußern konnte.

2. Der Sinn des rechtlichen Gehörs ist nicht allein darin zu sehen, eine erschöpfende Aufklärung des Sachverhalts zu ermöglichen, sondern auch darin, die Würde der Rechtsgenossen zu wahren. Es genügt nicht, den Beteiligten nur theoretisch die Möglichkeit zu geben, zu einem Beweisergebnis Stellung zu nehmen; es muß ihnen vielmehr hinreichend Zeit eingeräumt werden, um sich von dem Beweisergebnis ein klares Bild machen und entsprechend dem Inhalt des Beweisergebnisses angemessen Stellung nehmen zu können.

Selbst wenn dieselbe Entscheidung auch bei ordnungsmäßigem Prozeßhergang ergangen wäre, so braucht dies der Kläger nicht als Wirkung eines gesetzwidrigen Verfahrens hinzunehmen, weil die gesetzlichen Vorschriften, die den Schutz der Parteirechte bezwecken, von den Gerichten genau befolgt und voll zur Geltung gebracht werden müssen.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 1965 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Im Oktober 1957 stellte der Kläger einen Antrag auf Anerkennung einer Schüttellähmung ( Parkinson'sche Erkrankung) als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Versorgungsamt (VersorgA) holte ein neurologisches Gutachten des Dr. E vom 19. Mai 1959 ein, der zu dem Ergebnis kam, daß der Kläger während seines Wehrdienstes (1940 bis 1944) und der anschließenden französischen Kriegsgefangenschaft bis zum September 1947 keine Erkrankung gehabt oder Schädigungen davongetragen habe, die imstande gewesen wären, ein Parkinsonsyndrom zur Entwicklung zu bringen; insbesondere seien keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß es im Verlaufe einer Stirn- und Kieferhöhlenerkrankung im Jahre 1946 zu einer cerebralen Beteiligung i. S. einer Encephalitis gekommen sei. Als schädigendes Moment biete sich vielmehr eine nach den eigenen Angaben des Klägers im Jahre 1933 durchgemachte Gasvergiftung an. Durch Bescheid vom 29. Juni 1959 lehnte das VersorgA Bielefeld den Antrag des Klägers wegen Fristversäumnis ab und führte zusätzlich aus, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem festgestellten Parkinsonismus und dem Wehrdienst bzw. der Gefangenschaft nicht wahrscheinlich zu machen sei. Auf den Widerspruch des Klägers wurde als Schädigungsfolge "Teilverlust beider Großzehenkuppen nach Erfrierung" anerkannt, der Widerspruch im übrigen aber durch Bescheid des Landesversorgungsamts Westfalen vom 2. Oktober 1959 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) Detmold hat Gutachten der Nervenfachärzte Dr. S und Dr. Sch vom 20. Oktober 1960 und 22. August 1961 eingeholt. Beide Sachverständige sind zu dem Ergebnis gelangt, daß sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Parkinsonismus und schädigenden Einflüssen des Wehrdienstes oder der Kriegsgefangenschaft nicht wahrscheinlich machen lasse. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 2. März 1962 haben die Parteien einen Teilvergleich dahin geschlossen, daß sich der Beklagte verpflichtet zu prüfen, ob die von Dr. Sch in seinem Gutachten vom 20. Oktober 1960 festgestellte "geringfügige Knochensubstanzschädigung im Bereich der linken Augenbraue" nach Stirn- und Kieferhöhlenvereiterung als Schädigungsfolge anerkannt werden kann. Hinsichtlich des Parkinsonismus hat sich das SG Detmold den Gutachten der Dres. Sch und Sch angeschlossen und die Klage durch Urteil vom 2. März 1962 abgewiesen.

Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein nervenfachärztliches Gutachten des Landesmedizinaldirektors Dr. Sch (Rheinisches Landeskrankenhaus S.) vom 12. August 1963 eingeholt. Dieser Sachverständige hat es als unwahrscheinlich angesehen, daß im Zusammenhang mit der Nebenhöhlenerkrankung im Jahre 1946 eine Begleitencephalitis aufgetreten sei, weil dies den damals behandelnden Ärzten sicher nicht entgangen wäre. Allerdings könnte der Kläger eine sogenannte blande verlaufende Encephalitis während seines Wehrdienstes überstanden haben. Wäre dies aber der Fall, dann wäre der zeitliche Abstand vom Beginn der extrapyramidalen Erkrankung zurück bis zu einer irgendwann während der Kriegsjahre durchgemachten blanden Encephalitis verhältnismäßig gering. Am ehesten sei das Parkinsonsyndrom des Klägers encephalitischer Genese und wahrscheinlich die Folge einer im Jahre 1926 durchgemachten sogenannten Ziegenpetererkrankung, die eine akute Encephalitis epidemica hervorgerufen habe.

Das LSG hat ein weiteres Gutachten nach § 109 SGG von Dr. D, Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Leiden, vom 26. Januar 1965 eingeholt. Dieser Sachverständige hat ausgeführt, daß der Kläger in der Kriegsgefangenschaft eine Stirnhöhlenoperation mit Ausräumung des Siebbeines und Keilbeines sowie eine Kieferhöhlenoperation durchgemacht habe. Dieses Operationsgeschehen sei sicherlich ganz abnorm gewesen, weil ein solcher Eingriff relativ sehr selten sei und fast nur bei vorliegenden Komplikationen erfolge. Es müsse sich hierbei um eine Komplikation cerebraler Art gehandelt haben. Da eine sichere Genese der durchgemachten Encephalitis bisher nicht erbracht worden sei, müsse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die im Jahre 1946 durchgemachte Erkrankung der Nasennebenhöhlen mit einer sehr ausgedehnten Stirnhöhlenoperation die Ursache der jetzt vorliegenden Parkinson'schen Erkrankung sei.

Mit Verfügung vom 11. Juni 1965 hat das LSG noch ein Gutachten von der Nervenfachärztin Dr. B-R eingeholt, das die Sachverständige bereits am 12. Juni 1965 erstattet hat. Diese hat insbesondere darauf hingewiesen, daß der Kläger bei den aufgenommenen Anamnesen zu den ersten drei Gutachten angegeben habe, er sei während seines Nebenhöhlenleidens niemals bewußtlos gewesen, er könne sich nicht daran erinnern, Fieber gehabt zu haben, es sei eine strenge Bettruhe nicht angeordnet gewesen, er habe immer aufstehen dürfen und er sei insgesamt nur 14 Tage stationär behandelt worden. Erst im Jahre 1963 habe der Kläger bei der ambulanten Untersuchung im Rheinischen Landeskrankenhaus S. angegeben, daß damals eine Nackensteifigkeit, Erbrechen sowie hohes Fieber, das 3 bis 4 Tage angehalten habe, bestanden hätten. Auch in dem Gutachten des Dr. D sei von hohem Fieber und Erbrechen die Rede. Diese Diskrepanz in den Aussagen des Klägers sei bemerkenswert. Wenn er dreimal hintereinander geschildert habe, daß keine Bettruhe während des stationären Lazarettaufenthalts angeordnet war und kein Fieberanstieg vorlag, so sei eine Komplikation encephalitischer Art ausgeschlossen. Falls wirklich ein ernsthaftes Krankheitsbild mit Bewußtlosigkeit und Fieberanstieg bis 41 Grad vorgelegen hätte, sei es unverständlich, daß der Kläger dies nicht bei den ersten Untersuchungen angegeben habe. Daß es zu den verschiedenen Komplikationen der Nasennebenhöhle kommen könne, sei dem Neurologen nicht unbekannt; es müsse jedoch ein sinnvoller Zusammenhang zwischen Krankheit und späterem Erscheinungsbild bestehen. Die gegenteilige Auffassung des Dr. D. dürfte damit widerlegt sein. Über die Ätiologie des jetzt beim Kläger bestehenden Parkinsonsyndroms könne keine sichere Aussage gemacht werden, am ehesten sei das im Jahre 1933 stattgehabte Ereignis (Gasvergiftung), das mit Doppeltsehen, Schwäche und Krankheitsgefühl einherging, Ausdruck eines encephalitischen Geschehens gewesen. Zusammenfassend sei zu sagen, daß es nicht wahrscheinlich zu machen sei, daß die Parkinson'sche Erkrankung des Klägers durch die frühere Nasennebenhöhlenerkrankung verursacht oder verschlimmert wurde.

Abschrift dieses Gutachtens der Nervenfachärztin Dr. B-R wurde den Beteiligten erst in der mündlichen Verhandlung am 14. Juni 1965 ausgehändigt. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat daraufhin beantragt, die Sache zu vertagen, um ihm Gelegenheit zu geben, zu dem im Termin überreichten Gutachten Stellung zu nehmen. Falls dem Vertagungsantrag nicht stattgegeben werde, rüge er schon jetzt, daß ihm nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden sei. Durch Urteil vom 14. Juni 1965 hat das LSG Nordrhein-Westfalen die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Detmold vom 2. März 1962 zurückgewiesen; es hat die Revision nicht zugelassen. Das Berufungsgericht hat in den Entscheidungsgründen sämtliche erhobenen Gutachten und die in ihnen enthaltenen Möglichkeiten für die Entstehung des Parkinsonismus geprüft. Es ist hierbei zu der Überzeugung gelangt, daß weder eine im Jahre 1941 oder 1942 durchgemachte Gelbsucht noch ein Sonnenstich auf dem Marsch in die Gefangenschaft während großer Hitze noch Schläge auf den Kopf während dieses Marsches noch eine in der Gefangenschaft durchgemachte Dystrophie noch eine während der Gefangenschaft durchgemachte Nebenhöhlenerkrankung mit Operation für das Auftreten des beim Kläger jetzt bestehenden Parkinsonsyndroms verantwortlich gemacht werden könnten. Neben all diesen Vorgängen während des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft, bei denen es sich nur um "mögliche" Ursachen für die Parkinson'sche Erkrankung handle, bestünden noch weitere Möglichkeiten, die nicht auf Einflüsse des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen seien. Insbesondere kämen zwei Ereignisse aus der Vorkriegszeit für die Verursachung des Parkinsons in Betracht, nämlich eine Begleitencephalitis im Zusammenhang mit der im Jahre 1926 durchgemachten Ziegenpetererkrankung sowie ein extrapyramidaler Folgezustand nach Gasvergiftung im Jahre 1933. Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Facharztes Dr. D könne eine andere Beurteilung nicht rechtfertigen, weil auch den drei Neurologen, die vor Dr. D zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs Stellung genommen hätten, der Akteninhalt ebenso bekannt gewesen sei wie Dr. D. Auch der Fachärztin für Neurologie Dr. B-R sei es bekannt, daß es zu Komplikationen bei Erkrankungen der Nasennebenhöhlen kommen könne. Eine Encephalitis als Folge der Nasennebenhöhlenerkrankung während der Kriegsgefangenschaft sei aber nur als eine von verschiedenen Möglichkeiten anzusehen, so daß die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Gesundheitsstörung und militärischem Dienst nicht festgestellt werden könne. Bei diesen verschiedenen Möglichkeiten für die Entstehung der Parkinson'schen Erkrankung sei es dem Kläger nicht möglich, den Nachweis für die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs dieser Erkrankung mit wehrdienstlichen Einflüssen zu erbringen. Insbesondere habe auch das Gutachten der zuletzt noch als Sachverständige gehörten Frau Dr. B-R die Auffassung der früher gehörten ärztlichen Sachverständigen auf dem neurologischen Fachgebiet voll und ganz bestätigt. Die Sachverständige habe nichts vorgebracht, was dem Kläger nicht schon vorher bekannt gewesen wäre. Eine nochmalige Stellungnahme zu diesem Gutachten seitens des Klägers habe sich daher erübrigt.

Gegen dieses am 21. Juli 1965 zugestellte Urteil des LSG hat der Kläger mit Schriftsatz vom 3. August 1965, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 4. August 1965, Revision eingelegt, diese gleichzeitig begründet und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

In der Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 62, 202 SGG i. V. m. § 227 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Er trägt hierzu vor, die neurologischen Sachverständigen D. E, S, Sch und Sch hätten es nicht für wahrscheinlich gehalten, daß die Stirn- und Kieferhöhlenerkrankung mit Operationen während der Kriegsgefangenschaft Ursache einer Encephalitis und letztere wiederum Ursache der Parkinson'schen Erkrankung sei. Diesen neurologischen Gutachten stehe die Auffassung des Sachverständigen Dr. D gegenüber, der die Operationen nach ihrer Art und Schwere mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Ursache für die Parkinson'sche Erkrankung angesehen habe. Dieses wissenschaftlich begründete und in sich widerspruchsfreie Gutachten des Dr. D habe das LSG für so bedeutungsvoll erachtet, daß es noch ein weiteres neurologisches Gutachten von der Sachverständigen Dr. B-R eingeholt habe. Dieses Gutachten sei dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers erst im letzten Verhandlungstermin abschriftlich überreicht worden; es enthalte Ausführungen dahin, daß das Gutachten des Dr. D "widerlegt" sei. Bei diesem Sachverhalt hätte das LSG dem Vertagungsantrag entsprechen müssen, um dem Kläger Gelegenheit zu geben, zu dem Gutachten der Sachverständigen Dr. B-R sachgerecht Stellung nehmen zu können, zumal sein Prozeßbevollmächtigter nicht über die notwendige medizinische Sachkunde verfügt habe, um sich mit der wissenschaftlichen Kontroverse Dr. B-R contra Dr. D im Termin auseinanderzusetzen. Das Berufungsgericht habe damit den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör i. S. des § 62 SGG verletzt.

Der Beklagte stellt keinen Antrag.

Der Kläger hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung i. S. des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).

Der Kläger rügt eine Verletzung der §§ 62, 202 SGG i. V. m. § 227 ZPO, weil das LSG seinem in der mündlichen Verhandlung am 14. Juni 1965 gestellten Vertagungsantrag nicht entsprochen hat. Nach § 227 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 ZPO kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin verlegen. Da das Sozialgerichtsgesetz in dieser Hinsicht keine Vorschriften über das Verfahren enthält und grundsätzliche Unterschiede des Zivilprozesses gegenüber dem sozialgerichtlichen Verfahren die entsprechende Anwendung des § 227 ZPO nicht ausschließen, ist diese Vorschrift im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit über § 202 SGG entsprechend anwendbar. Wenn erhebliche Gründe vorliegen, so muß ein Termin zur Sicherung des rechtlichen Gehörs verlegt werden (vgl. BSG 1, 277).

Das BSG hat bereits in einer Reihe von Entscheidungen zu der Frage Stellung genommen, wann der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Beteiligten oder ihre Vertreter in der mündlichen Verhandlung zwar "gehört" worden sind, das Gericht aber den Sachverhalt deshalb nicht sachgemäß und vollständig mit ihnen "erörtert" hat, weil sie sich mit dem Gegenstand der Verhandlung und der Beweisaufnahme nicht rechtzeitig haben vertraut machen können (BSG 11, 165). Der Grundsatz der Gewährung des rechtlichen Gehörs ist daher dann verletzt, wenn die Beteiligten nach Art und Inhalt der Beweisaufnahme keine Möglichkeit hatten, sich allein auf Grund des Vortrags ein klares Bild von dem Inhalt eines Gutachtens zu machen (vgl. auch BSG 4, 60, 64), oder wenn ein Antrag auf Vertagung abgelehnt wird, obwohl sich der Antragsteller zu einem Vorbringen der Gegenseite oder einem Sachverständigengutachten infolge Zeitmangels nicht mehr äußern konnte. Im vorliegenden Falle ist das Gutachten der Nervenfachärztin Dr. B-R vom 12. Juni 1965, das - für den Kläger unerwartet - erst mit Verfügung vom 11. Juni 1965 vom LSG angefordert worden ist, dem Kläger in der mündlichen Verhandlung am 14. Juni 1965 ausgehändigt worden. Sein Prozeßbevollmächtigter hat daraufhin laut Niederschrift über die mündliche Verhandlung sofort beantragt, die Sache zu vertagen, um ihm Gelegenheit zu geben, zu dem im Termin überreichten Gutachten Stellung zu nehmen. Diesem Vertagungsantrag hat das Berufungsgericht nicht entsprochen und auf Seite 18 der Urteilsausfertigung hierzu ausgeführt, daß insbesondere auch das Gutachten der zuletzt noch als ärztliche Sachverständige gehörten Frau Dr. B-R die Auffassung der früher gehörten Sachverständigen auf dem neurologischen Fachgebiet voll und ganz bestätigt habe und daß in dem Gutachten nichts vorgebracht sei, was dem Kläger nicht schon vorher bekannt gewesen wäre. Eine nochmalige Stellungnahme zu dem Gutachten von Frau Dr. B-R habe sich daher erübrigt. Dieser vom LSG gegebenen Begründung für die Ablehnung des Vertagungsantrags kann jedoch nicht zugestimmt werden; vielmehr haben erhebliche Gründe vorgelegen, die das LSG hätten veranlassen müssen, dem Vertagungsantrag stattzugeben.

Das Berufungsgericht hat insofern den Sinn des rechtlichen Gehörs verkannt, als dieser nicht allein darin zu sehen ist, eine erschöpfende Aufklärung des Sachverhalts zu ermöglichen, sondern auch darin, die Würde der Rechtsgenossen zu wahren (vgl. BVerfG in NJW 1958, 665). Es genügt nicht, den Beteiligten nur theoretisch die Möglichkeit zu geben, zu einem Beweisergebnis Stellung zu nehmen; es muß ihnen vielmehr hinreichend Zeit eingeräumt werden, um sich von dem Beweisergebnis ein klares Bild machen und entsprechend dem Inhalt des Beweisergebnisses angemessen Stellung nehmen zu können (BVerfG 4, 150; vgl. auch BSG in SozR SGG § 62 Nr. 6 und 11). Diese Grundsätze für die Gewährung des rechtlichen Gehörs hat das Berufungsgericht im vorliegenden Falle nicht hinreichend beachtet.

Zwischen den Parteien ist streitig, ob der bei dem Kläger bestehende Parkinsonismus in ursächlichem Zusammenhang mit schädigenden Einflüssen seines Wehrdienstes oder seiner Kriegsgefangenschaft steht. Der nach § 109 SGG gehörte Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Leiden Dr. D ist in seinem Gutachten vom 26. Januar 1965 zu dem Ergebnis gelangt, daß die vom Kläger während der Kriegsgefangenschaft durchgemachte schwere Erkrankung der Nasennebenhöhlen mit Operation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache für eine Encephalitis mit der Folge der jetzt beim Kläger vorliegenden Parkinson'schen Erkrankung gewesen ist. Das LSG hat es gegenüber diesem für den Anspruch des Klägers günstigen Gutachten für notwendig erachtet, mit Verfügung vom 11. Juni 1965 - also 3 Tage vor der mündlichen Verhandlung - noch ein Gutachten von der Sachverständigen Dr. B-R zu der Frage einzuholen, ob die frühere Nasennebenhöhlenerkrankung des Klägers mit Wahrscheinlichkeit die Parkinson'sche Erkrankung verursacht oder verschlimmert hat. Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 12. Juni 1965, das dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers erst in der mündlichen Verhandlung überreicht worden ist, diese Frage verneint und hierzu insbesondere insofern eine neue Begründung gegeben, als sie die Angaben des Klägers in der Anamnese zu den zahlreichen im Verfahren eingeholten Gutachten einander gegenübergestellt hat. Sie ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß die Angaben des Klägers darüber, ob er während der Behandlung in der Kriegsgefangenschaft hohes Fieber gehabt hat und strenge Bettruhe hat einhalten müssen, nicht übereinstimmen. Die Sachverständige hat in ihrem Aktengutachten die vom Kläger in den Anamnesen der ersten drei Gutachten wiedergegebenen Angaben, daß keine Bettruhe während des stationären Aufenthalts angeordnet war und kein Fieberanstieg vorlag, entscheidend für die Auffassung ausgewertet, daß eine Komplikation encephalitischer Art während des Krankheitsgeschehens in der französischen Kriegsgefangenschaft ausgeschlossen sei. Es kann hier dahinstehen, ob und in welchem Umfange der Kläger tatsächlich über die Umstände während seiner Behandlung in der Kriegsgefangenschaft verschiedene und sich widersprechende Angaben gemacht hat; jedenfalls mußte ihm Gelegenheit gegeben werden, sich hierzu zu äußern. Das konnte aber nur nach Durchsicht sämtlicher Gutachten seitens des Klägers geschehen, wozu jedoch in der mündlichen Verhandlung selbst keine hinreichend angemessene Zeit zur Verfügung stand. Hinzu kommt, daß es sich bei der zwischen den Parteien streitigen Zusammenhangsfrage um ein schwieriges medizinisches Gebiet handelt, das von medizinischen Laien, zu denen auch der Prozeßbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gehört, nicht übersehen werden kann. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers war daher nicht hinreichend in der Lage, sofort nach Überreichung des Gutachtens der Sachverständigen Dr. B-R zu den von ihr behandelten Fragen ausreichend Stellung zu nehmen und die in dem Gutachten gemachten Ausführungen zu würdigen. Insbesondere konnte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers nicht ohne weiteres zu der dem Gutachten der Sachverständigen Dr. B-R zugrunde liegenden Auffassung Stellung nehmen, daß die Angaben des Klägers gegenüber den einzelnen Sachverständigen über das Krankheitsgeschehen während der französischen Kriegsgefangenschaft widerspruchsvoll gewesen sein sollen. Das Berufungsgericht hat somit dem Kläger keine angemessene Frist zur Erklärung zu dem Gutachten der Sachverständigen Dr. B-R eingeräumt; es hätte im Hinblick auf diese erheblichen Gründe dem in der mündlichen Verhandlung am 14. Juni 1965 gestellten Vertagungsantrag stattgeben müssen. Hierin ist ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zu erblicken, der die Revision des Klägers statthaft macht.

Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das Berufungsgericht bei Gewährung des erforderlichen rechtlichen Gehörs zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Hierbei ist es unerheblich, ob der Kläger durch den gerügten prozessualen Verstoß aus dem Grunde nicht beschwert sein könnte, weil auch dann, wenn das Berufungsgericht gesetzmäßig gehandelt hätte, die Entscheidung mit demselben Ergebnis ergangen wäre. Zu Unrecht scheint das Berufungsgericht diese Auffassung vertreten zu wollen, wenn es auf Seite 18 der Urteilsausfertigung im Zusammenhang mit der Ablehnung des Vertagungsantrags ausführt, daß es "bei den verschiedenen Möglichkeiten für die Entstehung der Parkinson'schen Erkrankung dem Kläger nicht möglich sein wird, den Nachweis für die Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs dieser Erkrankung mit wehrdienstlichen Einflüssen zu erbringen". Selbst wenn dieselbe Entscheidung auch bei ordnungsmäßigem Prozeßhergang ergangen wäre, so braucht dies der Kläger jedoch nicht als Wirkung eines gesetzwidrigen Verfahrens hinzunehmen, weil die gesetzlichen Vorschriften, die den Schutz der Parteirechte bezwecken, von den Gerichten genau befolgt und voll zur Geltung gebracht werden müssen (RGZ 60, 110, 111; ferner Urteil des 8. Senats des BSG vom 26.11.1959 in Sachen G ./. Freistaat Bayern - 8 RV 289/58 -). Da die Gewährung des rechtlichen Gehörs in tatsächlicher Hinsicht in einer Tatsacheninstanz zu geschehen hat, kann der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden (vgl. BSG 5, 158, 165). Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380456

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