Entscheidungsstichwort (Thema)
Überzeugtsein
Leitsatz (redaktionell)
Die Erklärung der geschiedenen Ehefrau eines Versicherten, daß sie "in Vergangenheit und Zukunft auf Unterhalt verzichte" im Protokoll des Scheidungsgerichts, zu dem der Genehmigungsvermerk fehlt und zu dem eine Erklärung des Versicherten fehlt, kann die Überzeugung des Versicherungsträgers rechtfertigen, daß mindestens ein formloser Unterhaltsverzichtsvertrag zustandegekommen ist.
Orientierungssatz
Entscheidend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des die Neufeststellung (hier: einer Witwenrente nach AVG § 42 = RVO § 1265) ablehnenden Bescheides ist nicht, ob das Gericht von der Rechtswidrigkeit des Bescheides überzeugt ist, sondern ob an der gegenteiligen Überzeugung des Versicherungsträgers unter keinem tatsächlichen oder rechtlichem Gesichtspunkt festgehalten werden kann (vgl BSG 1968-07-31 11 RA 244/67 = BSGE 28, 173).
Normenkette
AVG § 79 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 S. 2 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1265 S. 2 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 12. Februar 1976 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 9. Juli 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die am 28. Juni 1899 geborene Klägerin war seit dem 29. November 1940 mit dem am 26. April 1896 geborenen Behördenangestellten Oskar Hess verheiratet gewesen. Durch Urteil des Landgerichts (LG) Saarbrücken vom 19. März 1948 (3 R 416/74) wurde die Ehe auf Verlangen der Klägerin aus dem alleinigen Verschulden des Versicherten geschieden. Bei dieser Gelegenheit erklärte sie nach Erlaß des Scheidungsurteils zu Protokoll des Gerichts, "daß sie in Vergangenheit und Zukunft auf Unterhalt verzichte". Eine Erklärung des Versicherten hierzu ist in dem Sitzungsprotokoll nicht enthalten. Außerdem fehlt der Genehmigungsvermerk gemäß § 162 der Zivilprozeßordnung (ZPO).
Am 14. Oktober 1965 ist der Versicherte gestorben. Er hatte seit Anfang 1949 Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung (AnV) bezogen, zuletzt in Höhe von 207,90 DM monatlich. Er hatte bis zu seinem Tode niemals der Klägerin Unterhalt geleistet.
Ein im Januar 1966 gestellter Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wurde von der Beklagten durch Bescheid vom 17. November 1966 abgelehnt. Die hiergegen vor dem Sozialgericht (SG) für das Saarland erhobene Klage blieb erfolglos. Das SG bestätigte die Auffassung der Beklagten, daß die Klägerin wegen des Unterhaltsverzichts keine Unterhaltsansprüche gegen den Versicherten gehabt habe und damit diese für eine Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG erforderliche unerläßliche Voraussetzung nicht gegeben sei (Urteil vom 10. Oktober 1967).
Am 23. Juni 1972 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung von Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG. Sie bestritt wiederum, im Jahre 1948 auf Unterhalt verzichtet zu haben. Die Beklagte sah den Rentenantrag als Überprüfungsantrag nach § 79 AVG an. Durch Bescheid vom 17. Januar 1973, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1973, lehnte sie den Antrag ab. Eine Verpflichtung zur Leistung von Unterhalt nach dem Ehegesetz (EheG) habe nicht bestanden, da die Klägerin auf Unterhalt verzichtet habe. Die Erklärung im gerichtlichen Protokoll sei wirksam, weil sie vom Versicherten seinerzeit angenommen worden sei, indem er nicht widersprochen habe. Die hiergegen von der Klägerin erhobene Klage blieb erfolglos (Urteil des SG für das Saarland vom 9. Juli 1974). Dagegen hob das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland den Bescheid der Beklagten vom 17. Januar 1973 idF des Widerspruchsbescheides vom 10. Mai 1973 auf und verurteilte sie, der Klägerin bezüglich des Anspruchs auf Geschiedenenwitwenrente einen neuen Bescheid gemäß § 79 AVG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen. Zur Begründung führte es aus, die Beklagte hätte sich davon überzeugen müssen, daß sie die beantragte Geschiedenenwitwenrente seinerzeit im Hinblick auf § 42 Satz 2 AVG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) zu Unrecht abgelehnt habe. Ein rechtswirksamer Unterhaltsverzicht liege nicht vor. Gegen die Rechtsgültigkeit eines Unterhaltsvertrages nach § 72 EheG spreche jedenfalls, daß die Genehmigung dieses Verzichts durch die Parteien nicht im Sitzungsprotokoll vermerkt sei. Zwar habe es sich nicht um einen Prozeßvergleich im Eherechtsstreit im Sinne des § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gehandelt, vielmehr um einen Vergleich nach § 627 b ZPO. Auch die Protokollierung eines solchen hätte aber der Genehmigung durch die Partei bedurft. Der Verstoß gegen die §§ 160 Abs. 2 Nr. 1, 162 ZPO mache jedenfalls die Niederschrift als prozeßrechtlichen Akt unwirksam.
Allerdings könne ein prozessual unwirksamer Verzicht dennoch Wirkungen haben, er könne sich als formloser Erlaßvertrag nach § 397 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) darstellen. Dabei sei auch der Erlaß einer zukünftigen Verbindlichkeit nach § 397 BGB möglich. Ein solcher Erlaßvertrag bedürfe schließlich keiner Form, er könne sogar durch schlüssige Handlungen angenommen werden, etwa durch jahrelanges Unterlassen einer Geltendmachung eines Anspruchs.
Nach Ansicht des Senats könne ein solcher Vorgang aber nur dann rechtliche Folgen haben, wenn die Geltendmachung des Anspruchs erfolgversprechend, also sinnvoll gewesen wäre. Die Klägerin hätte jedoch einen Anspruch auf Unterhalt gegen ihren geschiedenen Ehemann im Zeitpunkt der Ehescheidung wegen ihrer eigenen Einkünfte und später wegen dessen fehlender Leistungsfähigkeit (§ 59 EheG) nicht mit Aussicht auf Erfolg geltend machen können. Der Erlaßvertrag sei somit nicht durch das Verhalten der Klägerin oder durch das Unterbleiben von Zahlungen durch den geschiedenen Ehemann gültig geworden. Da die Klägerin im übrigen bestreite, eine Verzichtserklärung in dem im Protokoll angegebenen Sinn abgegeben zu haben, sie vielmehr lediglich einräume, auf die Vermögenslosigkeit ihres geschiedenen Ehemannes hingewiesen zu haben, könne es nicht als erwiesen angesehen werden, daß damals ein wirksamer Verzicht zustande gekommen sei. Ein solcher gelte auch nicht über § 164 ZPO aF als erwiesen. Somit müsse davon ausgegangen werden, daß die Klägerin nach Verkündung des Scheidungsurteils nicht auf Unterhalt verzichtet habe. Habe aber ein ausdrücklicher Verzicht auf Unterhalt nicht vorgelegen, dann stehe der Klägerin nach § 42 Satz 2 AVG in der ab 1. Juli 1965 geltenden Fassung des RVÄndG die begehrte Geschiedenenwitwenrente zu.
Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt Verletzung des materiellen Rechts und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 9. Juli 1974 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
da dem angefochtenen Urteil zuzustimmen ist.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Die Klägerin hatte bereits im Jahre 1966 einen ersten Antrag auf Zahlung von Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG idF des RVÄndG gestellt. Dieser war abgelehnt worden, die dagegen erhobene Klage war als unbegründet zurückgewiesen worden.
Somit kam nur ein Überprüfungsverfahren nach § 79 AVG in Betracht. Danach hat der Träger der Rentenversicherung eine Leistung neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Überprüfung davon überzeugt, daß eine Leistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden ist.
Überzeugt sich dabei aber der Versicherungsträger nicht von der Unrichtigkeit des früheren Bescheides, weil er nicht von der ursprünglichen Unrichtigkeit oder von einer weiterbestehenden Unrichtigkeit überzeugt ist, lehnt er also die Neufeststellung deshalb ganz oder teilweise ab, so ist auf die Klage hin vom Gericht nur zu prüfen, ob der Versicherungsträger bei der Bildung seiner negativen Überzeugung offensichtlich fehlerhaft gehandelt hat. Die Gerichte dürfen dagegen nicht ihre eigene - positive - Überzeugung an die Stelle der Überzeugung des Versicherungsträgers setzen. Sie dürfen den Versicherungsträger nur dann als von der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides überzeugt ansehen und ihn zum Erlaß des vom Versicherten begehrten günstigeren Neufeststellungsbescheides verurteilen, wenn die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides so offensichtlich ist, daß der Versicherungsträger bei der erneuten Prüfung zu der Überzeugung von der Rechtswidrigkeit hätte gelangen müssen. Entscheidend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des die Neufeststellung ablehnenden Bescheides ist also nicht, ob das Gericht von der Rechtswidrigkeit des Bescheides überzeugt ist, sondern ob die gegenteilige Überzeugung des Versicherungsträgers unter keinem tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt "zu halten" ist, vgl. BSG 28, 173 ff.
Davon kann im vorliegenden Falle nicht gesprochen werden. Das LSG hat sich selbst nicht dazu durchringen können, als erwiesen anzusehen, daß die Klägerin die gerichtlich protokollierte Erklärung nicht abgegeben habe. Statt dessen sieht es lediglich nicht als erwiesen an, daß damals ein wirksamer Verzicht zustande gekommen sei. Hierbei handelt es sich indes um seine höchstpersönliche Überzeugung, so daß die Beklagte nicht gezwungen ist, sich dieser anzuschließen, da verschiedene, mehrfache Gründe für einen wirksamen Unterhaltsverzicht sprechen. Das LSG muß selbst zugeben, daß ein solcher keiner besonderen Form bedurfte und sogar stillschweigend geschlossen werden konnte, indem jahrelang kein Unterhalt gezahlt und auch nicht verlangt wurde. Damit sprechen erhebliche Gründe dafür, daß damals die Klägerin wirklich auf Unterhalt verzichtet hatte, so daß die Beklagte nicht lediglich aufgrund der jetzigen Angaben der Klägerin vom Gegenteil überzeugt sein muß. Der Unterhaltsverzicht aber schloß jeden Anspruch auf eine Rente nach § 42 AVG von vornherein aus (vgl. BSG SozR § 1265 RVO Nr. 54 am Ende und 2200 § 1265 RVO Nrn. 6 und 12).
Somit mußte die Revision Erfolg haben und das Urteil des SG wiederhergestellt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen