Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Streitig ist, wie hoch die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers bei Feststellung seiner Dauerrente zu bewerten ist.
Der 1934 geborene Kläger, der früher als jugoslawischer Gastarbeiter in einem Sägewerk tätig war, geriet am 20. November 1972 mit der rechten Hand in eine Kreissäge und büßte dadurch den Zeige- und am Mittelfinger bis auf einen Teil der Grundglieder ein. Seine MdE wurde in einem - für die Gewährung der vorläufigen Rente erstatteten - Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. V… vom 30. Juni 1973 für die Zeit nach Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit (2. Mai 1973) zunächst mit 40 v. H. und seit dem 30. Juni 1973 für acht Monate mit 30 v. H. eingeschätzt und die Rente entsprechend festgestellt (Bescheid der Beklagten vom 11. September 1973). Nach Erhebung der- auf Zahlung einer höheren Rente gerichteten - Klage ließ das Sozialgericht (SG) den Kläger im Verhandlungstermin vom 25. Juli 1974 durch den Facharzt für Chirurgie Dr. F… untersuchen und wies die Klage, da auch Dr. F… die MdE mit 30 v. H. bewertete, als unbegründet ab (Urteil vom 25. Juli 1974). Während des Berufungsverfahrens erteilte die Beklagte dem Kläger einen Bescheid über die Feststellung der Dauerrente, nachdem sie ihren beratenden Arzt Dr. K… gehört hatte; entsprechend seiner ohne Untersuchung des Klägers abgegebenen Stellungnahme setzte sie die MdE mit 25 v. H. fest (Bescheid vom 19. September 1974).
Das Landessozialgericht (LSG) hat diesen - nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in das Verfahren einbezogen Bescheid geändert und die Beklagte - unter Abweisung der Klage im übrigen und Verwerfung der auf Zahlung einer höheren vorläufigen Rente gerichteten Berufung - zur Gewährung einer Dauerrente nach einer MdE von 30 v. H. verurteilt: Zwar könnten die Gerichte einen vom Versicherungsträger festgestellten MdE-Grad grundsätzlich nicht um nur 5 v. H. ändern. Ausnahmen seien jedoch unter besonderen Umständen zulässig. Eine solche Ausnahme liege hier vor, da das Gutachten von Dr. K… grobe Mängel aufweise. Dieser habe die MdE des Klägers mit 25 v. H. bewertet, ohne ihn vorher untersucht zu haben und "ohne auch nur mit einem Wort darzulegen, weshalb die MdE von 30% auf 25% abgesunken sein soll". Diese Beurteilung sei willkürlich, zumal Dr. F… noch Ende Juli 1974 die MdE des Klägers aufgrund einer Untersuchung auf 30 v. H. geschätzt habe. Eine höhere MdE als 30 v. H. liege allerdings nach den Gutachten von Dr. M… und Dr. F… nicht vor (Urteil vom 11. Juni 1975).
Die Beklagte macht mit der vom Senat durch Beschluß vom 10. Dezember 1975 zugelassenen Revision geltend, sie sei bei Gewährung der Dauerrente nicht an die für die vorläufige Rente erfolgte Feststellung der MdE gebunden gewesen; insbesondere bedürfe es keiner Änderung der Verhältnisse, um den MdE-Grad bei der Dauerrente anders als bei der vorläufigen Rente zu bewerten. Die Einschätzung durch Dr. K… sei auch nicht willkürlich gewesen. Er habe von den durch Dr. M… und Dr. F… erhobenen Befunden ausgehen können, da zwischen der Untersuchung durch Dr. F… und seiner Stellungnahme nur ca. zwei Monate gelegen hätten. Eine Befundverschlechterung sei deshalb nicht anzunehmen. Eine MdE von 25. v. H. entspreche im Falle des Klägers den in der Unfallmedizin üblichen Werten. Die MdE werde für die vorläufige Rente regelmäßig höher eingeschätzt. Im übrigen habe das LSG die MdE nicht ohne eigene Beweiserhebung selbst schätzen dürfen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Juni 1975 aufzuheben, soweit es den Bescheid vom 19. September 1974 betrifft, und die Klage gegen diesen Bescheid abzuweisen.
Der Kläger hat sich Im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II.
Auf die Revision der Beklagten hat der Senat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen.
Gegenstand des Verfahrens Ist nur noch der Bescheid der Beklagten vom 19. September 1974 über die erste Feststellung der Dauerrente nach § 1585 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der zunächst ebenfalls angefochten gewesene Bescheid vom 11. September 1973 über die Gewährung einer vorläufigen Rente ist nicht mehr im Streit, nachdem das SG die dagegen erhobene Klage abgewiesen, das LSG die Berufung des Klägers nach § 145 Nr. 3 SGG als unzulässig verworfen und der Kläger ein Rechtsmittel nicht eingelegt hat.
Der - während des Berufungsverfahrens ergangene - Dauerrentenbescheid vom 19. September 1974 hat den Bescheid vom 11. September 1973 ersetzt und ist deshalb, wie das LSG zutreffend angenommen hat, trotz Unzulässigkeit der Berufung (BSG 4, 24) nach §§ 96, 153 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Über ihn hatte das LSG als erste Instanz zu entscheiden (BSG 18, 231, Leitsatz 2).
Das LSG hat diesen Bescheid für rechtswidrig gehalten, weil die - ihm zugrunde liegende - Bewertung der MdE des Klägers mit 25 v. H. durch den beratenden Arzt der Beklagten "willkürlich" sei: Dr. K… habe, ohne dies "auch nur mit einem Wort" zu begründen, die MdE des Klägers ohne Untersuchung um 5 v. H. niedriger bewertet als Dr. F…, der ihn Ende Juli 1974 untersucht habe. Der Bescheid der Beklagten sei "somit dahin abzuändern", daß auch die Dauerrente nach einer MdE von 30 v. H. zu gewähren sei. Dieser Rechtsauffassung kann der Senat nicht folgen.
Mit welchem Prozentsatz eine unfallbedingte MdE zu bewerten ist, läßt sich - anders als etwa beim Jahresarbeitsverdienst, der mit der MdE zu den Grundlagen der Rentenberechnung gehört (§ 581 RVO) - in aller Regel nicht mathematisch-exakt festlegen, sondern nur annähernd bestimmen, wobei üblicherweise Stufen gewählt werden, die durch die Zahl 10, allenfalls 5 oder 3 teilbar sind. Die Bewertung der MdE ist mithin ihrem Wesen nach eine Schätzung, der - wie jeder Schätzung - eine gewisse Schwankungsbreite eigentümlich ist. Soweit dabei bestimmte Grenzen nicht überschritten werden, ist jede innerhalb der Toleranzspanne liegende Schätzung gleichermaßen rechtmäßig. Als äußerste Grenzen der Spanne hat schon das frühere Reichsversicherungsamt Abweichungen um 5 v. H. nach oben oder nach unten angesehen (vgl. BSG 32, 245, 246 f.; 37, 177, 178 f.). Das Bundessozialgericht (BSG) ist dem gefolgt und hat dabei auf gesetzliche Regelungen verwiesen, nach denen eine MdE von 10 v. H. die untere Grenze dessen ist, was medizinisch und wirtschaftlich meßbar sei (BSG 32, 245, 249). Das bedeutet, daß eine Schätzung der MdE durch den Versicherungsträger so lange als rechtmäßig anzusehen ist, als eine spätere Schätzung durch das Gericht (bzw. den von ihm gehörten ärztlichen Sachverständigen) nicht um mehr als 5 v. H. von der früheren abweicht. Das gilt allerdings nur unter der - selbstverständlichen - Voraussetzung, daß im Verwaltungsverfahren die Schätzungsgrundlagen richtig ermittelt worden sind, ferner alle für die Schätzung wesentlichen Umstände hinreichend gewürdigt sind und die Schätzung selbst nicht auf falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (vgl. BSG 11, 102, 118, dort für die Schätzung des Umfangs einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise im Kassenarztrecht). Ist eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, sind also etwa die medizinischen Befunde - als Grundlage für die ärztliche Beurteilung der MdE - nicht richtig oder vollständig erhoben worden oder haben sie sich später geändert, dann ist auch eine nur um 5 v. H. von der Schätzung des Versicherungsträgers abweichende Bewertung der MdE durch das Gericht zulässig (vgl. BSG 37, 177, 179 und die dort angeführte Entscheidung des LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1973, 891). Das gleiche gilt, wenn der Versicherungsträger oder der von ihm gehörte ärztliche Sachverständige einen allgemeinen Erfahrungssatz für die Bewertung bestimmter Verletzungsfolgen nicht beachtet hat (vgl. SozR 2200 Nr. 5 zu § 581 RVO) oder der Bewertung der MdE erkennbar falsche oder unsachliche Erwägungen zugrunde liegen. Von diesen Rechtsgrundsätzen ist nicht nur bei einer Neufeststellung der Dauerrente wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse i. S. des § 622 RVO (BSG 32, 245), sondern auch dann auszugehen, wenn - wie im vorliegenden Fall - die erste Feststellung der Dauerrente streitig ist. Das hat der 2. Senat des BSG inzwischen klargestellt (SozR 2200 Nr. 5 zu § 581 RVO). Der erkennende Senat, der die Frage bisher nicht entschieden hat (vgl. BSG 37, 177, 179), schließt sich dieser Auffassung an; denn es lassen sich keine überzeugenden Gründe erkennen, um eine spätere (neue) Feststellung der Dauerrente anders als die erste zu behandeln. Hat der Versicherungsträger dagegen die Gewährung einer Dauerrente abgelehnt, weil eine MdE im rentenberechtigendem Grade nicht vorliege, so ist das Gericht, wenn es den Rentenanspruch bejaht, bei der Bewertung der MdE frei, da in diesem Falle eine Schätzung der MdE durch den Versicherungsträger nicht vorliegt (vgl. BSG 37, 177, 180 und SozR a.a.O. S. 21).
Nach den vorstehenden Grundsätzen hätte das LSG hier die Schätzung der MdE des Klägers durch die Beklagte (25 v.H.) durch eine eigene, lediglich um 5 v. H. abweichende Schätzung (30 v. H) nur ersetzen dürfen, wenn eine der genannten Voraussetzungen vorgelegen hätte. Das ist nach den bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht der Fall. Daß Dr. K… (und mit ihm die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid) von unrichtigen oder unvollständigen Befunden ausgegangen ist - ihm haben mangels einer eigenen Untersuchung nur die von Dr. M… und Dr. F… erhobenen Befunde zur Verfügung gestanden - ist dem Urteil des LSG nicht zu entnehmen. Dr. K hat auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz für die Bewertung der beim Kläger bestehenden Verletzungsfolgen (Verlust des 2. und 3. Fingers der rechten Hand) außer Acht gelassen. Zwar werden diese oder ähnliche Unfallfolgen im jüngsten versicherungsmedizinischen Schrifttum mit einer MdE von 30 v. H. bewertet (so Liniger-Molineus, Der Unfallmann, 9, Aufl. 1974, S. 239; Günther/Hymmen, Unfallbegutachtung, 6. Aufl., 1972, Anhang Tafel VIII, Abb. 90). Dieser Auffassung steht aber das ältere Schrifttum entgegen (vgl. Marx, Gutachtenfibel, 2. Aufl., 1969, S. 219; Bürkle de la Camp/Schwaiger, Handbuch der gesamten Unfallheilkunde, 3. Aufl., 1965, Bd. III, S. 226; Lob, Handbuch der Unfallbegutachtung, Bd. 1, 1961 S. 376; Krösl/Zrubecky, Arbeitsunfall und Begutachtung, 1970, S. 71, die hier eine MdE von 25 v. H. für angemessen halten, ebenso früher auch Liniger-Molineus, a.a.O., 8. Aufl., 1964, S. 188 und Rostock, Unfallbegutachtung, 4. Aufl., 1957, S. 58; nur eine MdE von 20 v. H. nehmen an Fischer/Herget/Mollowitz, Das ärztliche Gutachten im Versicherungswesen, 3. Aufl., 1968, Bd. 1 S. 459, allerdings für die Kriegsopferversorgung eine MdE von 30 v. H.). Schließlich beruht die Schätzung der MdE mit 25 v. H. durch Dr. K… (und ihm folgend die Beklagte) nicht auf unsachlichen Erwägungen, wie das LSG anzunehmen scheint, wenn es dem Gutachter "Willkür" bei der Bewertung der MdE vorwirft. Daß er die MdE nach Aktenlage um 5 v. H. niedriger geschätzt hat als Dr. F…, der den Kläger kurz vorher untersucht hatte, ohne diese Abweichung zu begründen, rechtfertigt den Vorwurf der Willkür nicht. Die gutachtliche Äußerung von Dr. F… war - wie das frühere Gutachten von Dr. M…, der ebenfalls eine MdE von 30 v. H. (für acht Monate) angenommen hatte - für die Gewährung der vorläufigen Rente erstattet worden. Die Feststellung der Dauerrente, die spätestens mit Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall zu erfolgen hat, setzt eine Änderung der Verhältnisse nicht voraus; für sie ist auch eine vorher getroffene Feststellung der Grundlagen für die Rentenberechnung, insbesondere eine Feststellung der MdE für die Berechnung der vorläufigen Rente, nicht bindend (§ 1585 Abs. 2 RVO). Weder der Versicherungsträger noch der von ihm vor Feststellung der Dauerrente gehörte medizinische Sachverständige brauchen deshalb auf die Frage einer etwaigen Änderung der für die vorläufige Rente zugrunde gelegten Befunde einzugehen, sondern können - auch bei unveränderten Befunden - die MdE anders als bei der vorläufigen Rente einschätzen; insofern unterscheidet sich die erste Feststellung der Dauerrente von einer späteren Neufeststellung nach § 622 RVO. Nur wenn sie sich erkennbar von falschen oder unsachlichen Erwägungen haben leiten lassen, etwa von der Überlegung, daß die MdE bei der Dauerrente grundsätzlich niedriger als bei der vorläufigen Rente zu bewerten sei, ist ihre Schätzung für das Gericht unbeachtlich und kann durch eine eigene ersetzt werden, auch wenn diese um nicht mehr als 5. v. H. von der des Versicherungsträgers abweicht. Ein solcher Fall einer erkennbar unsachlichen ("willkürlichen") Bewertung der MdE ist - entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts - nicht allein schon deswegen anzunehmen, weil die von den früher gehörten Gutachtern abweichende, ohne Untersuchung abgegebene Schätzung der MdE durch Dr. K… von ihm nicht begründet worden ist. Das LSG hätte deshalb im vorliegenden Fall die Schätzung der MdE des Klägers durch die Beklagte (25 v. H.) nicht ohne weiteres durch eine eigene, nur um 5 v. H. abweichende (30 v. H.) ersetzen dürfen. Sein Urteil kann mithin nach dem derzeitigen Verfahrensstand nicht bestehen bleiben.
Gleichwohl ist der Rechtsstreit noch nicht zu einer abschließenden Entscheidung im Sinne der Beklagten reif. Denn es kann einerseits nicht ausgeschlossen werden, daß sich die durch den Unfall des Klägers hervorgerufenen Verletzungsfolgen an der rechten Hand seit der letzten Untersuchung im Juli 1974, die schon bei der Entscheidung des LSG (11. Juni 1975 fast ein Jahr zurücklag, so weit verschlechtert haben, daß die vom LSG angenommene Bewertung der MdE mit 30 v. H. gerechtfertigt ist. Anderseits wäre zu klären, ob der im September 1974 bestehende konkrete Unfallfolgezustand nicht ohnedies nach den geltenden unfallmedizinischen Erfahrungswerten mit einer MdE von 30 v. H. zu bewerten ist. Um dem LSG Gelegenheit zu Ermittlungen in dieser Richtung zu geben, hat der Senat den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen.
Fundstellen