Leitsatz (amtlich)

Wer als Privatperson seine zulässig eingelegte Berufung auf einen gesetzlich nicht berufungsfähigen Streitgegenstand allein wegen einer zuvor nicht bekannten Rechtsauffassung des Prozeßgerichts einschränkt, obwohl diese durch die Rechtsprechung noch nicht geklärt ist, handelt willkürlich mit der Folge, daß die Berufung unzulässig ist.

 

Orientierungssatz

Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels richtet sich nach den Verhältnissen, die zur Zeit der Rechtsmitteleinlegung vorliegen, und nicht nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts (ständige Rechtsprechung).

 

Normenkette

SGG § 144 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 28.09.1982; Aktenzeichen L 3 Ar 40/81)

SG Hannover (Entscheidung vom 10.12.1980; Aktenzeichen S 3 Ar 233/80)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) während der Semesterferien hat.

Die Klägerin war von April 1974 bis Ende Juni 1979 als Diätassistentin beschäftigt. Ab 1. Oktober 1979 studierte sie an der Pädagogischen Hochschule H.. Sie war für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen eingeschrieben. Aufgrund ihrer beruflichen Vorbildung ließ sich die Klägerin von dem betriebspädagogischen Praktikum befreien. Dieses ist nach der Rahmenstudienordnung der Hochschule für den von der Klägerin gewählten Studiengang vorgesehen und wird in der Regel in der vorlesungsfreien Zeit zwischen dem ersten und zweiten Semester absolviert.

Am 12. Februar 1980 meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19. März 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Mai 1980 mit der Begründung ab, der Alg-Anspruch der Klägerin ruhe während des Hochschulbesuchs gemäß § 118a Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage, mit der Alg ab 12. Februar 1980 für mehr als 13 Wochen begehrt wurde, abgewiesen (Urteil vom 10. Dezember 1980).

Mit der Berufung verfolgte die Klägerin zunächst diesen Anspruch weiter. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) schränkte sie ihren Antrag dahin ein, daß sie Alg nur noch für die Zeit vom 12. Februar bis 16. April 1980 begehrte. Zuvor war ihren Prozeßbevollmächtigten vom LSG eine Abschrift des Urteils des LSG Niedersachsen vom 8. September 1981 - L 3 Ar 29/81 -, auf das sich die Beklagte berufen hatte, zur Kenntnisnahme übersandt worden.

Das LSG hat mit Urteil vom 28. September 1982 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben, die angefochtenen Bescheide abgeändert und die Beklagte antragsgemäß verurteilt, der Klägerin Alg für die Zeit vom 12. Februar bis 16. April 1980 zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Berufung sei zulässig. Die nachträgliche Beschränkung des Klagebegehrens auf die Gewährung von Alg für die Zeit vom 12. Februar bis 16. April 1980 und damit auf einen Zeitraum von weniger als drei Monaten (§ 144 Abs 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) habe nicht den Ausschluß der Berufung zur Folge. Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels richte sich grundsätzlich nicht nach der Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichtes, sondern nach den Verhältnissen bei Einlegung des Rechtsmittels. Ursprünglich seien Klage und Berufung aber auf einen Zeitraum von mehr als 13 Wochen gerichtet gewesen. Die nachträgliche Beschränkung der Berufung auf einen Zeitraum von unter 13 Wochen sei auch nicht willkürlich, sondern trage dem Urteil des LSG vom 8. September 1981 (L 3 Ar 29/81) zu § 118a AFG Rechnung.

Die Berufung sei auch begründet. Entgegen der Ansicht der Beklagten habe der Anspruch der Klägerin auf Alg nicht gemäß § 118a AFG geruht.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 118a AFG. Sie ist der Auffassung, das LSG habe zu Recht die Berufung für zulässig erachtet. In der Sache selbst habe es verkannt, daß ein Ruhen des Alg-Anspruchs nach § 118a Abs 1 AFG immer dann eintrete, wenn eine Ausbildung an einer Hochschule aufgenommen werde, da diese einen ordentlichen Studierenden stets voll in Anspruch nehme. Es sei hierbei unerheblich, ob sich der Student aufgrund besonderer Qualifikationen, zB abgeschlossene Ausbildung zur Diätassistentin, von der Teilnahme an einem Betriebspraktikum während der Ferien befreien lassen könne.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. September 1982 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 10. Dezember 1980 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Mit dem LSG sei davon auszugehen, daß die in der Vorschrift des § 118a Abs 1 AFG aufgenommene Einfügung: "im allgemeinen" zwar die Berücksichtigung individueller und subjektiver Verhältnisse verbiete; dem LSG sei weiterhin auch darin zu folgen, daß demgegenüber aber der Nebensatz: "wenn die Ausbildung die Arbeitskraft eines Schülers oder Studenten voll in Anspruch nimmt" noch Bedeutung für denkbare Ausnahmefälle haben müsse. Er wäre völlig überflüssig und damit bedeutungslos, wenn man, wie die Beklagte, schlechthin davon ausgehen wolle, daß mit Beginn eines Hochschulstudiums auch stets die Ruhenswirkung des § 118a Abs 1 AFG eintrete. Insoweit werde auf die entsprechende Entscheidung des 3. Senats des LSG Niedersachsen vom 8. September 1981 (L 3 Ar 29/81) verwiesen. Die Ferien der Klägerin zwischen dem 1. und dem 2. Semester seien ein solcher Ausnahmefall.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist schon deshalb begründet, weil die Berufung der Klägerin unzulässig ist.

Die Beklagte hat zwar einen entsprechenden Mangel des Verfahrens des LSG nicht gerügt (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Indes sind bei einer zulässigen Revision Verfahrensmängel von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn es sich um einen in der Revisionsinstanz fortwirkenden Verstoß gegen einen verfahrensrechtlichen Grundsatz handelt, der im öffentlichen Interesse zu beachten ist, dessen Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist. Zu diesen von Amts wegen zu beachtenden Prozeßvoraussetzungen gehört nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch die Zulässigkeit der Berufung (vgl SozR 1500 § 147 Nr 3, § 150 Nrn 11 und 18 mwN).

Die Berufung ist entgegen der Ansicht des LSG und der Beteiligten gemäß § 144 Abs 1 Nr 2 SGG unzulässig, weil sie Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum betrifft, der dreizehn Wochen (3 Monate) nicht überschreitet, und die Berufung ungeachtet dieser Vorschrift auch nicht gemäß § 150 SGG zulässig ist. Das SG hat die Berufung nicht zugelassen (§ 150 Nr 1 SGG). Die Klägerin hat vor dem LSG keinen wesentlichen Mangel im Verfahren des SG gerügt, der auch tatsächlich vorliegt (§ 150 Nr 2 SGG). Die Gründe des § 150 Nr 3 SGG, die zur Zulässigkeit der Berufung führen, kommen im vorliegenden Falle nicht in Betracht.

Die Klägerin hat allerdings mit ihrer Berufung wie mit der Klage zunächst einen Anspruch auf Alg ab 12. Februar 1980 für einen Zeitraum von mehr als dreizehn Wochen geltend gemacht. Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels richtet sich nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nach den Verhältnissen, die zur Zeit der Rechtsmitteleinlegung vorliegen, und nicht nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn sich im Laufe des Rechtsmittelverfahrens die Beschwer des Rechtsmittelführers so weit verringert, daß sie nicht mehr den gesetzlichen Zulassungsvoraussetzungen entspricht. Hiervon macht die Rechtsprechung nur dann eine Ausnahme, wenn der Rechtsmittelkläger diese Verringerung der Beschwer willkürlich herbeigeführt hat (BSGE 16, 134, 135; 37, 64, 65; BSG SozR Nrn 6, 8, 9 und 12 zu § 146; SozR 1500 § 146 Nrn 5, 6 und 7; SozR 1500 § 149 Nr 3).

Eine willkürliche Einschränkung des Rechtsmittels liegt vor, wenn dafür ein vernünftiger Grund nicht erkennbar oder aber von vornherein, dh im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels, Anlaß bestanden hat, das Rechtsmittel nur beschränkt einzulegen, so daß die erst nachträgliche Einschränkung "willkürlich" erscheint und unter Umständen sogar den Verdacht nahelegt, der Rechtsmittelkläger habe die Zulässigkeit des Rechtsmittels erschleichen wollen. Willkür setzt hiernach voraus, daß für das Verhalten des Rechtsmittelklägers ein vernünftiger Grund nicht erkennbar ist, dieses Verhalten nach den Umständen des Einzelfalles nicht als sachgerecht erscheint (BSG SozR 1500 § 146 Nr 7). Das ist hier entgegen der Auffassung des LSG der Fall.

Eine Änderung im Beschwerdegegenstand, die zur Einschränkung des Berufungsantrags hätte führen können, was als sachgerecht anzusehen ist (vgl BSG SozR 1500 § 149 Nr 3), liegt nicht vor. Hier hat die Klägerin nach den Feststellungen des LSG die Berufung deswegen eingeschränkt, weil dies dem Urteil des Berufungsgerichts vom 8. September 1981 zu § 118a AFG "Rechnung trägt". Die Klägerin hat also ihre bisherige Rechtsauffassung, wonach auch während des Semesters ihr Anspruch auf Alg nicht gemäß § 118a Abs 1 AFG ruhe, aufgegeben. An der Sach- und Rechtslage selbst hatte sich gegenüber dem Zeitpunkt, zu dem sie die Berufung einlegte, nichts geändert. Es ist nicht erkennbar, daß die Klägerin durch irgendwelche äußeren Umstände, die außerhalb ihres Willens lagen, zu der Einschränkung genötigt worden ist.

Es ist zwar anerkannt, daß es unschädlich ist, wenn sich ein Sozialleistungsträger aufgrund einer erneuten Überprüfung der Sach- und Rechtslage oder bei Beachtung der bisher nicht bekannten Rechtsprechung des BSG davon überzeugt hat, daß ein Teil des geltend gemachten Anspruchs berechtigt ist und deshalb die Berufung beschränkt (vgl BSG SozR Nr 9 zu § 146 SGG; BSG SozR 1500 § 149 Nr 3). Jedoch treffen die dafür maßgeblichen Gründe auf den Fall der Klägerin nicht zu. Entscheidend war in jenen Fällen, daß die Verwaltungsbehörde wegen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gehalten war, dem Begehren des jeweiligen Klägers zu entsprechen. Eine entsprechende Pflicht besteht aber für die Klägerin nicht.

Ob es überhaupt als sachgerechte Einschränkung des Antrags angesehen werden kann, wenn eine Privatperson, nachdem sie Kenntnis von einer ihr bisher nicht bekannten Rechtsprechung des Prozeßgerichts erlangt hat, ihren Antrag einschränkt, mag dahingestellt bleiben. Dies könnte vernünftigerweise allenfalls zutreffen, wenn es sich um Rechtsfragen handeln würde, die aufgrund dieser Rechtsprechung geklärt sind. Das ist hier aber gerade nicht der Fall. Vielmehr hat das LSG in dem Urteil vom 8. September 1981 die Revision zugelassen. Eine Entscheidung des BSG in der Sache zu dieser Rechtsfrage liegt noch nicht vor. Wenn sich dennoch die Klägerin, wie insbesondere aus ihrer Revisionserwiderung hervorgeht, der Rechtsauffassung des LSG in dem Urteil vom 8. September 1981 insoweit anschließt, als ihr danach kein Anspruch auf Alg für die Zeit nach dem 16. April 1980 zusteht, dann handelt sie aus freien Stücken. Sie kann nicht günstiger gestellt werden, als wenn sie das Rechtsmittel von vornherein in dem beschränkten Umfange eingelegt hätte. Anderenfalls könnte dies dazu führen, daß der Berufungskläger durch einen von ihm zunächst erweiterten Antrag, den er selbst nicht für gerechtfertigt hält und deshalb später wieder einschränkt, die Vorschriften der Statthaftigkeit der Berufung durch eine solche Verfahrensweise umgehen könnte (vgl BSG SozR, SGG § 146 Nr 8).

Das LSG hätte somit über die Berufung der Klägerin nicht sachlich entscheiden dürfen, sondern hätte das Rechtsmittel gemäß § 158 SGG als unzulässig verwerfen müssen.

Schon aus diesen Gründen muß der Revision der Beklagten entsprochen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1984, 535

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge