Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenerhöhung nach RVO § 587 bei Umschulung. Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente (§ 587 Abs 1 RVO) während der Arbeitsunfähigkeit infolge unfallunabhängiger Erkrankung
Leitsatz (amtlich)
Besteht nach den Umständen des Einzelfalls die Aussicht, daß ein Verletzter in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einem Arbeitserwerb nachgehen wird, so verliert er dadurch, daß er nicht nur infolge des Arbeitsunfalls, sondern auch wegen einer später hinzukommenden unfallunabhängigen Erkrankung ohne Arbeitseinkommen ist, nicht den Anspruch aus RVO § 587.
Orientierungssatz
Hat der Unfallversicherungsträger nach RVO § 556 Abs 1 Nr 2 eine Umschulung des Verletzten eingeleitet, so ist für den Anspruch nach RVO § 587 Abs 1 nicht Voraussetzung, daß die Umschulung erfolgreich abgeschlossen ist.
Normenkette
RVO § 587 Abs 1 Fassung: 1963-04-30, § 556 Abs 1 Nr 2
Verfahrensgang
SG Detmold (Entscheidung vom 21.02.1979; Aktenzeichen S 8 U 18/78) |
Tatbestand
Streitig ist unter den Beteiligten, ob von der Gewährung der Vollrente nach § 587 der Reichsversicherungsordnung (RVO) diejenigen Zeiträume ausgenommen werden können, in denen der Verletzte wegen unfallunabhängiger Leiden arbeitsunfähig war.
Wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls vom 31. Januar 1973 (substantielle Hirnverletzung), den die Beklagte als Arbeitsunfall anerkannt hat, kann der Kläger seinen Beruf als Produktionsleiter eines Zweigwerks der C-G-W nicht mehr ausüben. Das Arbeitsverhältnis wurde zum 30. September 1974 gelöst. Der Kläger war bis zum 19. August 1974 wegen der Unfallfolgen arbeitsunfähig, er erhielt aus der Rentenversicherung für das gesamte Jahr 1974 Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit und für die Jahre 1975 bis einschließlich 1977 Rente auf Zeit wegen Berufsunfähigkeit. Seit dem 4. Oktober 1976 wurde er zum Bürokaufmann umgeschult. Wegen unfallunabhängiger Leiden war er vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 und vom 31. August 1976 bis zum 1. Oktober 1976 arbeitsunfähig. In der Zeit vom 1. April bis zum 30. August 1976 erhielt er Arbeitslosenhilfe (Alhi); Krankengeld bezog er vom 1. Januar bis zum 1. April 1975 und vom 31. Januar bis zum 31. März 1976.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger zunächst durch Bescheid vom 10. April 1975 für die Zeit vom Unfall bis zum 19. August 1974 als Dauerrente die Vollrente und seit dem 20. August 1974 eine Teilrente in Höhe von 30 % der Vollrente. Die gegen diesen Bescheid am 7. Mai 1975 erhobene Klage nahm der Kläger am 24. Juni 1975 zurück. Aufgrund der Anregung des Klägers vom 13. Dezember 1977, den Sachverhalt auch unter der bislang nicht beachteten Vorschrift des § 587 Abs 1 RVO zu prüfen, erteilte ihm die Beklagte den Bescheid vom 4. Januar 1978. Darin erhöhte sie die Teilrente des Klägers, weil er in der Zeit vom 1. April bis zum 3. Oktober 1976 infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen gewesen sei, gemäß § 587 RVO für diesen Zeitraum auf die Vollrente.
Mit der gegen den Bescheid vom 4. Januar 1978 gerichteten Klage hat der Kläger die Vollrente auch für die Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 begehrt. Das Sozialgericht (SG) Detmold hat durch Urteil vom 21. Februar 1979 in Abänderung des angefochtenen Bescheides die Beklagte verurteilt, dem Kläger auch für die Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 die Vollrente zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, da es in der Unfallversicherung keine überholende Kausalität gebe, entfalle der unfallbedingte Verlust des Arbeitseinkommens nicht durch die in der Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 eingetretene unfallunabhängige Arbeitsunfähigkeit.
Die vom SG zugelassene Revision gegen das der Beklagten am 13. März 1979 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 29. März 1979 eingelegt. Im Nachgang hierzu hat sie am 30. März 1979 die Zustimmung des Klägers zur Sprungrevision nachgereicht. Sie bezweifelt die Zulässigkeit der Klage für die Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976, weil über diesen Zeitraum im angefochtenen Bescheid nicht entschieden worden sei und auch hierzu kein Vorverfahren stattgefunden habe. Sachlich sei der Anspruch auf die Vollrente in der Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 deshalb nicht gerechtfertigt, weil der Kläger in dieser Zeit nach den Feststellungen des SG wegen unfallunabhängiger Leiden arbeitsunfähig und deshalb ohne Arbeitseinkommen gewesen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom
21. Februar 1979 aufzuheben und die Klage
gegen den Bescheid vom 4. Januar 1978
abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil
des Sozialgerichts Detmold vom 21. Februar 1979
als unzulässig zu verwerfen;
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Die Revision ist entgegen der Meinung des Klägers nicht deshalb unzulässig, weil das SG die Berufung nicht ausdrücklich zugelassen hat. Wie bereits der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 28. Juli 1977 - 2 RU 5/77 - (BSGE 44, 203 = SozR 1500 § 150 Nr 9) entschieden hat, liegt in der Zulassung der Revision gemäß § 161 SGG, sofern die Berufung nach §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossen ist, zugleich die Zulassung der Berufung gemäß § 150 Nr 1 SGG. Dieser Rechtsauffassung haben sich der 4. Senat im Urteil vom 30. November 1977 - 4 RJ 23/77 - (BSGE 45, 183, 184), der 3. Senat im Urteil vom 10. Oktober 1978 - 3 RK 23/78 - (SozR 1500 § 150 Nr 13) und der 9. Senat im Urteil vom 6. Dezember 1978 - 9 RV 16/78 - (SozR 1500 § 150 Nr 15) angeschlossen. Der erkennende Senat tritt dieser Rechtsauffassung aus den Gründen der genannten Urteile bei.
Die Revision ist auch nicht, wie der Kläger annimmt, deshalb unzulässig, weil entgegen dem Wortlaut des § 161 Abs 1 Satz 3 SGG seine Zustimmung der Sprungrevision der Beklagten nicht beigefügt war, sondern erst einen Tag später, jedoch innerhalb der Revisionsfrist, beim BSG eingegangen ist. Es wäre unnötiger Formalismus, wenn die Zustimmungserklärung innerhalb der Revisionsfrist nachgereicht wird, nochmals die Vorlage der Revisionsschrift zu verlangen, um den Wortlaut des § 161 Abs 1 Satz 3 SGG - "beizufügen" - Genüge zu tun. Der Senat folgt daher der vom 11. Senat wiederholt sinngemäß zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung, daß die Vorschrift des § 161 Abs 1 Satz 3 SGG nach ihrem Sinn und Zweck erfüllt ist, wenn die schriftliche Zustimmung des Gegners zwar nicht der Revisionsschrift beigefügt ist, jedoch bis zum Ablauf der Revisionsfrist dem Revisionsgericht zugeht (vgl SozR 1500 § 161 Nr 2, Nr 10 = BSGE 42, 191).
Soweit die Beklagte Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage erhoben hat, greifen diese nicht durch. Nachdem der Kläger im Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 13. Dezember 1977 ausdrücklich darum gebeten hatte, den Sachverhalt auch unter dem Gesichtspunkt des bislang nicht beachteten § 587 Abs 1 RVO zu prüfen, konnte der Bescheid vom 4. Januar 1978, welcher die Erhöhung nur für die Zeit vom 1. April bis zum 3. Oktober 1976 vornahm, mangels der Ankündigung eines weiteren Bescheides über die Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 nur dahin verstanden werden, daß insoweit der Bitte des Klägers um Gewährung der Vollrente - ohne Ausspruch und ohne Begründung hierzu - nicht entsprochen wurde. So war der Bescheid auch gemeint, wie der Klageerwiderung vom 24. Februar 1978 zu entnehmen ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob die stillschweigende Ablehnung einer Rentenerhöhung einem Bescheid auch dann entnommen werden kann, wenn er sie für den ersten Teil eines zu beurteilenden Zeitraums bejaht und zum zweiten Teil dieses Zeitraumes keine Aussage enthält. Hier jedenfalls durfte der Kläger, der die Prüfung des gesamten Zeitraumes ab 20. August 1974 - dem Ende der durch Bescheid vom 10. April 1975 gewährten Vollrente - begehrt hatte, aus der Tatsache, daß die Beklagte sich zu der Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 nicht erklärt hatte, wie sich aus der Gewährung der Vollrente für die Zeit vom 1. April bis zum 30. Oktober 1976 ergab, auf die Ablehnung der Vollrente für die Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 schließen. Anders konnte der "Bescheid über Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente gemäß § 587 RVO" von ihm nicht verstanden werden. Die Klage war demnach zulässig.
Eines Vorverfahrens bedurfte es hier nicht. Denn nach § 78 Abs 2 SGG ist in Angelegenheiten der Unfallversicherung die Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Abänderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Dies war hier der Fall. Der Kläger begehrte die Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 4. Januar 1978 über die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente gemäß § 587 RVO, also die Abänderung eines Verwaltungsaktes über die Gewährung einer Leistung, auf die er bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen einen Rechtsanspruch hatte. An dieser Beurteilung ändert sich auch dadurch nichts, daß über den Rentenanspruch des Klägers aus dem Unfall vom 31. Januar 1973 bereits durch bindend gewordenen Bescheid vom 10. April 1975 dahin entschieden worden war, daß bis zum 19. August 1974 die Vollrente und ab 20. August 1974 eine Teilrente in Höhe von 30 % der Vollrente gewährt worden war. Es kann dahingestellt bleiben, ob aus diesem Grunde der angefochtene Bescheid vom 4. Januar 1978 als ein den Bescheid vom 10. April 1975 abändernder Zweitbescheid oder aber als ein davon unabhängiger Erstbescheid über die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente wegen unfallbedingten Wegfalls des Arbeitseinkommens anzusehen ist. Denn selbst wenn es sich um einen Zweitbescheid iS von § 627 RVO handeln würde, könnte sich dadurch der Rechtsanspruch des Klägers, die Teilrente auf die Vollrente zu erhöhen, nicht in einen dem Ermessen der Beklagten unterworfenen Anspruch verwandeln. Die Klage war somit gemäß § 78 Abs 2 Satz 1 SGG auch bei Annahme eines Zweitbescheides ohne Vorverfahren zulässig (vgl hierzu BSG in SozR 3100 § 35 Nr 3 = BSGE 41, 218 und SozR 1500 § 78 Nr 5).
Begründet wäre die Revision, wenn eine der vom SG bejahten Voraussetzungen des Anspruchs aus § 587 Abs 1 RVO fehlen würde. Sie sind jedoch sämtlich erfüllt.
Nach § 587 Abs 1 RVO hat der Träger der Unfallversicherung die Teilrente auf die Vollrente zu erhöhen, solange der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen ist. Es ist mithin in erster Linie das Fehlen von Arbeitseinkommen und der ursächliche Zusammenhang dieser Tatsache mit dem Arbeitsunfall rechtserheblich. Hinzukommen muß jedoch, wie der 2. Senat des BSG im Urteil vom 27. August 1969 - 2 RU 195/66 - (BSGE 30, 64 = SozR Nr 5 zu § 587 RVO) eingehend dargelegt hat, die nach den Umständen des Einzelfalles bestehende Aussicht, daß der Verletzte in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder einer Erwerbsarbeit nachgehen wird. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des SG, an die der Senat gemäß § 163 SGG gebunden ist, besteht kein Anlaß, diese Voraussetzungen in der Person des Klägers zu bezweifeln.
Der Kläger ist in der Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 ohne Arbeitseinkommen gewesen. Der Begriff Arbeitseinkommen bedeutet, wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 11. Oktober 1973 - 8/2 RU 49/72 - (SozR Nr 9 zu § 587 RVO) ausgeführt hat, Einkünfte aus gegenwärtiger Arbeit. Nach den Feststellungen des SG ist das im Unfallzeitpunkt bestehende Arbeitsverhältnis des Klägers von seinem Arbeitgeber zum 30. September 1974 gelöst worden. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Kläger etwa bis zum 30. September 1974 Arbeitseinkommen bezogen hat. Die Lohnfortzahlung endete vielmehr, wie das SG ebenfalls festgestellt hat, sechs Wochen nach dem Arbeitsunfall. Eine andere Beschäftigung und insbesondere ein Arbeitseinkommen hieraus in der Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 hat das SG nicht festgestellt und die Beklagte auch nicht behauptet. Mithin war der Kläger in dieser Zeit ohne Arbeitseinkommen.
Das Arbeitseinkommen des Klägers in der genannten Zeit ist infolge des Arbeitsunfalls entfallen. Denn der Kläger konnte nach der nicht angegriffenen Feststellung des SG wegen der bei seinem Arbeitsunfall erlittenen substantiellen Hirnverletzung seinen Beruf als Produktionsleiter eines Zweigwerks der C-G-W nicht mehr ausüben. Neben dieser Ursache des Wegfalls seines Arbeitseinkommens ist zwar nach der von der Revision hervorgehobenen Feststellung des SG auch die mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen unfallunabhängigen Erkrankung in der Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 getreten. Der Unfall und die unfallunabhängigen Leiden sind in ihrer Bedeutung für das Unvermögen des Klägers, in seinem Beruf als Produktionsleiter Arbeitseinkommen zu erzielen, einander gleichwertig und deshalb Mitursachen im Rechtssinne. Das SG hat daher zutreffend angenommen, daß der Kläger auch in der Zeit vom 20. August 1974 bis zum 31. März 1976 infolge des Arbeitsunfalles ohne Arbeitseinkommen gewesen ist.
Auch die sich aus den Umständen des Einzelfalles ergebende Aussicht, daß der Kläger trotz seiner Unfallfolgen in absehbarer Zeit wieder einer Erwerbsarbeit nachgehen wird, kann nicht in Zweifel gezogen werden. Diese Aussicht hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid selbst bejaht, indem sie dem Kläger die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente gemäß § 587 Abs 1 RVO für die nicht mehr streitige Zeit vom 1. April bis zum 3. Oktober 1976 gewährt hat. Sie durfte zu diesem Ergebnis schon aufgrund der Gutachten gelangen, die in der Rentenversicherung zur Zeitrente wegen Erwerbs- und Berufsunfähigkeit geführt hatten; darüber hinaus hat sie selbst nach § 556 Abs 1 Nr 2 RVO die Umschulung des Klägers zum Bürokaufmann eingeleitet. Daß die Umschulung erfolgreich abgeschlossen ist, ist nicht Voraussetzung des Anspruchs nach § 587 Abs 1 RVO. Wollte man dies annehmen, könnte nämlich die zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards des Verletzten bestimmte Leistung jeweils erst nach Beendigung einer Umschulung gewährt oder abgelehnt werden. Gerade dies ist jedoch nicht der Zweck der gesetzlichen Regelung (vgl hierzu auch BSG in SozR Nr 51 zu § 30 Bundesversorgungsgesetz).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen