Leitsatz (amtlich)
Wer ohne den erklärten oder mutmaßlichen oder gegen den erkennbaren Willen des Unternehmers in ein Unternehmen eingreift oder eingreifen will, ist nicht versichert. Wer seine Unterstützung anbietet oder anbieten will, ist noch nicht versichert. Lehnt der Unternehmer die Unterstützung ab, bleibt der Anbietende und auch der tatsächlich Eingreifende unversichert. Geht der Wille des Unternehmers dahin, den Anbietenden als Helfer anzunehmen und macht sich der Helfer deshalb arbeitsbereit, um jederzeit mit der Arbeit beginnen zu können, so ist er während dieser Arbeitsbereitschaft versichert.
Normenkette
RVO § 539 Abs 2 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 30.08.1979; Aktenzeichen L 2 U 10/77) |
SG Bremen (Entscheidung vom 01.06.1976; Aktenzeichen SU 74/75) |
Tatbestand
Streitig sind Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen eines Unfalls, den der Kläger am 11. September 1973 erlitten hat.
Der Kläger ist von Beruf Schaufenstergestalter. Am Unfalltag kam er in den Geschäftsräumen des Unternehmens S-Moden zu Fall und erlitt am rechten Fuß eine Verletzung, wegen der er zunächst ambulant und seit dem 14. September 1973 stationär behandelt wurde. Am 27. Dezember 1973 war der Kläger wieder arbeitsfähig.
Die Beklagte lehnte es ab, die Folgen des Unfallereignisses zu entschädigen, weil der Kläger im Unfallzeitpunkt weder in einem vertraglichen Beschäftigungsverhältnis bei S-Moden gestanden habe und auch nicht bei einer dem Unternehmen dienenden Tätigkeit verunglückt sei; er habe lediglich den vom Ehemann der Unternehmerin und dessen Bekannten vorgenommenen Abrißarbeiten in den genannten Geschäftsräumen zugesehen; er habe auch nicht bei den Umbauarbeiten im Unternehmen mithelfen sollen (Bescheid vom 5. Mai 1975).
Das Sozialgericht Bremen (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 1. Juni 1976). Das Landessozialgericht Bremen (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Unfallfolgen eine Verletztenrente in Höhe von 30 vH der Vollrente für die Zeit vom 27. Dezember 1973 bis 31. Dezember 1976 und bis zum 5. Oktober 1978 eine Teilrente in Höhe von 20 vH der Vollrente zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen, soweit die Beklagte zur Gewährung einer Verletztenrente verurteilt worden ist (Urteil vom 30. August 1979).
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie des § 539 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 30. August 1979 aufzuheben, soweit sie verurteilt worden ist,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Der Kläger war, als er am 11. September 1973 verunglückte, in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert.
Als Ergebnis der Beweisaufnahme hat das LSG festgestellt, der Ehemann der Geschäftsinhaberin (Sch) und der Kläger hätten vereinbart, daß der Kläger beim Umbau der Geschäftsräume mithelfen sollte. Eine solche Vereinbarung sei aber für den Unfalltag selbst nicht getroffen worden. Als der Kläger in den unteren Geschäftsräumen erschienen sei, habe Sch ihn als Helfer angenommen; sie seien auf den Dachboden gegangen, wo der Umbau stattfinden sollte. Dort sei Sch mit einem weiteren Helfer (W) beschäftigt gewesen, einen 2 1/2 Meter hochliegenden und 8 Meter langen Steg abzubauen, wobei der Kläger nicht mithelfen sollte. Der Kläger habe sein Arbeitszeug angezogen und eine Zigarette rauchend den mit dem Abbruch des Steges beschäftigten Sch und W zugesehen. Er habe einsatzbereit auf seinen Arbeitseinsatz gewartet. W sei heruntergesprungen, wobei der Kläger zu Fall gekommen und sich die Verletzung am Fuß zugezogen habe. Die von dem Kläger angebotene und von Sch angenommene Mithilfe bei den Aufräumungsarbeiten sei eine ernstliche, dem Unternehmen dienende, deshalb versicherte Tätigkeit gewesen, wenn sie, wie vorgesehen, ausgeführt worden wäre. Es sei nicht erforderlich, daß die versicherte Tätigkeit bereits begonnen worden sei. Der nach § 539 Abs 2 RVO geschützte Personenkreis solle den gleichen Versicherungsschutz genießen, wie Personen, die nach § 539 Abs 1 RVO versichert sind. Unbestritten seien auch Vorbereitungshandlungen zur Aufnahme der Arbeit, jedenfalls im örtlichen Arbeitsbereich, versichert. Arbeitnehmer, die arbeitsbereit seien, ihre Tätigkeit aber aus Gründen des Arbeitsablaufs noch nicht tatsächlich hätten aufnehmen können, seien daher auch während der Arbeitsbereitschaft versichert. Das gelte auch für Personen, die wie nach § 539 Abs 1 RVO Versicherte tätig werden sollten und wollten. Allerdings könne der einseitige Wille, eine Beschäftigung auszuüben, den Versicherungsschutz nicht begründen. Stehe aber die alsbaldige Aufnahme der zweifellos versicherten Tätigkeit unmittelbar bevor, müsse auch während des Wartens auf den Beginn des eigentlichen Einsatzes Versicherungsschutz bestehen. Das sei hier nach den überzeugenden Angaben des Sch, die dadurch bestätigt worden seien, daß der Kläger seinen Arbeitsanzug angezogen habe, der Fall gewesen.
Die gegen diese Feststellung gerichteten Verfahrensrügen greifen nicht durch. Die Beklagte rügt nicht substantiiert einen logischen Denkfehler oder Widerspruch gegen allgemeine Erfahrungssätze (BSG SozR Nr 47 zu § 164 SGG). Die festgestellten Umstände erlauben nicht, wie die Beklagte meint, nur den Schluß, der Kläger sei zur Unfallzeit lediglich an der Arbeitsstelle geduldet worden, seine Anwesenheit sei sogar hinderlich gewesen. Ist eine andere Beweiswürdigung ebenso denkbar oder liegt sie sogar näher als die des Berufungsgerichts, so liegt darin noch kein Verstoß gegen das Recht der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Selbst eine unrichtige Beweiswürdigung des LSG stellt keinen solchen Verfahrensmangel dar (BSG SozR Nr 34 zu § 128 SGG). Das Revisionsgericht hat die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts lediglich auf Ermessensfehler zu prüfen (BSG SozR Nr 56 zu § 128 SGG). Mag der Kläger am Unfalltag auch unaufgefordert und sogar ungelegen gekommen sein, so steht das der Annahme des LSG nicht entgegen, Sch habe ihn als Helfer angenommen, denn er hat ihn weder weggeschickt noch seiner Anwesenheit widersprochen. Er hat ihn vielmehr mit auf den Dachboden genommen, wo Aufräumungs- und Umbauarbeiten ausgeführt werden sollten, bei denen der Kläger hätte helfen sollen. Zwar waren Sch und ein weiterer Helfer (W) gerade damit beschäftigt, eine andere Arbeit auszuführen, wobei der Kläger nicht benötigt wurde. Das ist aber nicht mit der Annahme unvereinbar, er habe sich arbeitsbereit gemacht - er hatte Arbeitskleidung angezogen - und habe im Einverständnis mit Sch auf seinen alsbaldigen Einsatz gewartet. Deshalb hätte sich das LSG auch nicht gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären ohne seine Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) zu verletzen. Welche Beweise das Berufungsgericht zur Klärung des rechtserheblichen Sachverhalts für erforderlich hält, entscheidet es ebenfalls nach seinem freien richterlichen Ermessen (BSG SozR Nr 7 zu § 103 SGG). Nur wenn das Gesamtbild des Beweisergebnisses unüberbrückbare Lücken oder nicht zu klärende Widersprüche enthält, sind, soweit möglich, weitere Beweise zu erheben. Die Feststellungen des LSG beruhen aber nicht, wie die Beklagte meint, auf reinen Spekulationen. Sie sind mindestens denkbar, wenn nicht gar naheliegend. Es war kein Anhalt dafür erkennbar, daß sich die von Sch und W zu leistenden Arbeiten noch über eine längere Zeit hinziehen würden, so daß die Hilfe des Klägers überhaupt oder doch ihr Beginn für eine längere Zeit ungewiß gewesen wäre und insoweit von einer Arbeitsbereitschaft nicht hätte gesprochen werden können.
Der Kläger stand im Zeitpunkt seines Unfalles, wie das LSG zutreffend erkannt hat, nicht in einem Arbeitsverhältnis zu dem Unternehmen S-Moden. Er war deshalb nicht nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO versichert. Er wollte aber "wie" ein solcher Beschäftigter helfen, so daß er nach § 539 Abs 2 RVO versichert war. Zwar war der Kläger, als er verunglückte, nicht beschäftigt, dennoch hat er den Unfall "bei" einer Beschäftigung erlitten (§ 548 Abs 1 RVO). Die nach § 539 Abs 2 Versicherten sind grundsätzlich, wenn die von der Rechtsprechung hierfür geforderten Voraussetzungen erfüllt sind, in gleicher Weise geschützt wie die in § 539 Abs 1 RVO genannten Personen. Das Gesetz macht insoweit in § 548 Abs 1 RVO keine Einschränkung. Diese Vorschrift erfaßt vielmehr alle nach § 539 Versicherten. So ist etwa auch derjenige nach § 550 Abs 1 RVO versichert, der sich auf dem Weg zu einem Unternehmen befindet, in das er mit Wissen und Willen des Unternehmers unterstützend eingreifen will (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl, S 176b II). Einen Arbeitsunfall erleidet nicht nur derjenige, der bei der unmittelbaren Verrichtung einer der in § 539 Abs 1 Nr 1 genannten Beschäftigungen verunglückt, sondern auch der, der während einer Betriebspause, während des Bereitschaftsdienstes, während der Arbeitsbereitschaft oder bei einer mit der betrieblichen Beschäftigung in engem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang stehenden Vorbereitungshandlung verunglückt (Urteil des erkennenden Senats vom 31. Januar 1980 = 8a RU 46/79; Brackmann, aaO, S 481a). Allein der Aufenthalt auf der Betriebsstätte begründet allerdings keinen Versicherungsschutz. Einen sogenannten Betriebsbann gibt es nicht. Wer sich aus nicht betriebsbedingten privaten Gründen auf der Betriebsstätte aufhält oder einer, dem persönlichen Bereich zuzurechnenden Beschäftigung nachgeht, ist nicht versichert (BSG SozR 2200 § 548 Nr 15). Wer daher ohne den erklärten oder wenigstens mutmaßlichen oder gar gegen den erkennbaren Willen des Unternehmers in ein Unternehmen unterstützend eingreift oder eingreifen will, ist nicht nach § 539 Abs 2 RVO versichert.
Er hilft nicht "wie" ein Beschäftigter, denn ein Beschäftigungs- oder Dienstverhältnis setzt voraus, daß der Helfer mit dem Willen des Unternehmers beschäftigt ist oder sein soll. Wer also seine Unterstützung anbietet oder anbieten will, ist noch nicht versichert. Lehnt der Unternehmer die Unterstützung ab, bleibt der Anbietende und auch der tatsächlich Eingreifende unversichert. Das gilt auch dann, wenn der Handelnde bei verständiger Würdigung aller Umstände sich sagen muß oder hätte sagen müssen, daß sein Handeln vom Unternehmer nicht gebilligt werde (BSG SozR 2200 § 539 Nr 58). Das tatsächliche oder mutmaßliche Einverständnis des Unternehmers darf sich allerdings nicht allein darauf erstrecken, daß sich der Helfer auf der Arbeitsstätte aufhält, etwa um anderen bei der Arbeit zuzusehen. Damit wird kein innerer Zusammenhang zu einer unterstützenden Beschäftigung hergestellt; sie wird nicht in den Willen des Unternehmers einbezogen. Geht der erklärte oder mutmaßliche Wille des Unternehmers dahin, die angebotene Unterstützung werde nicht angenommen, der Anbietende könne aber an der Arbeitsstelle bleiben und, falls seine Unterstützung später benötigt werden sollte, helfen, ist der Anbietende trotz seiner Bereitschaft zu helfen während des Wartens nicht versichert.
Geht jedoch, wie das LSG festgestellt hat, der Wille des Unternehmers dahin, den Anbietenden als Helfer anzunehmen und macht sich der Helfer deshalb, wie hier der Kläger, arbeitsbereit und zieht Arbeitskleidung an, um jederzeit mit der Arbeit beginnen zu können, so ist er während dieser im Einklang mit dem Willen des Unternehmers stehenden Arbeitsbereitschaft versichert. Er steht dem Unternehmer wie ein Beschäftigter bereit, der vertragsgemäß auf der Arbeitsstätte erscheint, mit der Arbeit zwar aus betrieblichen Gründen noch nicht beginnen kann, sich aber arbeitsbereit halten muß.
Gegen die Feststellungen des LSG über die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers hat die Beklagte ebenso keine Rügen vorgebracht, wie gegen die Zeiträume, in denen die Erwerbsfähigkeit des Klägers in dem festgestellten Umfang gemindert war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen