Leitsatz (redaktionell)

1. Deuten das Vorbringen des Klägers oder die sonstigen Umstände auf das Vorhandensein von Tatsachen hin, die den Wiedereinsetzungsantrag begründet erscheinen lassen könnten, dann sind diese Tatsachen im Rahmen der allgemeinen Sachaufklärungspflicht vom Gericht aufzuklären. Das Gericht muß gegebenenfalls den Antragsteller anhalten, ungenügende Angaben tatsächlicher Art zu ergänzen oder weitere Beweismittel beizubringen.

2. Die Aufklärungspflicht nach SGG § 103, die nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch für SGG § 67 gilt, wird nicht dadurch aufgehoben, daß nach SGG § 67 der Antragsteller die Tatsachen zur Begründung des Antrages glaubhaft machen "soll" abweichend von ZPO § 236, wonach der Antrag die Angabe der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen enthalten "muß".

Die Sollvorschrift in SGG § 67 Abs 2 S 2 bedeutet, daß das Gericht nicht in jedem Falle einer Fristversäumnis von Amts wegen nach diesen Tatsachen zu forschen hat, sondern daß es in erster Linie Sache des Antragsteller ist, diese Tatsachen vorzubringen und glaubhaft zu machen.

 

Normenkette

SGG § 67 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 236 S. 2 Nr. 2

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Oktober 1969 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Der Kläger wohnt in Oberschlesien. Sein Antrag auf Versorgung ("Teilversorgung" nach § 8 i. V. m. § 64 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) wurde durch Bescheid des Versorgungsamtes vom 7. Dezember 1964 abgelehnt. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. November 1965). Das Sozialgericht (SG) hat zwei innerfachärztliche Gutachten von Dr. G und Prof. Dr. St eingeholt und die Klage durch Urteil vom 28. Mai 1968 abgewiesen. In der Rechtsmittelbelehrung ist u. a. darauf hingewiesen, daß die Berufung innerhalb von drei Monaten nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen ist. Dieses Urteil wurde dem Kläger als Einschreiben übersandt und nach dem bei den Akten befindlichen Rückschein am 4. Juli 1968 zugestellt. Am 8. Oktober 1968 ging bei dem Landessozialgericht (LSG) ein vom 30. September 1968 datierter und ausführlicher begründeter "Widerspruch" ein. Auf den Hinweis des LSG, daß die Berufungsfrist nicht gewahrt sei, teilte der Kläger mit, daß er in den Monaten August und September 1968 bettlägerig krank gewesen sei; es sei ihm deshalb nicht möglich gewesen, die dreimonatige Einspruchsfrist innezuhalten. Der Kläger brachte eine ärztliche Bescheinigung des Dorfgesundheitsamtes bei. Danach war er in den Monaten August und September 1968 bettlägerig krank und befand sich in stationärer Behandlung.

Das LSG hat durch Urteil vom 22. Oktober 1969 die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen und in den Gründen ausgeführt, der Kläger habe die Berufungsfrist, die in diesem Fall drei Monate betragen habe, nicht gewahrt. Dem Kläger könne auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Da die Berufungsschrift erst vom 30. September 1968 datiert sei, habe der Kläger bei normalem Postlauf nicht mehr damit rechnen können, daß seine Berufungsschrift noch rechtzeitig bis zum 4. Oktober 1968 bei dem LSG eingehen werde. Der Kläger habe zwar durch die Bescheinigung des Dorfgesundheitsamtes glaubhaft gemacht, daß er in den Monaten August und September 1968 in stationärer Behandlung und bettlägerig erkrankt gewesen sei. Aus dieser Bescheinigung sei jedoch nicht ersichtlich, um welche Krankheit es sich gehandelt und wie lange die Bettlägerigkeit bzw. stationäre Behandlung gedauert habe. Der Kläger habe somit nicht glaubhaft gemacht, daß er gehindert gewesen sei, trotz der Erkrankung rechtzeitig selbst Berufung einzulegen oder Angehörige, Bekannte oder Krankenhauspersonal mit der Anfertigung und rechtzeitigen Absendung einer Berufungsschrift zu beauftragen.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Dieses Urteil wurde dem Kläger am 21. November 1969 zugestellt, der mit einem von ihm persönlich unterzeichneten Schreiben vom 1. Dezember 1969, das am 8. Dezember 1969 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen ist, Revision eingelegt und ferner beantragt hat, ihm das Armenrecht zu bewilligen und einen Rechtsanwalt zur Wahrnehmung seiner Interessen beizuordnen. Der Kläger brachte eine weitere Bescheinigung des Dorfgesundheitsamtes bei. Danach war er vom 10. bis 30. September 1968 "infolge epileptischer Zustände und Charakteropathie sowie linksseitiger Paralyse nicht fähig, über sich zu verfügen".

Durch Beschluß des Senats vom 15. April 1970 ist dem Kläger das Armenrecht bewilligt und Rechtsanwalt Dr. Sch, K, als Prozeßbevollmächtigter beigeordnet worden. Der Bewilligungsbeschluß ist an den Kläger am 23. April 1970 durch Einschreibebrief abgesandt worden. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 20. Mai 1970, beim BSG eingegangen am 22. Mai 1970, Revision eingelegt und diese in demselben Schriftsatz begründet.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.

Der Kläger rügt in seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, als wesentlichen Mangel des Verfahrens eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er trägt dazu vor, durch die Übersendung der Bescheinigung des Dorfgesundheitsamtes vom 6. September 1969 habe er hinreichend glaubhaft gemacht, daß er ohne Verschulden verhindert gewesen sei, die Berufungsfrist einzuhalten. Wenn die Bescheinigung auch inhaltlich zu unbestimmt sein möge, was hier offen bleiben könne, so habe das Berufungsgericht dennoch nicht die Wiedereinsetzung, ohne weitere Ermittlungen anzustellen, versagen und die Klage wegen Fristversäumung als unzulässig abweisen dürfen. In der Rechtsprechung des BSG sei anerkannt, daß in einem solchen Fall das erkennende Gericht die Verschuldensfrage gemäß § 103 SGG von Amts wegen zu erforschen habe. Insoweit müsse die mangelnde Sachaufklärung des Berufungsgerichts gerügt werden. Auf eine entsprechende Anordnung des Berufungsgerichts hätte er beizeiten ein ärztliches Attest seines behandelnden Arztes beibringen können, wie es nunmehr im Revisionsverfahren geschehen sei.

Der Beklagte stellt im Revisionsverfahren keine Anträge.

Die - nicht zugelassene - Revision des Klägers erweist sich im Ergebnis als zulässig und als begründet.

Der Kläger hat zwar die Revisionsfrist, die in diesem Fall drei Monate beträgt (vgl. §§ 164 Abs. 1, 165, 153, 87 Abs. 1 Satz 2 SGG), versäumt, da er innerhalb der Revisionsfrist nur eine von ihm persönlich unterzeichnete Revisionsschrift nebst Armenrechtsgesuch und ein Zeugnis seiner Heimatgemeinde über seine Mittellosigkeit eingereicht hat. Diese Revisionseinlegung entsprach nicht den gesetzlichen Vorschriften (vgl. § 166 SGG). Auch ohne besonderen Antrag (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 4 SGG) war ihm jedoch Wiedereinsetzung wegen der Versäumung der Revisionsfrist und der Revisionsbegründungsfrist zu gewähren (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Nr. 19). Der Kläger ist durch seine Armut gehindert gewesen, frist- und formgerecht (§§ 164, 166 SGG) Revision einzulegen. Dieses Hindernis ist erst mit der Bewilligung des Armenrechts durch Beschluß des Senats vom 15. April 1970 und der Zustellung des Bewilligungsbeschlusses beseitigt gewesen. Die versäumten Rechtshandlungen, nämlich die Einlegung der Revision und die Revisionsbegründung, sind alsdann innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses von seinem Prozeßbevollmächtigten nachgeholt worden (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Nr. 38 mit weiteren Hinweisen). Die nachgeholten Prozeßhandlungen entsprechen nach Form und Inhalt den Erfordernissen, die das Gesetz für diese Prozeßhandlungen vorschreibt (vgl. §§ 164, 166 SGG). Die Revision gilt daher als frist- und formgerecht eingelegt und auch als rechtzeitig begründet. Sie ist auch statthaft.

Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat und eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht gerügt ist, ist die Revision nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (vgl. BSG 1, 150). Diese Voraussetzung ist hier gegeben.

Der Kläger will die Statthaftigkeit der Revision aus § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG herleiten und rügt in seiner Revisionsbegründung ausdrücklich eine Verletzung des § 103 SGG, die in der Folge dazu geführt habe, daß das LSG seine Berufung als unzulässig verworfen habe, statt in der Sache zu entscheiden. Diese Rüge des Klägers greift durch. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen; es ist hierbei an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Für die Frage, ob das LSG seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, nicht erfüllt und dadurch § 103 SGG verletzt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem LSG zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte oder ob er das Berufungsgericht zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen (vgl. BSG in SozR SGG § 103 Nr. 7 und 14; § 162 Nr. 20). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG trifft die Pflicht zur Ermittlung von Amts wegen auch auf den Sachverhalt zu, der für die Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtserheblich ist (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Nr. 9 und Nr. 13). Diese Aufklärungspflicht wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß nach § 67 SGG der Antragsteller die Tatsachen zur Begründung des Antrages glaubhaft machen "soll". Abweichend von § 236 der Zivilprozeßordnung, wonach der Antrag die Angabe der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen enthalten "muß", schreibt § 67 Abs. 2 Satz 2 SGG lediglich vor, daß die Tatsachen zur Begründung des Antrages glaubhaft gemacht werden "sollen". Das bedeutet, daß das Gericht nicht in jedem Falle einer Fristversäumnis von Amts wegen nach diesen Tatsachen zu forschen hat, sondern daß es in erster Linie Sache des Antragstellers ist, diese Tatsachen vorzubringen und glaubhaft zu machen (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Nr. 13). Deuten aber das Vorbringen des Klägers oder die sonstigen Umstände auf das Vorhandensein von Tatsachen hin, die den Wiedereinsetzungsantrag begründet erscheinen lassen könnten, so sind diese Tatsachen im Rahmen der allgemeinen Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) vom Gericht aufzuklären (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Nr. 12 und 13). Gegebenenfalls hat das Gericht den Antragsteller anzuhalten, ungenügende Angaben tatsächlicher Art zu ergänzen oder weitere Beweismittel beizubringen. Dieser Pflicht zur Amtsermittlung über die von dem Kläger im Berufungsverfahren beantragte Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist ist das LSG bei seiner Entscheidung nicht nachgekommen.

Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger die Berufungsfrist versäumt hat, da die Berufungsfrist am 5. Juli 1968 zu laufen begann (vgl. § 64 Abs. 1 SGG), die Berufungsschrift jedoch erst am 8. Oktober 1968, also nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG, der gemäß § 153 SGG auch im Berufungsverfahren gilt, bei dem LSG eingegangen ist. Da der Kläger bereits in der Berufungsschrift darauf hingewiesen hat, daß es ihm "infolge fast zweimonatiger Bettlägerigkeit" nicht möglich gewesen sei, einen weiteren Zeugen für seine dienstliche Tätigkeit in Polen beizubringen, deutete bereits dieses Vorbringen auf das Vorhandensein von Tatsachen hin, die eine Wiedereinsetzung begründet erscheinen lassen konnten. Das LSG hatte daher im Rahmen seiner Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG von Amts wegen zu prüfen, ob der Kläger durch längere und schwere Krankheit, also ohne sein Verschulden, gehindert gewesen ist, die Berufungsfrist einzuhalten. Dieser Verpflichtung ist das LSG zunächst auch nachgekommen, indem es den Kläger mit Verfügung vom 26. August 1969 (vgl. Bl. 104 R der LSG-Akten) darauf hingewiesen hat, daß die Berufung verspätet eingegangen ist, und dem Kläger aufgegeben hat, die Gründe, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen, geltend zu machen. Der Kläger hat darauf die ärztliche Bescheinigung des Dorfgesundheitsamtes vom 6. September 1969 beigebracht, wonach er in den Monaten August und September 1968 - also in den zwei Monaten unmittelbar vor Ablauf der Berufungsfrist - bettlägerig erkrankt war und sich in stationärer Behandlung befand. Wenn das LSG diese Bescheinigung nicht als ausreichend angesehen hat, weil, wie das LSG wörtlich schreibt, "daraus nicht ersichtlich ist, um welche Krankheit es sich gehandelt hat und wie lange die Bettlägerigkeit bzw. die stationäre Behandlung gedauert hat", dann war das LSG jedenfalls verpflichtet, weitere Ermittlungen darüber anzustellen, ob der Kläger durch seine Krankheit verhindert gewesen ist, die Berufungsfrist einzuhalten, und entweder den Kläger zur Ergänzung der Bescheinigung anzuhalten oder einen genauen Arztbericht anzufordern. Dieser Verpflichtung ist das LSG nicht nachgekommen und hat dadurch § 103 SGG verletzt. Die Revision ist daher statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Sie ist auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich der Wiedereinsetzung - aber auch zu einem günstigeren Ergebnis als das SG bei der alsdann zu treffenden Sachentscheidung - gekommen wäre, wenn es die Tatsachen, die den Wiedereinsetzungsantrag begründen könnten, hinreichend aufgeklärt hätte. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dieses wird auch zu prüfen haben, ob schon durch die im Revisionsverfahren nachgereichte Bescheinigung des Dorfgesundheitszentrums vom 14.1.1970 die Schuldlosigkeit des Klägers an der verspäteten Berufungseinlegung als glaubhaft gemacht angesehen werden kann.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670340

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