Entscheidungsstichwort (Thema)

Härteausgleich. Erblindung durch Nachschaden. Vorschaden. Gleichheitsgrundsatz

 

Orientierungssatz

1. Ein Beschädigter, der das Sehvermögen auf einem Auge durch schädigende Einwirkung iS des BVG § 1 verloren hat, hat wegen des nachträglichen schädigungsunabhängigen Verlustes der Sehkraft des anderen Auges keinen Anspruch auf Härteausgleich gemäß BVG § 89.

2. Der Gleichheitsgrundsatz (GG Art 3 Abs 1) ist durch diese Regelung nicht verletzt.

3. Solange sich Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der Bevölkerung vertreten werden, nicht im Recht niedergeschlagen haben, vermögen sie keine sozialen Rechte zu begründen.

 

Normenkette

BVG § 89 Abs 1 Fassung: 1970-07-10; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 05.09.1979; Aktenzeichen 28 KO 97/78)

 

Tatbestand

Der Kläger ist als Soldat im Zweiten Weltkrieg auf dem linken Auge erblindet; dies ist als Schädigungsfolge iS des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anerkannt. 1971 verlor er die Sehkraft auf dem rechten Auge infolge Netzhautablösung. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen des kriegsbedingten Schadens war ursprünglich mit 40 vH, sodann wegen besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs 2 BVG) mit 50 vH bewertet worden (Bescheide vom 16. Mai 1952, 5. Dezember 1953, 6. Juli 1961). Einen Antrag auf Erhöhung der Rente wegen Erblindung lehnte die Beklagte ab, weil die Sehkraft des rechten Auges nicht durch eine Schädigung iS des § 1 BVG verlorengegangen sei (Bescheid vom 3. März 1972, Widerspruchsbescheid vom 15. November 1973). Nachdem das Sozialgericht (SG) die Verwaltung verurteilt hatte, Blindheit als Schädigungsfolge anzuerkennen und dem Kläger Rente nach einer MdE um 100 vH zu gewähren (Urteil vom 8. November 1974), und das Bundessozialgericht (BSG) die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen hatte (Urteil vom 10. Dezember 1975 = BSGE 41, 70 = SozR 3100 § 30 Nr 11), beantragte der Kläger im November 1976 in einem an das Berufungsgericht gerichteten Schriftsatz, zusätzlich als Härteausgleich alle Leistungen zu gewähren, die einem Beschädigten zustehen, bei dem Blindheit als Schädigungsfolge anerkannt ist. Das Gericht wies eine entsprechende Klageerweiterung als nicht sachdienlich zurück. Darauf schlossen die Beteiligten einen Vergleich: Die Beklagte gewährte Beschädigtenrente nach einer MdE um 60 vH ab 1. Juli 1971 und sagte einen Bescheid Aber einen Härteausgleich zu. Diese Leistung lehnte sie dann ab (Bescheid vom 1. Februar 1977, Widerspruchsbescheid vom 17. April 1978). Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsakte verpflichtet, dem Kläger Härteausgleich nach dem BVG zu gewähren (Urteil vom 5. September 1979): Die Verwaltung habe das ihr nach § 89 BVG eingeräumte Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise ausgeübt. Während das BSG in dem zurückverweisenden Urteil in der Sache des Klägers die Richtung angedeutet habe, in der ein Härteausgleichsbegehren zu prüfen sei, habe es in der späteren Entscheidung vom 25. Oktober 1977 (gemeint: 1978) - 9 RV 68/77 = BSGE 47, 123 = SozR 3100 § 89 Nr 7) zu Unrecht eine solche Leistung bei einer Erblindung infolge Nachschadens allgemein ausgeschlossen. Für den Kläger sei jedoch eine "besondere Härte" iS des § 89 Abs 1 BVG gegeben. Die Beurteilung des schädigungsunabhängigen Nachschadens durch das BSG, die auf eine Rechtsprechung von 1920 zurückgehe und dem Schaden eines Blinden nicht gerecht werde, werde im sozialen Rechtsstaat nach dem Grundgesetz nicht mehr verstanden. Die Gesetzeskonstruktion, daß wegen einer nachträglichen Erblindung nach dem Kausalitätsgrundsatz keine Versorgung zu gewähren sei, treffe den Kläger deshalb besonders hart, weil er die Sehkraft infolge einer seit der Kindheit bestehenden Augenfehlform endgültig verloren habe. Dieser Augenfehler sei schon als Vorschaden bedeutsam gewesen. Jedenfalls müsse dies aber durch einen Härteausgleich berücksichtigt werden.

Die Beklagte hat die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie beanstandet die Auslegung des Rechtsbegriffes "besondere Härte" durch das SG. Das Gericht sei zu Unrecht von der einschlägigen Rechtsprechung des BSG abgewichen, die sich auch auf Fälle wie den des Klägers beziehe. Blinde in dieser Lage erhielten nach den abschließenden Regelungen des BVG einige Leistungen, die ihrem besonderen Zustand gerecht würden, zB - wie auch der Kläger - die Pflegezulage nach Stufe III.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und

die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach seiner Auffassung ist die Lehre von der zeitlichen Begrenzung der rechtlich maßgebenden Kausalkette mit dem BVG nicht vereinbar. § 38 BVG enthalte sogar eine klare Absage an diese Theorie. Die unterschiedliche Behandlung von Beschädigten und Hinterbliebenen hinsichtlich des Zusammenwirkens von Schädigungsfolgen und schädigungsunabhängigen Störungen widerspreche Art 3 des Grundgesetzes (GG).

Der Vertreter der Beigeladenen schließt sich den Antrag und Vorbringen der Beklagten an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision der Beklagten ist erfolgreich.

Die Beteiligten streiten allein noch um einen Härteausgleich nach § 89 BVG, nachdem der vorausgegangene Rechtsstreit durch Vergleich beendet worden ist und die Verwaltung dem Kläger die Beschädigtenversorgung (§§ 1, 30 Abs 1 und 2 BVG) nach einer MdE um 60 vH zugesprochen hat. Dadurch wurde der Streit über den Rechtsanspruch auf Versorgung vollständig erledigt (§ 101 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Damit ist die Voraussetzung für ein Verfahren nach § 89 BVG geschaffen worden.

Eine weitergehende Versorgung wegen des Verlustes der Sehkraft auf dem rechten Auge hat die Beklagte dem Kläger als Härteausgleich versagen dürfen. Eine Ermessensleistung dieser Art setzt nach § 89 Abs 1 BVG eine "besondere Härte" in einzelnen Fällen voraus, die sich aus Vorschriften des BVG ergeben müßte. Diese Rechtsvoraussetzung, die die Gerichte in vollem Umfang nachzuprüfen haben (BVGE 47, 123, 124 mN), hat die Beklagte im Falle des Klägers zu Recht verneint.

Entgegen der Auffassung des SG hat der erkennende Senat in dem Urteil, durch das er den Rechtsstreit über einen weiteren Versorgungsanspruch des Klägers (§§ 1 und 30 BVG) zurückverwies, keineswegs "mindestens die Richtung" angedeutet, in der die Sache bei erneuter Vorlage entschieden werde. Es wurde lediglich für den Fall, daß der Kläger aufgrund eines Rechtsanspruches nicht befriedigt werde, die Frage nach einem Härteausgleich aufgeworfen. Der allgemeine Hinweis, daß bei einer Entscheidung nach § 89 BVG die bisherige Rechtsprechung überprüft werden könne, enthält nicht bereits die Ankündigung, der Senat werde allgemein die negative Entscheidung für Nachschadensfälle dieser Art (BSGE 27, 75) aufgeben. Deshalb brauchte er in seinem einschlägigen Urteil, das später ergangen ist, also bevor das SG in der Sache des Klägers entschieden hat, nur die bisherige Rechtsprechung zu bestätigen, ohne von einer Einschränkung abzurücken (BSGE 47, 123).

An dieser Spruchpraxis hält der Senat trotz der Einwände des Klägers fest. Beschädigte, die das Sehvermögen auf einem Auge durch schädigende Einwirkung iS des § 1 BVG verloren haben, erhalten wegen eines Nachschadens, dh wegen des nachträglichen schädigungsunabhängigen Verlustes der Sehkraft auf dem anderen Auge, keine volle Versorgung, sondern bloß eine Grundrente nach einer gem § 31 Abs 4 Satz 2 iVm § 35 Abs 1 Satz 3 BVG aufgestockten MdE von mindestens 50 vH wegen des Bezuges einer Pflegezulage (vgl BSGE 41, 80, 82 ff = SozR 3100 § 35 Nr 2), unter Umständen weitere Sonderleistungen wegen Erblindung (BSGE 41, 75 f) und damit immerhin mehr als wegen der Schädigungsfolge ohne den Nachschaden. Diese gegenwärtige gesetzliche Regelung ist in Kenntnis der jahrzehntealten Rechtsprechung und mit Rücksicht auf sie getroffen worden. Sie mag in ihrem Entgegenkommen von einzelnen Betroffenen nach wie vor als nicht befriedigend angesehen werden. Gleichwohl liegt darin keine "besondere Härte", so wie dieser Begriff rechtlich zu verstehen ist. Im einzelnen hat dies der erkennende Senat in dem zitierten Urteil näher begründet (BSGE 47, 125 ff). Was das SG und der Kläger gegen dieses Ergebnis einwenden, richtet sich nicht gegen die Auslegung des § 89 Abs 1 BVG, sondern gegen die Nachschadensregelung, deren Auswirkungen als "besondere Härte" zu werden sein sollen. An dieser Rechtsprechung zu den §§ 1 und 30 BVG muß der Senat festhalten. Falls entsprechend der vom SG und vom Kläger vertretenen Auffassung diese Judikatur unrichtig wäre und aufgegeben werden müßte, erübrigte sich ein Härteausgleich. Das Vordergericht und der Kläger zeigen aber auch zur Interpretation des § 89 Abs 1 BVG nicht überzeugend auf, daß eine volle Versorgung für Nachschadensfälle mit der Grundkonzeption des BVG vereinbar wäre. Unter gewandelten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen ist für das durch die Rechtsprechung gestaltete Recht der Kriegsopferversorgung - wie übrigens ebenfalls der gesetzlichen Unfallversicherung - an dem Grundsatz festzuhalten, nur Schäden, die auf eine bestimmte schädigende Einwirkung ursächlich zurückzuführen sind, sind auszugleichen (BSGE 41, 70, insbesondere 76f). Welche sozialethischen Wertungen im sozialen Rechtsstaat das Ausmaß sozialer Entschädigung (§ 5 des Sozialgesetzbuches -SGB- 1) und sonstiger kausaler Sozialleistungen bestimmen, legt der Gesetzgeber bindend fest (Art 20 Abs 3 GG, § 2 Abs 1, § 11 SGB 1). Solange sich Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der Bevölkerung vertreten werden, ni ht im Recht niedergeschlagen haben, vermögen sie keine sozialen Rechte zu begründen. Der Gesetzgeber ist nicht etwa unter dem Eindruck gewandelter Rechtsauffassungen von jener Rechtslage radikal abgedrückt. Er hat das, was die Rechtsprechung zur Auslegung der §§ 1 und 30 BVG in Nachschadensfällen entwickelt hat, gerade in Kenntnis dieser Fallgruppen und der um sie geführten Diskussionen durch die eingeschränkt erweiternde Vorschrift des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG bestätigt; mehr an Entschädigung hat er nicht zugelassen. Damit ist er vor allem Blinden wegen ihrer besonderen Lage im Vergleich mit anderen mehrfach Behinderten gerecht geworden. Diese Sonderregelung verstößt keineswegs zu Lasten der vom Nachschaden betroffenen Beschädigten gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art 3 Abs 1 GG), wenn das Ausmaß ihrer Gesundheitsstörungen unter Berücksichtigung des Kausalitätsprinzips mit den ausschließlich durch Einwirkungen iS des § 1 BVG verursachten Schäden verglichen wird. Eine dem § 1 Abs 3 Satz 2 BVG entsprechende Vorschrift, deren Fehlen das SG für Nachschadensfälle, insbesondere bei Blinden als "besondere Härte" wertet, wäre demnach systemfremd. Die Entschädigung von Gewaltverbrechens- und Impfopfern ist gerade nicht unabhängig von kausalen Verknüpfungen, sondern nach dem Modell des BVG geregelt, so daß alle die kausale Zurechnung von Schäden betreffenden Grundsätze der KOV einbezogen sind (§ 5 SGB 1 iVm § 51 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 52 Abs 2 Satz 1 des Bundesseuchengesetzes, § 1 Abs 1 Satz 1, Abs 4 und 7 des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten).

Wenn aber ein Nachschaden von der Art, um die es hier geht, allgemein nicht wegen "besonderer Härte" nach § 89 Abs 1 BVG auszugleichen ist, kann speziell für den Kläger wegen einer Besonderheit in seiner Krankheitsentwicklung nichts anderes gelten. Eine Augenfehlform, die seit früher Jugend bestand und zu Netzhautablösungen führen soll, könnte als echter Vorschaden bereits bei der Festsetzung der MdE für den schädigungsbedingten Verlust des linken Auges zu berücksichtigen sein (BSGE 41, 76; 47, 124, 127). Das beträfe aber die Höhe des Rechtsanspruches auf Versorgung, so daß sich ein Härteausgleich erübrigte. Falls das Augenlicht auf dem rechten Auge zur Zeit der kriegsbedingten Schädigung des linken noch nicht beeinträchtigt, sondern allenfalls gefährdet war und deshalb ein Vorschaden im Rechtssinn nicht anerkannt werden könnte, besteht kein Grund, den tatsächlich erst nachträglich eingetretenen Schaden auf dem rechten Auge nach § 89 Abs 1 BVG auszugleichen. Ein Nachteil hätte den Kläger gerade vor der Erblindung nicht betroffen. Die Art der nichtschädigungsbedingten Ursache ist indes für eine Entscheidung darüber, ob das Fehlen eines Versorgungsanspruchs für einen Nachschaden als "besondere Härte" zu werten ist, nicht bedeutsam.

Mithin muß die Klage als unbegründet abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654399

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