Entscheidungsstichwort (Thema)

Altersübergangsgeld. Tätigkeit, selbständige. Beschäftigung, die Beitragspflicht begründende. Beschäftigungszeiten, Gleichstellung mit Zeiten selbständiger Tätigkeit. Einigungsvertrag. Vorruhestandsgeld

 

Leitsatz (amtlich)

Die Aufgabe einer schon im Beitrittsgebiet ausgeübten selbständigen Tätigkeit führt nicht zu einem Anspruch auf Altersübergangsgeld nach § 249e AFG idF des AFGuaÄndG, wenn der ehemals Selbständige das 55. Lebensjahr erst nach dem 2.10.1990 vollendet hat.

 

Normenkette

AFG § 249e Abs. 1, § 249c Abs. 8a, § 168

 

Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 22.10.1992; Aktenzeichen L 3 Al 17/92)

KreisG Chemnitz-Stadt (Urteil vom 20.05.1992; Aktenzeichen S 2 Al 22/92)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Chemnitz vom 22. Oktober 1992 und des Kreisgerichts Chemnitz-Stadt vom 20. Mai 1992 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid vom 29. Oktober 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 1992 wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt Altersübergangsgeld (Alüg) anstelle von Arbeitslosengeld (Alg).

Der am 24. September 1936 geborene Kläger war vom 1. Oktober 1981 bis 30. September 1991 als selbständiger Drechslermeister in F./S. beruflich tätig. Seinen Betrieb gab er wegen Auftragsmangels auf. Am 26. September 1991 beantragte der Kläger die Gewährung von Alüg; gleichzeitig beantragte er, ihm Alg zu bewilligen.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger Alg für die Dauer von 832 Wochentagen in Höhe von 264,60 DM wöchentlich (Bescheid vom 14. November 1991). Den Antrag auf Gewährung von Alüg lehnte die Beklagte ab, weil der Kläger nach Vollendung des 55. Lebensjahres nicht aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung ausgeschieden sei. Arbeitslose, die am 3. Oktober 1990 noch selbständig tätig gewesen sind, seien an diesem Tage im Rechtssinne aus einer beitragspflichtigen Beschäftigung ausgeschieden. Ehemals Selbständige, die am 3. Oktober 1990 noch nicht das 55. Lebensjahr vollendet hätten, seien demnach von jedem Anspruch auf Alüg ausgeschlossen (Bescheid vom 29. Oktober 1991, Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1992). Mit seiner Klage hingegen hat der Kläger dem Gericht ua ein Schreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 16. Dezember 1991 überreicht, in dem er allgemein auf die geltende Rechtslage hingewiesen und darüber belehrt worden ist, daß Personen, die in der ehemaligen DDR selbständig tätig gewesen seien, im Falle der Arbeitslosigkeit – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – Anspruch auf Alg. Alüg oder Arbeitslosenhilfe (Alhi) hätten.

Das Kreisgericht (KreisG) – Kammer für Sozialrecht – hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger Alüg ab 1. Oktober 1991 zu gewähren (Urteil vom 20. Mai 1992). Zur Begründung hat das KreisG ausgeführt, der Kläger sei nach Vollendung des 55, Lebensjahres aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung ausgeschieden und habe auch die sonstigen Voraussetzungen zum Bezug von Alüg erfüllt. Die homogene Tätigkeit ehemals Selbständiger im Beitrittsgebiet könne nicht in zwei verschiedene Beschäftigungen dergestalt aufgeteilt werden, als sei zum 3. Oktober 1990 eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung aufgegeben und dafür eine neue, nicht die Beitragspflicht begründende Beschäftigung aufgenommen worden.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 22. Oktober 1992). Zur Begründung hat das LSG unter Bezugnahme auf den Akteninhalt ausgeführt, der Kläger sei am 1. Oktober 1991 iS des § 249e Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung ausgeschieden. Dies folge aus § 249c Abs. 8a Satz 1 AFG, der selbständige Tätigkeiten in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet beitragspflichtiger Beschäftigung gleichstelle. Von dieser Vorschrift würden alle Fälle erfaßt, in denen eine selbständige Tätigkeit vor dem 3. Oktober 1990 begonnen worden sei; dagegen werde darin nicht zum Ausdruck gebracht, daß solche Zeiten die Beitragspflicht nur bis zum 2. Oktober 1990 begründen sollten. Der Kläger gelte auch als Arbeitnehmer. Zwar sei er in der Zeit vom 1. Oktober 1981 bis 30. September 1991 als Drechslermeister selbständig tätig gewesen; die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers werde jedoch ebenfalls über § 249c Abs. 8a Satz 1 AFG begründet. Denn diese Regelung bezwecke. Selbständige aus dem Beitrittsgebiet in gleicher Weise zu schützen wie Arbeitnehmer. Auch die übrigen Voraussetzungen des Klageanspruchs seien erfüllt.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 249c Abs. 8a, 249e Abs. 1 AFG. Die Vorinstanzen seien zu Unrecht davon ausgegangen, daß die selbständige Tätigkeit des Klägers als Drechslermeister bis zu ihrer Aufgabe am 30. September 1991 gemäß § 249c Abs. 8a AFG einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleichgestellt sei; hierfür sprächen weder der Wortlaut des Gesetzes noch die Gesetzesmaterialien. Bei der Einfügung der Vorschrift sei der Gesetzgeber vielmehr ausdrücklich davon ausgegangen, daß nur Zeiten der selbständigen Tätigkeit in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) – also nur Zeiten vor dem 3. Oktober 1990 – gleichgestellt würden. Diese zeitliche Begrenzung der Fiktion des § 249c Abs. 8a AFG bedeute daher, daß die davon erfaßten Arbeitslosen, die nach dem 3. Oktober 1990 noch selbständig tätig gewesen seien, an diesem Tage im Rechtssinne aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung ausgeschieden seien, auch wenn sie ihre Tätigkeit erst später aufgegeben hätten. Ehemais selbständige Arbeitslose, die am 3. Oktober 1990 noch nicht das 55. Lebensjahr beendet hätten, seien deshalb von jedem Anspruch auf Alüg ausgeschlossen, auch wenn sie ihre selbständige Tätigkeit später aufgegeben hätten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Chemnitz vom 22. Oktober 1992 und das Urteil des Kreisgerichts Chemnitz-Stadt vom 20. Mai 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten und hat keine Anträge gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Die Berufung der Beklagten war statthaft (§ 143 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und zulässig. Schon vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I 50) zum 1. März 1993 war in den neuen Ländern – mit Ausnahme von Ostberlin – die Anwendung der §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossen; als Sonderregelung fand Art. 2 § 4 Abs. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (EntlG) vom 31. März 1978 (BGBl I 464), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 4. Juli 1985 (BGBl I 1274), auch in der Sozialgerichtsbarkeit Anwendung (vgl. Anl I Kap VIII Sachgeb D Abschn III Nr. 4 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 ≪BGBl II 889 ≫). Nach Art. 2 § 4 Abs. 1 Satz 2 EntlG war die Berufung ua immer zulässig, wenn wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr streitbefangen waren. Im vorliegenden Fall begehrt der Kläger Alüg ab 1. Oktober 1991 ohne zeitliche Begrenzung und entsprechend der gesetzlichen Anspruchsdauer für längstens 1560 Tage (§ 249e Abs. 3 Nr. 1 AFG); somit stehen Leistungen jedenfalls für mehr als ein Jahr im Streit. Die Sondervorschriften für die Zulässigkeit der Berufung in den neuen Ländern gelten nach Art. 14 Abs. 1 des oa Entlastungsgesetzes vom 11. Januar 1993 weiter, wenn – wie im vorliegenden Fall – die mündliche Verhandlung, auf die das anzufechtende Urteil ergeht, vor dem 1. März 1993 geschlossen worden ist.

Die Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Januar 1992 entspricht der Rechtstage; der Kläger hat entgegen der Auffassung der Vorinstanzen keinen Anspruch auf Alüg ab 1. Oktober 1991.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 249e AFG, einer durch den Einigungsvertrag ausschließlich für Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern und im Osten Berlins geschaffenen Sonderregelung (Art. 30 Abs. 2 Einigungsvertrag iVm Anl I Kap VIII Sachgeb E Abschn II Nr. 1 Buchst e), die nur für einen vorübergehenden Zeitraum eingeführt worden und mittlerweile – nach zweimaliger Verlängerung des Befristungszeitraums in § 249e Abs. 1 Satz 1 AFG (vgl. die aufgrund der Ermächtigung in § 249e Abs. 8 AFG erlassenen Verordnungen zum Alüg vom 19. Dezember 1991 ≪BGBl I 2342 ≫ und vom 26. Juni 1992 ≪BGBl I 1177≫) – nicht mehr anwendbar ist, soweit Arbeitnehmer erst nach dem 31. Dezember 1992 aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung ausscheiden (die Verordnungsermächtigung in § 249e Abs. 8 AFG wurde mit Wirkung zum 1. Januar 1993 durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung von Förderungsvoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen vom 18. Dezember 1992 ≪BGBl I 2044≫ gestrichen).

Gemäß § 249e Abs. 1 AFG idF des Gesetzes zur Änderung arbeitsförderungsrechtlicher und anderer sozialrechtlicher Vorschriften (AFGuaÄndG) vom 21. Juni 1991 (BGBl I 1306), in Kraft ab 1. Juli 1991, gewährte die Bundesanstalt für Arbeit (BA) Arbeitnehmern, die in der Zeit vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember 1991 nach Vollendung des 55. Lebensjahres aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung von mindestens 90 Kalendertagen in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) ausgeschieden sind und in den letzten 90 Kalendertagen der Beschäftigung ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Gebiet hatten, Alüg nach Maßgabe der Abs. 2 bis 7. Durch diese Regelung sollten ältere Arbeitnehmer begünstigt werden, die nach der Herstellung der Deutschen Einheit in der ersten Phase des Übergangs von der Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft ihre Arbeitsplätze verlieren (Kessel AuA 1991, 199; Dalichau ZfSH/SGB 1991, 654, 661; vgl. auch Dienstblatt-Runderlaß der BA 161/90 vom 17. Dezember 1990, S 3). Der Kläger erfüllt die in § 249e Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen nur zum Teil. Zwar hat er das 55. Lebensjahr vollendet (am 24. September 1991) und anschließend seine selbständige Tätigkeit aufgegeben (Ende September 1991); er hat auch in den letzten 90 Kalendertagen seiner Beschäftigung den Wohnsitz in Sachsen gehabt. Der Kläger ist jedoch nicht nach Vollendung des 55. Lebensjahres, also nach dem 24. September 1991, aus einer beitragspflichtigen Beschäftigung (§ 168 Abs. 1 Satz 1 AFG) ausgeschieden, sondern aus einer Tätigkeit als Selbständiger.

Gemäß § 249c Abs. 8a Satz 1 AFG, eingefügt durch das AFGuaÄndG vom 21. Juni 1991 (BGBl I 1306) und in Kraft ab 1. Juli 1991, gelten allerdings Zeiten, in denen der Arbeitslose vor dem 3. Oktober 1990 im Beitrittsgebiet mehr als kurzzeitig selbständig tätig war, als Zeiten einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung. Bis dahin war eine Gleichstellung iS von § 107 AFG lediglich für die nach DDR-Recht beitragspflichtig Beschäftigten (§ 249c Abs. 8 Nr. 1 AFG) und für den in § 249c Abs. 8 Nr. 2 AFG bezeichneten Personenkreis erfolgt. Mit der Ausweitung der Gleichstellungsregelung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, daß Personen, die in der ehemaligen DDR selbständig tätig waren und diese Tätigkeit in Auswirkung des wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesses aufgeben mußten, für den Fall der Arbeitslosigkeit in gleicher Weise geschützt sind wie Arbeitnehmer (BT-Drucks 12/496, S 17). Das Gesetz entfaltet diese Schutzwirkung für ehedem Selbständige jedoch nur bis einschließlich 2. Oktober 1990. Nach Auffassung des Senats rechtfertigen es weder die Entstehungsgeschichte des § 249c Abs. 8a AFG noch der mit der Einfügung der Vorschrift verfolgte Zweck, Personen wie den Kläger, der das 55. Lebensjahr erst nach dem 2. Oktober 1990 vollendet und sodann seine selbständige Tätigkeit aufgegeben hat, in den Kreis der Anspruchsberechtigten für das Alüg einzubeziehen.

In der Literatur wird sogar bezweifelt, ob ehemals Selbständige überhaupt in den Genuß von Alüg kommen können (Husmann in GK-AFG, Stand März 1992, § 249e RdNrn 33 ff). Danach soll § 249c Abs. 8a AFG lediglich eine sozialpolitisch sinnvolle Gleichstellung der Tätigkeitszeiten Selbständiger in der ehemaligen DDR bis einschließlich 2. Oktober 1990 mit beitragspflichtigen Beschäftigungszeiten iS von § 168 AFG beinhalten. Eine darüber hinausgehende Bedeutung komme der Vorschrift nicht zu; insbesondere würden Selbständige nicht – im Wege der Fiktion – als „Arbeitnehmer” angesehen, die aus einer entsprechenden Beschäftigung ausgeschieden seien (Husmann aaO RdNr. 37). Folgte man dieser Auslegung, könnten Selbständige zu keiner Zeit einen Anspruch auf Alüg erworben haben.

Die BA geht demgegenüber davon aus, daß auch früher Selbständige unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Alüg haben können (vgl. Dienstblatt-Runderlaß der BA 115/91 vom 18. Juli 1991, S 4 f). Nach ihrer Ansicht beruht die Gleichstellung selbständiger Tätigkeiten mit Zeiten beitragspflichtiger Beschäftigung auf einer – zeitlich begrenzten – rechtlichen Fiktion; sie folgert daraus, daß Arbeitslose in den neuen Bundesländern, die am 3. Oktober 1990 noch selbständig waren, an diesem Tage im Rechtssinne aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung ausgeschieden sind, auch wenn sie ihre Tätigkeit erst später aufgegeben haben. Nach dieser Auffassung sind ehemalige Selbständige, die am 3. Oktober 1990 noch nicht das 55. Lebensjahr vollendet hatten, von jedem Anspruch auf Alüg ausgeschlossen, auch wenn sie später nach Vollendung des 55. Lebensjahres ihre selbständige Tätigkeit aufgegeben haben (Dienstblatt-Runderlaß der BA 115/91, S 5).

Der Senat braucht die aufgezeigte Streitfrage im vorliegenden Falle nicht zu entscheiden, weil der Kläger sein 55. Lebensjahr erst am 24. September 1991 vollendet hat. Zu Recht ist die Beklagte der Auffassung, daß der Kläger zu diesem Zeitpunkt jedenfalls die Voraussetzungen zum Bezug von Alüg nicht mehr erfüllen konnte.

Das Alüg wurde durch Art. 30 Abs. 2 Einigungsvertrag eingeführt und soll der mit der Umstellung auf marktwirtschaftliche Gegebenheiten in den neuen Bundesländern speziell für ältere Arbeitnehmer verbundenen schwierigen Arbeitsmarktlage unter sozialen Gesichtspunkten Rechnung tragen (vgl. Kessel aaO; Dalichau aaO). Gleichzeitig wurde eine Regelung der ehemaligen DDR über Vorruhestandsgeld (Vog) abgelöst (Art. 9 Einigungsvertrag iVm Anl II Kap VIII Sachgeb E Abschn III Nr. 5; vgl. auch Denkschrift zum Einigungsvertrag, BT-Drucks 11/7760, S 355, 370; Hennig/Küht/Heuer/Henke, Kommentar zum AFG, Stand Februar 1993, Erl zu § 249e, S 3; Gagel, Kommentar zum AFG, Stand August 1992, vor § 249e (A) RdNr. 70; Husmann in GK-AFG aaO RdNr. 4). Nach § 2 Abs. 1 der Verordnung über die Gewährung von Vorruhestandsgeld (VogVO) vom 8. Februar 1990 (GBl I 42) hatten nur Arbeiter und Angestellte bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter bestimmten Voraussetzungen ab dem 5. Jahr vor Erreichen des Rentenalters Anspruch auf Vog; anspruchsverpflichtet waren die jeweiligen Betriebe, denen jedoch auf Antrag 50 vH des gezahlten Vog aus Mitteln des Staatshaushaltes erstattet wurden (§ 2 Abs. 2 iVm § 6 VogVO). Ehemals Selbständige hatten nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs. 1 VogVO hingegen keinen Anspruch auf Vog. Zudem wäre es systemwidrig gewesen, Selbständige in diese Regelung einzubeziehen, weil in derartigen Fällen kein anspruchsverpflichteter Betrieb (§ 2 Abs. 2 Satz 1 VogVO) vorhanden gewesen wäre. Folgerichtig haben die Parteien des Einigungsvertrages bei der Nachfolgeleistung – dem Alüg – ebenfalls keine Anspruchsberechtigung für ehemals Selbständige vorgesehen.

Die mit dem AFGuaÄndG zum 1. Juli 1991 vorgenommene Gleichstellung der Zeiten selbständiger Tätigkeit vor dem 3. Oktober 1990 mit einer die Beitragspflicht begründenden – abhängigen – Beschäftigung (§ 249c Abs. 8a AFG) sollte den ehemals Selbständigen vor allem die Möglichkeit eröffnen, statt von Bedürftigkeit abhängiger Alhi oder Sozialhilfe nunmehr Alg beziehen zu können (BT-Drucks 12/496, S 17). Ganz offenbar nicht beabsichtigt war es jedoch, diesem Personenkreis dieselben Ansprüche auf Alüg nach § 249e AFG einzuräumen wie Arbeitnehmern. Zum einen hätte dies der besonderen Zielrichtung des Alüg widersprochen, im Beitrittsgebiet für eine Übergangszeit eine Sonderregelung zu schaffen, die vom materiellen Ergebnis her die Situation gerade älterer Arbeitnehmer ähnlich berücksichtigt wie das weggefallene Vog und gleichzeitig den notwendigen Personalabbau in vielen Betrieben erleichtert (vgl. Husmann in GK-AFG aaO RdNr. 4). Zum anderen ist § 249c Abs. 8a AFG eine Sondervorschrift zu der im Arbeitsförderungsrecht allgemeingültigen Grundregel des § 168 Abs. 1 AFG, die wegen ihres Ausnahmecharakters eng auszulegen und schon deswegen nicht der von den Vorinstanzen vorgenommenen – weiten – Interpretation zugänglich ist. Hieran ändert nichts die Tatsache, daß frühere Inhaber von Gewerbebetrieben, freiberuflich und andere selbständig Tätige nach § 1 Buchst f der Verordnung über die Sozialversicherung bei der Staatlichen Versicherung der Deutschen Demokratischen Republik (StaatlSVO) vom 9. Dezember 1977 (GBl I 1) als versicherungspflichtig zur Sozialversicherung bezeichnet wurden. Denn auch § 168 Abs. 1 Satz 1 AFG-DDR vom 22. Juni 1990 (GBl I 403) geht schon – insoweit wortgleich mit § 168 Abs. 1 Satz 1 AFG – davon aus, daß beitragspflichtig nur Personen sind, die als Arbeiter oder Angestellte gegen Entgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind.

Auch nach dem Wortlaut der beiden hier zur Diskussion stehenden Vorschriften können Personen wie der Kläger, der sein 55. Lebensjahr erst nach dem 2. Oktober 1990 vollendet und sodann seine selbständige Tätigkeit aufgegeben hat, keinen Anspruch auf Alüg haben. Wie sich aus § 249e Abs. 1 Satz 1 AFG ergibt, muß die Vollendung des 55. Lebensjahres zeitlich vor dem Ausscheiden aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung liegen. Nach § 249c Abs. 8a Satz 1 AFG stehen nur solche Zeiten selbständiger Tätigkeit einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleich, die vor dem 3. Oktober 1990 im Beitrittsgebiet zurückgelegt worden sind. Daraus folgt, daß ein Selbständiger nur dann Anspruch auf Alüg haben kann, wenn er vor dem 3. Oktober 1990 sein 55. Lebensjahr vollendet hat; denn für Zeiten danach gilt die Gleichstellung selbständiger Tätigkeiten mit beitragspflichtiger Beschäftigung nicht mehr, so daß ein Selbständiger dann nicht mehr „aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung” ausscheiden kann.

Hätte der Gesetzgeber Selbständige wie den Kläger, die das 55. Lebensjahr erst nach dem 2. Oktober 1990 vollendet und sodann eine selbständige Erwerbstätigkeit aufgegeben haben, nachträglich bei der Gewährung von Alüg berücksichtigen wollen, hätte es nahegelegen, eine entsprechende Regelung zu schaffen. Dies ist nicht geschehen, obgleich im AFGuaÄndG zum 1. Juli 1991 mit § 249f AFG eine Härteregelung für eine andere Personengruppe eingefügt worden ist, die zunächst ebenfalls keine Ansprüche auf Alüg geltend machen konnte. Nunmehr sind auch Arbeitnehmer aus dem Braunkohlenbergbau, die früher auf besonders gesundheitsbelastenden Arbeitsplätzen eingesetzt waren, noch nicht die in der VogVO vorgesehene Altersgrenze erreicht hatten und nur mit Zustimmung der zuständigen Ministerien der ehemaligen DDR in den Vorruhestand entlassen worden waren, nachträglich in den Geltungsbereich der Regelung über das Alüg einbezogen worden. Durch diese Härteregelung hat der Gesetzgeber den Kreis der anspruchsberechtigten Personen gezielt erweitert (BT-Drucks 12/496, S 17 f), ohne eine entsprechende Einbeziehung weiterer Personenkreise vorzusehen. Auch dies verbietet eine ausdehnende Auslegung der Vorschrift durch Richterrecht.

Die Beklagte behandelt zwar ehemals Selbständige, die bis zum 3. Oktober 1990 einschließlich 55 Jahre alt geworden sind und später ihre selbständige Tätigkeit aufgegeben haben, insofern besser, als sie davon ausgeht, daß diese – auch bei Fortsetzung ihrer selbständigen Tätigkeit über den 2. Oktober 1990 hinaus – im Rechtssinne aus einer (gleichgestellten) beitragspflichtigen Beschäftigung ausgeschieden sind. Ob diese Verwaltungspraxis Rechtens ist, hatte der Senat im vorliegenden Falle nicht zu entscheiden, da der Kläger erst nach dem 3. Oktober 1990 sein 55, Lebensjahr vollendet hat.

Der Ausschluß des Klägers von Ansprüchen auf Alüg unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) liegt nicht vor. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gebietet Art. 3 Abs. 1 GG, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln; demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 55, 72, 88; 85, 360, 383). Außerhalb des Verbots ungerechtfertigter Differenzierungen läßt der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber Jedoch weitgehende Freiheiten, Lebenssachverhalte und das Verhalten von Personen entsprechend dem Regelungszusammenhang verschieden zu behandeln (vgl. BVerfGE 60, 329, 346; 83, 1, 26). Die unterschiedliche Behandlung des Klägers gegenüber älteren Arbeitnehmern ist Folge der zeitlichen Begrenzung der Gleichstellung von Zeiten selbständiger Tätigkeit im Beitrittsgebiet bis 2. Oktober 1990 und als solche sachlich gerechtfertigt, da Zeiten selbständiger Tätigkeit ab 3. Oktober 1990 im gesamten Bundesgebiet beitragspflichtigen Beschäftigungen nicht mehr gleichgestellt sind. Mit der Gleichstellungsregelung des § 249c Abs. 8a Satz 1 AFG wollte der Gesetzgeber der besonderen Situation der ehemals Selbständigen im Beitrittsgebiet zeitlich begrenzt Rechnung tragen, weil insoweit deren Tätigkeit mit einer Selbständigkeit westlicher Prägung nicht vergleichbar war.

Soweit der Kläger sich auf ihm erteilte Auskünfte durch den BMA beruft, läßt sich der Klageanspruch darauf ebenfalls nicht stützen. Mit seinem Schreiben vom 16. Dezember 1991 auf eine Eingabe des Klägers hat der BMA nur ganz allgemeine Ausführungen zur derzeitigen Rechtslage gemacht und den Kläger darauf hingewiesen, daß auch ehedem Selbständige im Falle der Arbeitslosigkeit – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – Anspruch auf Alg, Alüg oder Alhi haben können. Diese Auskunft mag beim Kläger zwar den Eindruck erweckt haben, ihm stehe Alüg zu; weder vom objektiven Erklärungsinhalt noch von der Zuständigkeit her handelt es sich jedoch um eine Zusage iS von § 34 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (SGB X), später einen bewilligenden Verwaltungsakt erlassen zu wollen. Die Voraussetzungen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind schon deshalb nicht erfüllt, weil die BA selbst bei einer eindeutig falschen Auskunft nicht dazu verpflichtet wäre, sich gesetzwidrig zu verhalten und dem Kläger Alüg zu gewähren.

Da dem Kläger schon dem Grunde nach kein Anspruch auf Alüg zusteht, bedarf es keines Eingehens mehr auf die Ausführungen des LSG zu den übrigen Voraussetzungen des Klageanspruchs. Auf die Revision der Beklagten ist die Klage unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidung der Vorinstanzen abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 927608

BSGE, 19

Breith. 1994, 339

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