Entscheidungsstichwort (Thema)
Familienwohnung eines Verlobten. Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bei Verlobten
Orientierungssatz
1. Die Fahrten des Versicherten zu seiner Verlobten sind rechtlich als Besuchsfahrten zu werten, die mit der versicherten Tätigkeit nicht in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, wenn sich außer an den Wochenenden sein tägliches Leben einschließlich seiner Freizeit noch an seinem Heimatort im Hause seines Stiefvaters, wo er auch den Großteil seiner persönlichen Gegenstände aufbewahrt, vollzieht.
2. Auch die finanzielle und handwerkliche Unterstützung im Zusammenhang mit dem Erwerb eines neuen Hauses der Mutter der Verlobten sowie das Vorhaben, später an den Wohnort der Verlobten umzuziehen und dort einen Arbeitsplatz zu suchen, reichen nicht aus, um deren Zimmer im Hause ihrer Mutter schon zur Unfallzeit als die ständige Familienwohnung des Versicherten anzusehen.
Normenkette
RVO § 550 S. 3 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
SG Detmold (Entscheidung vom 11.06.1975; Aktenzeichen S 8 U 105/74) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 11. Juni 1975 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger unter Unfallversicherungsschutz stand, als er auf der Fahrt von der Wohnung seiner Braut zur etwa 80 km entfernten Arbeitsstätte von einem Unfall betroffen wurde.
Der 1943 geborene Kläger wohnte seit langem in S (Westf) im Hause seines Stiefvaters, der seit 1970 nach dem Tode seiner Ehefrau, der Mutter des Klägers, unter Mithilfe seiner auswärts wohnenden Tochter den Haushalt führte. Der Kläger arbeitete als Maschinenarbeiter in der wenige Kilometer von der Wohnung seines Stiefvaters entfernt liegenden St Möbelfabrik. Seit Juli 1973 war er verlobt. Seine Verlobte wohnte etwa 80 km von S entfernt in D. Am Freitag, dem 23. November 1973, war er nach D gefahren, um über das Wochenende, wie seit längerer Zeit üblich, seine dort wohnende Verlobte zu besuchen. Da am folgenden Sonntag wegen der Ölkrise Fahrverbot bestand, konnte er erst am Montag, dem 26. November 1973, zurückfahren, um seine Arbeit in St wieder aufzunehmen. Kurz vor 5.00 Uhr morgens geriet er mit dem von ihm gesteuerten Pkw auf der Bundesstraße 68 zwischen D und H ins Schleudern, prallte gegen einen Baum und wurde dabei erheblich verletzt.
Durch Bescheid vom 25. April 1974 lehnte die Beklagte eine Entschädigung ab, da der Kläger keinen Arbeitsunfall erlitten habe; die Wohnung der Braut sei nicht seine Familienwohnung (§ 550 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) gewesen.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) antragsgemäß die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. November 1973 Entschädigung zu gewähren (Urteil vom 11. Juni 1975). Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger habe bei seiner Braut seine Familienwohnung iS des § 550 Abs 3 RVO gehabt und deshalb im Unfallzeitpunkt auf dem Weg zur Arbeitsstätte unter Versicherungsschutz gestanden. Zur Zeit des Unfalls habe der Kläger zwar wie bisher im Hause seines Stiefvaters ein Zimmer bewohnt, in dem er sich meistens in seiner Freizeit aufgehalten habe, weil sein Arbeitsplatz ganz in der Nähe gelegen habe. Seit seiner Verlobung im Juli 1973 hätten sich die Verhältnisse jedoch dahin geändert, daß er sich nicht mehr an seinem Heimatort S, sondern in D zu Hause gefühlt habe. Er habe jedes Wochenende im Hause seiner Verlobten verbracht, der ein eigenes Zimmer zur Verfügung gestanden habe. Dort habe er neben Kleidungsstücken und Gläsern einen Schallplattenapparat mit etwa 120 Platten untergebracht. Insbesondere dies spreche dafür, daß der Kläger den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse aus dem Hause seines Stiefvaters in die Wohnung seiner Verlobten verlegt gehabt habe. Der Schallplattenapparat sei praktisch der einzige persönliche Gegenstand des Klägers gewesen, mit dem er sich eingehend in seiner Freizeit befaßt habe. Der Kläger sei auch in den Freundeskreis seiner Verlobten eingeführt worden, und er habe seine Verlobte beim Erwerb eines neuen Hauses in D finanziell erheblich unterstützt, beim Umzug geholfen und in seiner Freizeit handwerkliche Arbeiten im neuen Haus verrichtet. Diese Umstände ließen erkennen, daß der Kläger in Zukunft endgültig nach D umziehen und sich dort einen Arbeitsplatz habe suchen wollen und jedenfalls seit seiner Verlobung für nicht unerhebliche Zeit seinen Lebensmittelpunkt bereits nach D verlegt gehabt habe.
Durch Beschluß - mit ehrenamtlichen Richtern - vom 24. September 1975 hat das SG die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie macht geltend: Auch nach seiner Verlobung habe der Kläger im Hause seines Vaters den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse gehabt. Selbst wenn durch die Besuche bei seiner Verlobten auch in deren Wohnung eine Familienwohnung begründet worden wäre, sei das Elternhaus des Klägers dadurch nicht zur Unterkunft iS des § 550 Abs 3 RVO geworden. Bei der Annahme zweier Familienwohnungen habe deshalb Versicherungsschutz nur auf den Wegen nach und von der Arbeitsstätte zur Wohnung des Klägers im Hause seines Vaters bestanden.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Der Entschädigungsanspruch des Klägers ist nicht begründet.
Der Kläger war auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte, als er von dem Unfall betroffen wurde. Er hatte die Fahrt jedoch nicht von seiner ganz in der Nähe der Arbeitsstätte gelegenen Wohnung im Hause seines Stiefvaters, sondern von der Wohnung seiner Verlobten aus angetreten, die etwa 80 km entfernt in D bei ihrer Mutter lebte. Nach § 550 Satz 1 RVO in der zur Unfallzeit geltenden Fassung (RVO aF, jetzt - wörtlich übereinstimmend - § 550 Abs 1) gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. In dieser Vorschrift ist zwar nur der Ort der Tätigkeit, nicht auch der andere Grenzpunkt des Weges festgelegt. Ein nicht von der Wohnung - dem häuslichen Bereich - aus angetretener Weg muß jedoch nach dem Sinn und Zweck des § 550 RVO zu dem üblichen Weg des Versicherten in einem angemessenen Verhältnis stehen (BSGE 22, 60; BSG SozR Nr 56 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl, Bd II, S 486 g mit weiteren Nachweisen), und es darf sich nicht nur um den Rückweg von einer mit der versicherten Tätigkeit nicht ursächlich zusammenhängenden Verrichtung handeln (BSGE 1, 171, 173; 8, 53, 55; Brackmann, aaO, S. 486 h I mwN). Hier stand der Weg, den der Kläger von der Wohnung seiner Braut aus zum Ort der Tätigkeit zurücklegen wollte, bei einer Entfernung von rund 80 km nach Länge und Dauer außer Verhältnis zu dem Weg, den er üblicherweise vom Hause seines Stiefvaters aus zur nahegelegenen Arbeitsstätte antrat. Ein Versicherungsschutz nach § 550 Satz 1 RVO aF würde daher nach Lage dieses Falles nur bestehen, wenn das Zimmer der Verlobten, in dem sich der Kläger an den Wochenenden aufhielt, einen Teilbereich seines eigenen häuslichen Wirkungskreises dargestellt hätte (BSGE 19, 257; BSG SozR 2200 § 550 Nr 21). Die Annahme mehrerer Teilbereiche des häuslichen Wirkungskreises, von denen jeder für sich Ziel und Endpunkt des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit sein kann, setzt jedoch voraus, daß jeder der Bereiche dem ihm zugewiesenen Zweck in den Lebensäußerungen des Versicherten - Wohnen, Schlafen, Essen - mit gewisser Regelmäßigkeit und in einem wesentlichen Umfang dient und sie sich derartig in ihrer Benutzbarkeit ergänzen. An diesen Voraussetzungen fehlt es hier jedoch schon wegen der erheblichen Entfernung der Wohnungen voneinander, die dazu führte, daß der Kläger im wesentlichen nur an den Wochenenden seine Braut besuchen konnte.
Das SG ist somit zu Recht davon ausgegangen, daß ein Versicherungsschutz im vorliegenden Fall nur nach § 550 Satz 3 RVO aF (jetzt § 550 Abs 3) in Betracht kommt. Seine Ansicht, die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien hier gegeben, trifft aber nicht zu.
Nach § 550 Satz 3 RVO aF schließt der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, die Versicherung auf dem Wege von und nach der Familienwohnung nicht aus. Die Vorschrift geht von dem typischen Fall aus, daß ein Versicherter an einem von seiner ständigen Familienwohnung entfernten Ort eine Beschäftigung aufnimmt und wegen der Entfernung der Wohnung vom Beschäftigungsort an diesem oder in dessen Nähe zusätzlich eine Unterkunft bezieht. So liegen die Verhältnisse hier jedoch nicht. Das Haus des Stiefvaters, in dem der Kläger seit langem wohnte und in dem er, abgesehen von den Wochenenden in der letzten Zeit vor dem Unfall, auch seine gesamte Freizeit verbrachte, war nicht eine wegen der Entfernung vom Ort der Tätigkeit unterhaltene bloße Unterkunft, sondern allenfalls eine zweite Wohnung des Klägers. Entgegen dem mündlichen Revisionsvorbringen war die dem Ort der Tätigkeit nahegelegene Wohnung des Stiefvaters nach Sinn und Zweck des § 550 RVO auch dann nicht gewissermaßen zwangsläufig eine bloße "Unterkunft" iS dieser Vorschrift, wenn man, wie das SG in Übereinstimmung mit dem Kläger angenommen hat, das Zimmer der Verlobten in D als ständige Familienwohnung des Klägers ansehen würde. Die Argumentation des Klägers beruht auf der Ansicht, "sozialrechtlich" sei die neben der ständigen Familienwohnung bestehende weitere Wohnmöglichkeit, gleich welcher Art sie sei und an welchem Ort sie sich befinde, stets lediglich eine Unterkunft, weil in § 550 RVO nur von diesen beiden möglichen Endpunkten des Weges von und nach der Arbeitsstätte ausgegangen werde. Dabei wird jedoch außer acht gelassen, daß ein Versicherter zB zwei Wohnungen - am Arbeitsort und außerhalb - haben kann, ohne daß eine dieser Wohnungen die Merkmale einer Unterkunft aufweisen müßte (s auch Brackmann, aaO, S 486 l). Hier hatte der Kläger nur einige persönliche Gegenstände in die Wohnung seiner Verlobten gebracht, im übrigen befand sich seine Habe nach wie vor im Hause seines Stiefvaters. Schon deshalb fehlt es an dem Erfordernis einer Unterkunft am oder in der Nähe des Arbeitsplatzes.
Darüber hinaus ist das Zimmer seiner Braut in deren Elternhaus aber auch nicht als die ständige Familienwohnung des Klägers anzusehen. Ständige Familienwohnung im Sinne des § 550 Satz 3 RVO aF ist eine Wohnung, die für eine nicht unerhebliche Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet (ständige Rechtsprechung, vgl BSGE 1, 171, 173; 35, 32, 33; 37, 98, 99; Brackmann aaO, S 486 h II mwN). Auch das SG geht aufgrund der von ihm getroffenen Feststellungen zutreffend davon aus, daß der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers bis zu dessen Verlobung, etwa 4 Monate vor dem Unfall, allein in seinem Elternhaus bestanden hatte. Die Ansicht, im Unfallzeitpunkt habe der Kläger den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse bereits aus dem Hause seines Stiefvaters in die Wohnung seiner Verlobten verlegt gehabt, weil er sich seit seiner Verlobung dort zu Hause gefühlt habe, ist jedoch nach den getroffenen Feststellungen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) nicht gerechtfertigt. In dem tatsächlichen Verhalten des Klägers, auf das es unbeschadet psychologischer und soziologischer Gegebenheiten entscheidend ankommt (vgl BSGE 25, 93, 95; 35, 32, 33, 34), wurde zwar in der letzten Zeit vor dem Unfall sein natürliches Interesse erkennbar, sich möglichst häufig mit seiner Verlobten zu treffen und die Freizeit mit ihr zu verbringen, auch wenn dies im allgemeinen nur an den Wochenenden möglich war. Auch die finanzielle und handwerkliche Unterstützung im Zusammenhang mit dem Erwerb eines neuen Hauses der Mutter der Verlobten sowie das Vorhaben, später nach D umzuziehen und dort einen Arbeitsplatz zu suchen, lassen sich als Umstände anführen, die auf eine für die Zukunft beabsichtigte Verlagerung des Mittelpunkts der Lebensverhältnisse des Klägers hindeuten. Diese im wesentlichen durch die persönlichen Beziehungen zu seiner Verlobten begründeten Umstände reichen jedoch nicht aus, um deren Zimmer im Hause ihrer Mutter schon zur Unfallzeit als die ständige Familienwohnung des Klägers anzusehen. In dieser Zeit vollzog sich außer an den Wochenenden das tägliche Leben des Klägers einschließlich seiner Freizeit noch an seinem Heimatort im Hause seines Stiefvaters, wo er auch seine persönlichen Gegenstände, abgesehen von dem Plattenspieler mit Schallplatten und einigen Kleidungsstücken, aufbewahrte. Von dort aus und nicht von der Wohnung seiner Verlobten aus mußte er im wesentlichen alle mit dem Ablauf des täglichen Lebens verbundenen Verrichtungen durchführen und Entschließungen treffen, insbesondere diejenigen, die sich nicht auf das Wochenende verschieben ließen. Der Kläger hatte hiernach seine bisherige ständige Familienwohnung in seinem Heimatort nicht aufgegeben. Seine Fahrten zu seiner Verlobten sind rechtlich als Besuchsfahrten zu werten, die mit der versicherten Tätigkeit nicht in einem ursächlichen Zusammenhang standen. Dies gilt auch für die Rückwege von diesen Fahrten, selbst wenn sie - wie zur Unfallzeit - die Arbeitsstätte zum Ziel hatten.
Es kann dahingestellt bleiben, ob neben der ständigen Familienwohnung auch das von der Verlobten bewohnte Zimmer als eine Wohnung des Klägers (Zweitwohnung) angesehen werden kann (siehe hierzu Urteil des 8. Senats vom 23.6.1977 - 8 RU 98/76). Denn auch in diesem Fall wäre, da es an einer Unterkunft am oder in der Nähe des Beschäftigungsorts fehlt, ein Versicherungsschutz nur auf dem Weg von der ständigen Familienwohnung, nicht aber von der weit entfernten Zweitwohnung zum Ort der Tätigkeit gegeben (vgl BSG in Breithaupt 1971, 905; Brackmann, aaO, S 486 l mN).
Die Revision der Beklagten ist daher begründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen