Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz für Selbsthilfearbeiten. nachträglich geleistete Selbsthilfearbeiten
Orientierungssatz
1. Der Versicherungsschutz besteht nach Sinn und Zweck des RVO § 539 Abs 1 Nr 15 gleichfalls bei Arbeiten zur Durchführung des Bauvorhabens, die nach der Planung zunächst von einem Bauunternehmen durchgeführt werden sollten. Entschließt sich der Bauherr, diese Arbeiten selbst zu verrichten, um Zeit oder Geld zu sparen, so ist er dabei - soweit die Voraussetzungen im übrigen gegeben sind - nach RVO § 539 Abs 1 Nr 15 versichert. Ebenso ist Versicherungsschutz bei Selbsthilfearbeiten gegeben, die erforderlich werden, weil in Ergänzung der Bauplanung zusätzliche Arbeiten vorgesehen sind, die der Bauherr selbst durchführt.
2. Der Versicherungsschutz bei Selbsthilfearbeiten besteht auch, wenn sie 3 Jahre später durchgeführt werden. Entscheidend ist, daß sie noch als eine sachgemäße Ergänzung oder Vollendung des Familienheimes zu betrachten sind.
3. Die Voraussetzung, daß es sich um eine sachgemäße Ergänzung oder Vollendung des Familienheimes handeln muß, schließt es aus, daß der Versicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 15 nach Bezug des Familienheimes bei jeder kleinen Hobbytätigkeit am Haus anzunehmen ist. Hierbei kann der Umstand, daß eine Arbeit bereits im Bauplan vorgesehen war, wesentlich dafür sprechen, daß es sich noch um eine Ergänzung oder Vollendung des Familienheimes handelt.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 15 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 16.11.1976; Aktenzeichen L 3 U 360/75) |
SG Würzburg (Entscheidung vom 07.10.1975; Aktenzeichen S 2 U 152/75) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. November 1976 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger errichtete und bezog im Jahre 1971 ein steuerbegünstigtes Familienheim. Er erbrachte Eigenleistungen im Werte von ca. 17 v. H. der Gesamtherstellungskosten. Am 23. Juli 1974 bearbeitete er Eisenstäbe, mit denen das im Erdgeschoß des Wohnhauses gelegene Duschraumfenster vergittert werden sollte. Dabei erlitt er eine Augenverletzung, die zur praktischen Erblindung des linken Auges führte.
Der Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche ab; die erst drei Jahre nach Bezug des Familienheimes durchgeführte Vergitterung von Fenstern gehöre nicht zum Wohnungsbau im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 15 der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil sie vor und während des Wohnhausbaues nicht vorgesehen gewesen und erst nach einem Einbruchsversuch geplant worden wäre.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 7. Oktober 1975 die Klage mit der Begründung abgewiesen, Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO bestehe nicht bei Jahre nach dem eigentlichen Wohnungsbau durchgeführten Verbesserungen und Reparaturen, die zur Sicherung gegen Diebstahl und Überfall erfolgen sollten und dabei der eigenwirtschaftlichen Sphäre des Klägers zuzurechnen seien.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 16. November 1976 die Entscheidung des SG aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Juli 1974 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Es hat zur Begründung ausgeführt: Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seiner Entscheidung vom 29. Februar 1972 (Breithaupt 1972, 647) ausgeführt, daß die Selbsthilfe nicht vor oder unmittelbar nach dem Einzug verrichtet werden müsse, um den Versicherungsschutz zu begründen. Es könne zwar nicht bei jeder geringfügigen sogenannten Heimwerkertätigkeit im größerem zeitlichen Abstand zur Bezugsfertigkeit des Baues noch Versicherungsschutz angenommen werden, auch wenn bei ihrer Ausführung vor oder bei Bezugsfertigkeit im Rahmen der Selbsthilfe Versicherungsschutz bestehen würde. Zu fordern sei jedenfalls, daß die nachträgliche Selbsthilfearbeit nach Art und Umfang von Bedeutung sei. Dies treffe zu, wenn die Arbeit - wie hier - ein sich lohnender Auftrag für einen Handwerksbetrieb des Bauhaupt- oder Baunebengewerbes wäre und nicht nur die Verbesserung einer bereits bestehenden Einrichtung darstelle.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Er trägt vor: Es überspanne den rechtlich wesentlichen Zusammenhang, wenn erst Jahre nach der Bezugsfertigkeit eines Familienheimes aufgrund eines Einbruchsversuches der Entschluß gefaßt werde, eine Vergitterung anzubringen. Es werde nicht verkannt, daß nach der Rechtsprechung des BSG der Versicherungsschutz nicht auf Selbsthilfearbeiten beschränkt sei, die reine Bauarbeiten seien und im allgemeinen von Betrieben des Bauhaupt- oder Baunebengewerbes ausgeführt würden und den Bauunternehmen oblägen. Auch beschränke sich der Begriff Bau nicht auf den Hausbau im eigentlichen Sinne, sondern es würden auch spätere Anlagen (z. B. Zaun oder Garage) hierunter fallen. Es müsse sich jedoch um Bauvorhaben handeln, die eingeplant gewesen seien. Dem LSG könne auch nicht gefolgt werden, daß grundsätzlich weder das Motiv noch der erst nachträgliche Entschluß zur Ausführung einer Bauarbeit von versicherungsrechtlicher Bedeutung seien. Eine Tätigkeit könne in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der Durchführung des Bauvorhabens nur stehen, wenn die Tätigkeit in die Gesamtkonzeption des Baues eingeplant gewesen sei. Für die versicherungsrechtliche Beurteilung solcher Tätigkeiten, die dem eigentlichen Bau des Hauses vorausgehen, sei nach der Rechtsprechung des BSG auch zu fordern, daß sich aufgrund der für die Baugenehmigung eingereichten Unterlagen feststellen lassen müsse, ob das Bauvorhaben im Unfallzeitpunkt den Voraussetzungen für die spätere Anerkennung als steuerbegünstigte Wohnung entsprochen habe. Es erscheine daher gerechtfertigt, daß kein Versicherungsschutz bestehe bei Tätigkeiten, zu denen sich der Bauherr nach Fertigstellung des Hauses aufgrund von außergewöhnlichen Ereignissen genötigt fühle.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 16. November 1976 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Würzburg vom 7. Oktober 1975 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG hat mit Recht entschieden, daß der Kläger bei den Arbeiten an einem Gitter für das Duschraumfenster im Erdgeschoß nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat.
Der Kläger hat im Jahre 1971 ein steuerbegünstigtes Familienheim errichtet. Das LSG hat weiter festgestellt, daß der durch den Wert der Selbsthilfe gegenüber den üblichen Unternehmerkosten ersparte Betrag mehr als 1,5 v. H. der Gesamtkosten des Bauvorhabens gedeckt hat (vgl. BSGE 28, 122; BSG SozR Nr. 26 zu § 539 RVO).
Der Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO setzt - wie der Beklagte grundsätzlich nicht verkennt - nicht voraus, daß die Selbsthilfe vor oder unmittelbar nach dem Einzug in das Familienheim verrichtet wird (BSG aaO; BSGE 28, 131; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 474 w II; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, § 539 Anm. 93). Der Senat braucht auch hier nicht abschließend zu entscheiden, nach Ablauf welcher Zeit regelmäßig eine Ergänzung oder Vollendung des bereits seit Jahren bezogenen Familienheimes nicht mehr anzunehmen sein wird. Zu erwägen wäre, wie der Senat in seinem Urteil vom 29. Februar 1972 ausgeführt hat (BSG SozR aaO), als allgemeine zeitliche Grenze im Rahmen des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO die für die Steuerbegünstigung beim Bau eines Familienheimes jeweils festgelegten Zeiträume. Diese und die den Urteilen des Senats vom 27. Juni 1968 (BSGE 28, 131) und vom 29. Februar 1972 (aaO) zugrunde liegenden Zeiträume sind hier jedoch nicht überschritten.
Der Beklagte meint zu Unrecht, Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO könne nur bei Bauvorhaben bestehen, die eingeplant gewesen seien. Der Kläger hat vorgetragen, wegen des Einbruchsversuches sei anstelle des zunächst eingeplanten Rolladens am Duschraumfenster ein Gitter vorgesehen worden. Das LSG hat entsprechende Feststellungen unterlassen, weil es den Versicherungsschutz nicht davon abhängig angesehen hat. Dies ist zutreffend. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 27. Juni 1968 (BSGE 28, 122) entschieden, daß es nicht zum Begriff der Selbsthilfe im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO gehöre, daß sie im Finanzierungsplan vorgesehen sei. Entsprechend der dort dargelegten Begründung (BSG aaO hier S. 125) richtet sich für steuerbegünstigte Wohnungen, für die zudem ein Finanzierungsplan im Sinne des § 36 des Zweiten Wohnbaugesetzes idF vom 1. September 1965 (BGBl I 1617, nunmehr idF der Bekanntmachung der Neufassung vom 1. September 1976 - BGBl I 2673) nicht vorgesehen ist, der Versicherungsschutz bei Selbsthilfearbeiten nicht danach, ob es sich um Arbeiten handelt, die bereits im Bauplan vorgesehen gewesen sind. Dem Gesetzeswortlaut ist eine entsprechende Einschränkung nicht zu entnehmen, ebenso nicht der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift. Entscheidend ist auch insoweit, daß der Versicherte im Rahmen der Selbsthilfe tätig wird. Der Versicherungsschutz besteht auch nach Sinn und Zweck des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO gleichfalls bei Arbeiten zur Durchführung des Bauvorhabens, die nach der Planung zunächst von einem Bauunternehmen durchgeführt werden sollten. Entschließt sich der Bauherr, diese Arbeiten selbst zu verrichten, um Zeit oder Geld zu sparen, so ist er dabei - soweit die Voraussetzungen im übrigen gegeben sind - nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO versichert. Ebenso ist Versicherungsschutz bei Selbsthilfearbeiten gegeben, die erforderlich werden, weil in Ergänzung der Bauplanung zusätzliche Arbeiten vorgesehen sind, die der Bauherr selbst durchführt. Ist aber bei Selbsthilfearbeiten, die einem in der Bauplanung zunächst nicht vorgesehenen Teil des Bauvorhabens dienen, der Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nicht ausgeschlossen, wenn sie vor oder unmittelbar nach dem Bezug des Familienheimes verrichtet werden, so besteht, wie auch hier bereits aufgezeigt, der Versicherungsschutz bei Arbeiten auch, wenn sie drei Jahre später durchgeführt werden. Entscheidend ist auch hier, daß sie noch als eine sachgemäße Ergänzung oder Vollendung des Familienheimes zu betrachten sind, die versicherungsrechtlich nicht anders zu behandeln sind, als wenn sie bereits im Bauplan vorgesehen oder zwar erst danach geplant, aber vor oder unmittelbar nach dem Einzug durchgeführt wurden. Anderenfalls würden gerade die finanziell schwachen Bauherrn benachteiligt, die erst im Laufe der Bauarbeiten darüber entscheiden können, ob eine zunächst aus finanziellen Erwägungen im Bauplan nicht vorgesehene Arbeit doch noch tragbar und deshalb ganz oder teilweise in Eigenleistung nachträglich durchzuführen ist. Die Voraussetzung, daß es sich um eine sachgemäße Ergänzung oder Vollendung des Familienheimes handeln muß, schließt es aus, daß der Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nach Bezug des Familienheimes bei jeder kleinen Hobbytätigkeit am Haus anzunehmen ist. Hierbei kann der Umstand, daß eine Arbeit bereits im Bauplan vorgesehen war, wesentlich dafür sprechen, daß es sich noch um eine Ergänzung oder Vollendung des Familienheimes handelt. Ist dies aber nicht der Fall - wovon der Senat mangels tatsächlicher Feststellungen des LSG zugunsten des Beklagten auszugehen hat -, so entscheidet insbesondere nach Zweck, Art und Umfang der Arbeit, ob sie noch dazu dient, das Familienheim zu ergänzen oder zu vollenden. Dies ist in Übereinstimmung mit der Entscheidung des LSG bei der Vergitterung eines Fensters im Erdgeschoß anzunehmen. Das LSG hat dabei mit Recht als unerheblich angesehen, daß die Entscheidung des Klägers zu der sachgemäßen Ergänzung oder Vollendung des Familienheimes ggf. auf den Einbruchsversuch zurückzuführen ist und deshalb ebenso wie die gesamten Selbsthilfearbeiten im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO privaten Interessen gedient hat.
Dem Urteil des Senats vom 27. Juni 1968 (BSGE 28, 134), auf das der Beklagte für seine Auffassung Bezug nimmt, ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen. Der Senat hat in diesem Urteil entschieden, daß der Unfallversicherungsschutz für die beim Bau eines steuerbegünstigten Familienheimes im Rahmen der Selbsthilfe Tätigen davon abhängt, daß das Bauvorhaben im Unfallzeitpunkt den Voraussetzungen für die spätere Anerkennung entsprochen hat und es auf den Antrag auf Steuerbegünstigung oder die Entscheidung darüber nicht ankommt. Der Entscheidung sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß bei einer nach Anerkennung der Steuerbegünstigung verrichteten Selbsthilfe kein Versicherungsschutz bestehen soll, wenn sie im Bauplan nicht vorgesehen war. Der Senat hat in seiner Begründung (aaO S. 136) zwar darauf hingewiesen, daß für die Frage, ob die Voraussetzungen der Steuerbegünstigung vorliegen, in der Regel auch die für die Baugenehmigung eingereichten Unterlagen erheblich sein werden. Es hat jedoch in diesem Zusammenhang zugleich hinzugefügt "evtl. mit den bis zum Unfallzeitpunkt vorgenommenen Änderungen". Aus diesem Urteil ist somit ersichtlich, daß der Senat bereits damals davon ausgegangen ist, daß bei Selbsthilfearbeiten, die aufgrund einer nachträglichen Änderung oder Ergänzung des Bauplanes verrichtet werden, der Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nicht ausgeschlossen ist. Dem Urteil des Senats vom 25. August 1971 (SozR Nr. 21 zu § 539 RVO), das den Versicherungsschutz bei Tätigkeiten betrifft, die dem Bau eines Hauses vorangehen, ist eine andere Rechtsauffassung ebenfalls nicht zu entnehmen. Der Senat hat lediglich bei Tätigkeiten, die dem Bau eines Hauses vorausgehen, der in diesem Zeitpunkt vorhandenen Bauplanung eine besondere Bedeutung für die Frage beigemessen, ob es sich um den Beginn eines Bauvorhabens handelt, das die Voraussetzungen für einen öffentlich geförderten oder steuerbegünstigten Wohnungsbau erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen