Leitsatz (amtlich)
Hat sich der Verfolgte bis zum Verlassen des Vertreibungsgebietes im persönlichen Lebensbereich der deutschen Sprache bedient, so bedarf es für die Verneinung seiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (§ 20 S 2 WGSVG iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 WGSVG) besonderer Feststellungen darüber, daß sich der Verfolgte gleichwohl bewußt von der deutschen Kultur ab- und einer anderen Kultur zugewandt hat (Fortführung von BSG 1977-10-20 11 RA 88/76 = SozR 5070 § 20 Nr 2).
Normenkette
WGSVG § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2, § 20 S 2; FRG §§ 1, 15-16; BVFG § 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger - ein Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) - begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt Altersruhegeld.
Er ist 1908 geboren und lebte bis 1950 in Rumänien. Von 1922 bis 1950 mit Ausnahme einer Verfolgungszeit von 1941 bis 1944 war er nach seinen Angaben versicherungspflichtig beschäftigt und es wurden für ihn Beiträge zur rumänischen Sozialversicherung entrichtet. 1950 wanderte er nach Israel aus. Von 1954 bis 1973 entrichtete er Pflichtbeiträge zur israelischen Versicherung.
Seinen Antrag auf Altersruhegeld vom Dezember 1975 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 19. Mai 1978; Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1979). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. März 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 6. Juli 1982 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Wohl seien nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vertriebene Verfolgte, die dem deutschen Kulturkreis zugehörig gewesen seien, den Vertriebenen dann gleichzustellen, wenn sie lediglich deshalb nicht als Vertriebene anerkannt seien, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt hätten. Für die deutsche Volkszugehörigkeit genüge es, daß die vertriebenen Verfolgten dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hätten. Das sei indes bei dem Kläger nicht der Fall gewesen. In der Bukowina (Rumänien), wo der Kläger gelebt habe, habe neben der deutschen Volksgruppe auch ein jüdischer Bevölkerungsteil bestanden, der sich nicht nur als eine religiöse Minderheit, sondern als nationalgeprägte Kulturgemeinschaft verstanden habe und als solche habe anerkannt und geschützt sein wollen. Dieser Gemeinschaft habe der Kläger angehört. Deutsche und Juden seien in der Bukowina nicht Angehörige derselben Kulturgemeinschaft, sondern lediglich Sprachgenossen gewesen. Auch sei nicht überwiegend wahrscheinlich, daß der Kläger seiner Sprachzugehörigkeit wegen Rumänien verlassen habe.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 20 WGSVG. Anders als das angefochtene Urteil annehme, habe er auch glaubhaft gemacht, daß er dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört habe.
Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Der Kläger kann einen Anspruch auf Altersruhegeld haben, wenn er in Rumänien Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten zurückgelegt hat und wenn diese solchen Zeiten gleichzustellen sind, die in Deutschland zurückgelegt sind (§§ 15 und 16 Fremdrentengesetz -FRG-). Die Geltung fremder Zeiten auch in der Bundesrepublik setzt voraus, daß der Kläger zu dem Personenkreis gehört, der durch das FRG begünstigt werden soll. Nach § 1 Buchst a FRG findet dieses Gesetz ua auf Vertriebene iS des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) Anwendung. Vertriebener ist danach - ua -, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen ua Rumänien verlassen hat oder verläßt (§ 1 Abs 2 Nr 3 BVFG). Gemäß § 20 WGSVG in der mit Wirkung vom 1. Juli 1977 durch Art 2 § 10 Nr 3 des Gesetzes vom 27. Juni 1977 (BGBl I, 1040) gültigen Fassung stehen den Vertriebenen Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, genügt es, wenn sie im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben (§§ 20 Satz 2, 19 Abs 2 Buchst a, 2. Halbsatz WGSVG).
Die Tatsachen, die das LSG festgestellt hat, stehen - anders als das LSG meint - der Annahme, der Kläger habe in Rumänien dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört, nicht entgegen. Sinn des § 20 WGSVG ist es, auch diejenigen Personen unter Schutz von sozialrechtlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland zu stellen, die zwar nicht deutsche Staatsangehörige waren oder die sich zwar nicht zum deutschen Volkstum bekannten oder bekennen konnten, aber als anerkannte Verfolgte iS des BEG objektiv dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zugehörig waren. Sie sollten von Personen abgegrenzt werden, die zu Deutschland keine nähere Beziehung hatten und denen gegenüber die staatspolitische Pflicht zur Hilfe bei der Neueingliederung nach der Vertreibung nicht bestand (vgl Bundesverwaltungsgericht -BVerwG- in RzW 1968, 88, 89). Bei der Bestimmung der Personen, die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehören, kommt der Beherrschung und dem Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich eine besondere Bedeutung zu. Nach den Erkenntnissen der Sprachwissenschaft erschließt sich jedem, der eine Sprache als Muttersprache spricht oder im persönlichen Bereich ständig gebraucht, das Weltbild dieser Sprache. Jeder Sprache ist eine bestimmte Art, die Welt gedanklich zu erfassen, eigentümlich. In der Spracherlernung, insbesondere von Jugend an, liegt die Eingliederung in die Denkwelt der Sprache. Daher erhält jeder, der mit der deutschen Sprache weitgehend vertraut ist und sie in seinem persönlichen Lebensbereich spricht, einen Zugang zu der der durch die Sprache vermittelten Kultur. In Wechselwirkung hierzu wird die Sprache durch neue kulturelle Leistungen bereichert. Dabei darf nicht danach unterschieden werden, welche Schicht des kulturellen Lebens sich der Angehörige der Sprachgemeinschaft durch den Gebrauch der Sprache erschließt. Denn jede Kultur beginnt mit dem Bestreben, die Grundbedürfnisse des einzelnen Menschen und der menschlichen Gemeinschaft zu befriedigen, und im Streben nach diesen Leistungen liegt bereits der Anfang aller weiteren Kulturentwicklung und damit bereits eine Stufe der Kultur. Diese Erwägungen waren für den Bundesgerichtshof (BGH) maßgebend, in einer Entscheidung von 25. März 1970 (RzW 1970, 503, 505 ff) zu § 150 BEG den Gebrauch des Deutschen im Bereich des persönlichen Lebens als ein im Regelfall ausreichendes Anzeichen für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis anzusehen. Wie das Bundessozialgericht bereits mit Urteil vom 20. Oktober 1977 (SozR 5070 § 20 Nr 2) entschieden hat, gilt dies auch im Rahmen des § 20 WGSVG.
Da nach der für den erkennenden Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden Feststellung des LSG der Kläger in Rumänien die deutsche Sprache in seinem persönlichen Lebensbereich gebraucht hat, beruht die im angefochtenen Urteil verneinte Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis unter Berücksichtigung der aufgezeigten höchstrichterlichen Rechtsprechung auf einer Verletzung der §§ 19 Abs 2, 20 WGSVG. Entgegen der Auffassung des LSG kommt es nicht darauf an, ob der Kläger außer dem deutschen Sprachgebrauch noch besondere Kontakte mit deutschen Kultureinrichtungen gehabt hat, zumal anderenfalls - worauf der BGH in der genannten Entscheidung vom 25. März 1970 hingewiesen hat - dem deutschen Sprach- und Kulturkreis nur die Angehörigen einer gehobenen Bildungsschicht zuzurechnen wären.
Trotz des Gebrauchs der deutschen Sprache kann allerdings ein Verfolgter ausnahmsweise einem anderen Kulturkreis angehört haben, wenn er sich bewußt einem anderen Kulturkreis zugewandt hat (BGH aaO). Das setzt aber die Feststellung voraus, daß die betreffende Person unter Aufgabe der deutschen Kultur sich einer anderen Kultur zugewandt hat. Für das Vorliegen eines derartigen Ausnahmefalls genügen die vom LSG getroffenen allgemeinen Feststellungen über einen jüdischen Bevölkerungsteil in der Bukowina als "national geprägte Kulturgemeinschaft" schon deswegen nicht, weil daraus nicht ersichtlich ist, ob sich gerade der Kläger an dieser besonderen Kulturgemeinschaft aktiv beteiligt und damit auch bewußt - trotz der vom LSG festgestellten deutschen Schulbildung, des Gebrauchs der deutschen Sprache und der Beschäftigung bei deutschen Firmen - von der deutschen Kultur abgewandt hat. Auch wer mit seiner äußeren Zugehörigkeit zum Judentum, das innerhalb des deutschen Sprachraums immer eine Minderheit gewesen ist, seine jüdische Eigenart bewahrt hatte, war, wenn er - wie der Kläger - die deutsche Sprache als Muttersprache gebrauchte, in der Regel Angehöriger des deutschen Kulturkreises, ohne daß es noch einer "inneren Bindung" an denselben bedurfte. Das konnte sich erst verlieren, wenn die besondere jüdische Eigenart ihm so wichtig geworden war, daß er sich ihr in besonderer Weise zuwandte und sie im Gegensatz zu seinem durch die Sprache vermittelten Deutschtum besonders pflegte. Eine solche bewußte Zuwendung zu der auf die kulturelle Erneuerung des Judentums ausgerichteten Bewegung kann die Beziehung zwischen der deutschen Sprache und dem deutschen Kulturkreis abschwächen oder gänzlich aufheben (BGH aaO S 507). Ein entsprechender Sachverhalt ist aber vom LSG nicht festgestellt worden und kann daher auch nicht zu Lasten des Klägers gehen, der sich durch den Gebrauch der deutschen Sprache als dem deutschen Sprach- und Kulturkreis grundsätzlich zugehörig ausgewiesen hat (vgl BGH aaO S 506).
Die Sache ist deshalb an das LSG zurückzuverweisen. Falls sich die Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis herausstellen sollte, bedarf es der Feststellung der übrigen anspruchsbegründenden Tatsachen. Da der Kläger Rumänien vor dem 1. Oktober 1953 verlassen hat, wird dabei das LSG die Rechtsprechung des BSG zur Vermutung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und der Auswanderung zu beachten haben. Insoweit wird auf das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 5b RJ 8/83 verwiesen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen