Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 16.08.1989; Aktenzeichen L 17 U 106/88)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. August 1989 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Anrechnung von Ersatzzeiten sowie von rumänischen und russischen Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) iVm § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).

Der am 1. Januar 1924 geborene Kläger ist Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er besuchte von 1930 bis 1934 in C … (B …) die rumänische Volksschule und danach das rumänische Handelsgymnasium mit Deutsch als erster Fremdsprache. Im Anschluß daran begann er eine Lehre als Feinmechaniker und Scherer in einer Textilfabrik. Von Juni 1941 bis Sommer 1944 war er inhaftiert. Nach seiner Befreiung durch sowjetische Truppen wurde er in ein Arbeitslager nach T … gebracht. Im Jahre 1948 kehrte er nach C … zurück und war dort in einem sowjetischen Betrieb als Scherer und Weber tätig. Im Mai 1949 heiratete er die aus der Ukraine stammende M … St …. Im April 1969 wanderte er nach Israel aus, dessen Staatsangehörigkeit er inzwischen besitzt.

Im Februar 1979 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Vormerkung von rumänischen und sowjetischen Versicherungszeiten. Durch Bescheid vom 3. März 1983 lehnte die Beklagte die Anerkennung von Beitrags- und Beschäftigungszeiten für die Zeiträume von September 1938 bis Juni 1940, von Mai 1945 bis Januar 1948 und von August 1948 bis März 1969 ab mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 20 WGSVG seien nicht erfüllt, weil es an einem Zusammenhang zwischen der behaupteten Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) und dem Verlassen des Heimatlandes (Nötigungszusammenhang) fehle. Die hiergegen erhobene Klage blieb in den Vorinstanzen ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Düsseldorf vom 5. September 1988, Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. August 1989). Das LSG ging davon aus, daß wegen der fehlenden Vertriebeneneigenschaft des Klägers iS des § 1 FRG die Anrechnung der geltend gemachten Zeiten nur in Betracht komme, wenn der Kläger im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes (C …) dem dSK angehört habe (§ 20 Satz 2 WGSVG iVm § 19 Abs 2 Buchst a WGSVG). Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt. Der Kläger stamme zwar aus einem deutschsprachigen Elternhaus und beherrsche die deutsche Sprache, doch habe er die Zugehörigkeit zum dSK nach seiner Eheschließung mit einer russischsprachigen Frau allmählich verloren; denn er habe mit ihr und seinen drei Kindern bis zur Auswanderung nahezu ausschließlich russisch gesprochen. Die Übergangszeit, während der die Zugehörigkeit zum dSK erhalten bleibe, sei im vorliegenden Fall verstrichen. Sie wäre nur dann nicht abgelaufen, wenn der Kläger bis zu seiner Auswanderung deutsch in gleichem Umfang neben einer zweiten Sprache gesprochen hätte. Dies lasse sich bei ihm jedenfalls bis 1969 nicht feststellen. Gelegentliche Gespräche mit Arbeitskollegen in deutscher Sprache reichten insofern nicht aus. Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, daß sich der Kläger aus Verfolgungsgründen vom dSK abgewandt hätte.

Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich der Kläger mit seiner vom Senat zugelassenen Revision. Er rügt die Verletzung der §§ 20, 19 Abs 2 Buchst a zweiter Halbs WGSVG und trägt dazu vor, das LSG habe nicht berücksichtigt, daß er auf Grund der verfolgungsbedingten Lebensverhältnisse objektiv außerstande gewesen sei, auch im persönlichen Bereich seine deutsche Muttersprache weiterzugebrauchen. Er habe seine deutsche Identität durch Beibehaltung der deutschen Sprache als Muttersprache bewahrt, indem er seiner fremdsprachigen Ehefrau die Fähigkeiten beigebracht habe, deutsch zumindest zu verstehen, und indem er sich außerhalb seiner Familie mit Verwandten, Freunden und Arbeitskollegen deutsch unterhalten habe. Zumindest sei die Übergangsfrist, während der die Zugehörigkeit zum dSK erhalten bleibe, im Zeitpunkt der Auswanderung noch nicht abgelaufen gewesen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. August 1989 und unter Aufhebung des Bescheides vom 3. März 1983 zu verurteilen, für den Kläger die in den Vertreibungsgebieten zurückgelegten Versicherungszeiten anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung begründet.

Die Anrechnung der vom Kläger geltend gemachten Zeiten richtet sich nach den §§ 15, 16 FRG. Hierzu ist erforderlich, daß der Kläger dem Personenkreis des § 1 FRG zuzuordnen ist. Der Kläger erfüllt indes nicht unmittelbar diese Voraussetzung. Er ist weder anerkannter Vertriebener iS des § 1 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und FlüchtlingeBundesvertriebenengesetz – (BVFG) noch Deutscher noch heimatloser Ausländer noch Hinterbliebener einer zu diesem Kreis gehörenden Person. Nach § 20 Abs 1 Satz 1 WGSVG stehen allerdings bei der Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des BVFG vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Soweit es dabei auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, genügt es, daß sie im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört haben (§ 20 Abs 1 Satz 2 iVm § 19 Abs 2 Buchst a zweiter Halbs WGSVG).

Soweit der Grund für das Verlassen des Vertreibungsgebietes von Bedeutung ist, wird die Zugehörigkeit zum dSK als wesentliche Ursache vermutet (§ 20 Abs 2 Satz 1 WGSVG, angefügt mit Wirkung vom 1. Januar 1990 durch Art 21 Nr 4 Buchst c des Rentenreformgesetzes 1992 ≪RRG 1992≫ vom 18. Dezember 1989, BGBl I S 2261). Eine verfolgungsbedingte Abwendung vom dSK oder eine Wohnsitznahme in einem nicht deutschsprachigen Land widerlegt allein diese Vermutung nicht.

Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob der Kläger die Voraussetzungen des § 20 Abs 1 iVm § 19 Abs 2 Buchst a zweiter Halbs WGSVG erfüllt. Allerdings gehört er zum Kreis der Verfolgten iS des § 1 BEG. Dem LSG ist auch darin zu folgen, daß der Kläger durch seine Herkunft aus einem deutschsprachigen Elternhaus und wegen seiner Beherrschung der deutschen Sprache zunächst dem dSK angehört hat. Die weiteren Schlußfolgerungen des Berufungssenats ergeben sich jedoch nicht ohne weiteres aus den von ihm getroffenen Feststellungen.

Das LSG geht davon aus, daß der Kläger die Zugehörigkeit zum dSK nach seiner Eheschließung im Jahre 1949 allmählich verloren habe, weil er mit seiner Ehefrau und seinen drei Kindern bis zur Auswanderung im Jahre 1969 nahezu ausschließlich russisch gesprochen habe. Es hält die Übergangszeit, während der die Zugehörigkeit zum dSK erhalten bleibt, für verstrichen, weil zwischen der Eheschließung und der Auswanderung 20 Jahre lägen. Das LSG geht weiter davon aus, daß der Kläger bis zur Auswanderung nicht neben der in seiner Familie verwendeten russischen Sprache im gleichen Umfang auch deutsch gesprochen hat. Damit hat es den Kriterien, nach denen sich der Verlust der Zugehörigkeit zum dSK beurteilt, nicht ausreichend Rechnung getragen.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG – (s SozR 5070 § 20 Nr 3) ergibt sich die Zugehörigkeit zum dSK im Regelfall aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch des Deutschen im Bereich des persönlichen Lebens. Sie kann verlorengehen, wenn im familiären Bereich ausschließlich eine andere Sprache benutzt wird. Dabei ist unerheblich, daß die deutsche Sprache die Muttersprache gewesen ist; denn auch die als solche „unverlierbare” Muttersprache kann nicht ein für alle Male den Verbleib im dSK verbürgen. Dem Verlust der Zugehörigkeit zum dSK steht in diesen Fällen auch nicht entgegen, daß die deutsche Sprache weiterhin beherrscht wird. Hiervon ausgehend konnte das LSG den allmählichen Verlust der Zugehörigkeit zum dSK in Betracht ziehen, weil der Kläger nach den vom LSG getroffenen Feststellungen in der Familie jedenfalls in späteren Jahren fast ausschließlich russisch gesprochen hat und auch an der Arbeitsstelle sowie im Bekanntenkreis wenig Gelegenheit zum Gebrauch der deutschen Sprache hatte.

Das LSG hat seiner Entscheidung auch zutreffend die Rechtsprechung des BSG zugrundegelegt, daß die Zugehörigkeit zum dSK bei Beschränkung der Möglichkeiten, deutsch zu sprechen, wie zB nach der Heirat mit einer fremdsprachigen Frau, noch für eine Übergangszeit erhalten bleiben kann. Dabei konnte es jedoch die neuere Rechtsprechung zu dieser Frage noch nicht berücksichtigen.

In seinem Urteil vom 19. April 1990 (1 RA 105/88 = BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 1) geht der 1. Senat davon aus, daß für die Länge der Übergangsfrist, in der die Zugehörigkeit zum dSK trotz überwiegender Benutzung einer fremden Sprache erhalten bleibt, erheblich ist, ob aus Gründen der Verfolgung bzw Vertreibung nicht mehr die Möglichkeit bestand, im persönlichen Lebensbereich die deutsche Muttersprache weiterzugebrauchen. Der 4. Senat hatte sich in seinem Urteil vom 26. September 1991 (4 RA 89/90 = BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 2) mit der Frage zu befassen, ob der Kläger, der im Jahre 1947 eine fremdsprachige Frau geheiratet hatte und im Jahre 1965 nach Israel ausgewandert war, im Zeitpunkt der Auswanderung noch dem dSK angehörte. Dabei hat er sich dem 1. Senat insoweit angeschlossen, daß die Länge der Übergangszeit von den objektiven Lebensverhältnissen abhängt, sofern diese durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind (aaO Seite 10). Allerdings hat er die Übergangszeit auf längstens 20 Jahre begrenzt, gerechnet von dem Zeitpunkt an, zu dem im persönlichen Bereich nicht mehr überwiegend deutsch gesprochen worden ist.

Der erkennende Senat läßt bei dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens dahingestellt, ob er sich der Festlegung dieser starren Grenze anschließen könnte; denn jedenfalls liegen im hier zu entscheidenden Falle zwischen dem Zeitpunkt der Heirat, den das LSG als Beginn der Abwendung vom dSK angesehen hat (Mai 1949) und der Auswanderung (April 1969) noch nicht 20 Jahre. Unabhängig davon kann eine Übergangsfrist von 20 Jahren nicht in jedem Fall zugrundegelegt werden. Vielmehr ist darauf abzustellen, welche Gründe dazu geführt haben, daß der Kläger nicht mehr überwiegend deutsch gesprochen hat und wann diese Entwicklung eingesetzt hat. Dazu fehlt es im Berufungsurteil an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen.

Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger seit seiner Heirat im Bekanntenkreis und an der Arbeitsstelle wenig Gelegenheit hatte, deutsch zu sprechen. Es hat aber keine Feststellungen dazu getroffen, daß insoweit durch die Heirat eine Veränderung der zuvor bestehenden Situation eingetreten ist. Das Urteil enthält keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger vorher in größerem Umfang deutsch gesprochen hat oder auch nur die Möglichkeit dazu vorhanden war. Umgekehrt muß die Eheschließung nicht von vornherein zur Abwendung vom dSK geführt haben. Dies hängt im vorliegenden Fall davon ab, wie lange und mit welcher Intensität der Kläger versucht hat, seiner Ehefrau die deutsche Sprache zu vermitteln.

Die zur abschließenden Beurteilung der Zugehörigkeit des Klägers zum dSK noch erforderlichen Feststellungen kann der Senat nicht selbst treffen. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird zu prüfen haben, wie sich das Sprachverhalten des Klägers nach Rückkehr in seine Heimatstadt entwickelt hat, ab wann er nicht mehr überwiegend deutsch gesprochen hat und welche Gründe hierfür maßgeblich waren. Dabei kommt es darauf an, ob es sich bei den Gründen, die hierzu geführt haben, um Vertreibungsmaßnahmen iS des § 1 BVFG oder Verfolgungsgründe iS des § 1 BEG gehandelt hat. Sofern sich ergibt, daß der Kläger bis zum Beginn der Ehe noch überwiegend deutsch gesprochen hat und verfolgungsbedingte Gründe für die Abwendung vom dSK maßgeblich waren, könnte uU noch bedeutsam sein, wie sich das Sprachverhalten in den ersten Ehejahren entwickelt hat.

Unabhängig davon kann auch die nach Verkündung des angefochtenen Urteils durch das RRG 1992 mit Wirkung vom 1. Juli 1990 eingefügte Regelung des § 17a FRG von Bedeutung sein, über die das LSG bisher nicht entschieden hat.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173183

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