Entscheidungsstichwort (Thema)
Selbstgeschaffene Gefahr. Überqueren einer Autobahn
Orientierungssatz
Für das Überqueren der Autobahn ausschließlich zum Zweck, den jenseits liegenden Acker zur Verrichtung einer dem Betrieb dienenden Tätigkeit zu erreichen, ist verbotswidriges Handeln unbeachtlich (§ 548 Abs 3 RVO) und der Versicherungsschutz nicht unter dem Gesichtspunkt einer selbstgeschaffenen Gefahr zu verneinen.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 548 Abs 3 Fassung: 1963-04-30, § 780 Abs 2, § 539 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 25.08.1982; Aktenzeichen L 3 U 231/81) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 06.10.1981; Aktenzeichen S 6 U 116/81) |
Tatbestand
Der im Jahre 1901 geborene Ehemann der Klägerin - P.S. (S.) - war als mitarbeitender Familienangehöriger im landwirtschaftlichen Unternehmen seines Sohnes tätig. Am Samstag, dem 27. Oktober 1979, wurde er gegen 15.20 Uhr tödlich verletzt, als er auf dem Weg zum Aufsammeln von Steinen auf einem zur Landwirtschaft seines Sohnes gehörenden Grundstück die Bundesautobahn (BAB) 48 (Koblenz-Trier) zu Fuß überquerte und dabei von einem Pkw erfaßt wurde.
Die Beklagte lehnte eine Hinterbliebenenentschädigung ab. Selbst wenn unterstellt werde, daß S. Steine vom Acker habe einsammeln wollen, habe kein Versicherungsschutz bestanden, weil der betriebliche Zusammenhang durch eine von S. selbstgeschaffene Gefahr gelöst gewesen sei (Bescheid vom 26. März 1981).
Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- Koblenz vom 6. Oktober 1981 und des Landessozialgerichts -LSG- Rheinland-Pfalz vom 25. August 1982). Das SG und das LSG haben entschieden, daß nicht der betriebliche Anlaß, sondern das vernunftwidrige Überqueren der Autobahn und damit eine selbstgeschaffene Gefahr als Unfallursache derart im Vordergrund gestanden hätten, daß der Unfallversicherungsschutz entfallen sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, ihr Ehemann sei aus betrieblichen Gründen unterwegs gewesen. Das Überqueren der Autobahn sei nicht unvernünftiger oder leichtsinniger als zB das Überqueren von Bahngeleisen, das Auf- und Abspringen von einem fahrenden Zug oder das Benutzen eines Materialförderbandes als Personentransportmittel.
Sie beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren, insbesondere Witwenrente.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Nach ihrer Ansicht könnten für das Überqueren der Autobahn nur eigenwirtschaftliche Gründe eine Rolle gespielt haben. Aus betrieblichen Gründen hätte der Ehemann der Klägerin ohne weiteres die etwa 50 m entfernt liegende Autobahnunterführung benutzen können, um auf das Feld zu gelangen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist teilweise begründet. Sie hat keinen Erfolg, soweit sie Ansprüche auf Sterbegeld, Überführungskosten und Überbrückungshilfe (§`589 Abs`1 Nrn`1, 2, 4, §`591 Reichsversicherungsordnung -RVO-) betrifft.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (s BSGE 1, 126, 128; 2, 225, 226; SozR 1500 § 150 Nrn 11 und 18) ist bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung zulässig ist.
Mit der Berufung hat die Klägerin - nach der Formulierung des LSG - die Gewährung von "Hinterbliebenenentschädigung, insbesondere Witwenrente", nach dem Antrag in der Klageschrift, auf den in der Berufungsschrift Bezug genommen wird, die Gewährung der "entsprechenden gesetzlichen Leistungen" beantragt. Die Berufung betrifft somit - wie schon das erstinstanzliche Verfahren - auch die nach § 144 Abs 1 Nrn 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von der Berufung ausgeschlossenen Ansprüche auf Sterbegeld und Überführungskosten gemäß § 589 Abs 1 Nrn 1 und 2 RVO (einmalige Leistungen) und auf Überbrückungshilfe gemäß § 589 Abs 1 Nr 4, § 591 RVO (wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu drei Monaten). Bei Streitigkeiten über die Hinterbliebenenentschädigung aus Anlaß eines Arbeitsunfalles ist die Zulässigkeit der Berufung für jede einzelne Leistung gesondert zu prüfen (s BSG SozR 1500 § 144 Nrn 2 und 4). Das SG hat die Berufung nicht gemäß § 150 Nr 1 SGG zugelassen. Die teilweise unrichtige Rechtsmittelbelehrung des erstinstanzlichen Urteils, nach der das Urteil - in vollem Umfang - mit der Berufung angefochten werden könne, bewirkt nach der ebenfalls ständigen Rechtsprechung des BSG keine Zulassung des Rechtsmittels (s BSGE 2, 121, 125; 4, 261, 263; 5, 92, 95; 8, 135, 137 und 154, 158; SozR Nr 10 zu § 150 SGG). Auch die Voraussetzungen, unter denen die Berufung ungeachtet des § 144 Abs 1 SGG nach § 150 Nrn 2 und 3 SGG zulässig ist, liegen insoweit nicht vor. Hinsichtlich der Ansprüche auf Sterbegeld, Überführungskosten und Überbrückungshilfe ist deshalb die Berufung der Klägerin als unzulässig zu verwerfen. Dem steht der Grundsatz des Verbots der Schlechterstellung nicht entgegen (s BSGE 2, 225, 228; BSG SozR Nr 40 zu § 215 SGG).
Soweit die Klägerin Witwenrente beansprucht, ist die Revision begründet.
Nach § 589 Abs 1 Nr 3 iVm § 590 RVO ist bei Tod durch Arbeitsunfall vom Todestag an Witwenrente zu gewähren. Die Voraussetzungen dieses Anspruchs sind aufgrund der im angefochtenen Urteil getroffenen, das BSG bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) entgegen der Auffassung des LSG und der Beklagten gegeben. Der Ehemann der Klägerin hat den Unfall, der zu seinem Tod führte, bei einer (dh im ursächlichen Zusammenhang mit einer) der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten erlitten (Arbeitsunfall nach § 548 RVO).
Zur Unfallzeit war der Ehemann der Klägerin zwar nicht mehr - wie früher - Landwirt und als solcher nach § 539 Abs 1 Nr 5 RVO gegen Arbeitsunfall versichert. Als Altenteiler und Rentner betätigte er sich aber in der Landwirtschaft seines Sohnes und war sonach als mitarbeitender Familienangehöriger (s § 780 Abs 2 RVO; BSG SozR Nr 1 zu § 780 RVO) jedenfalls wie ein nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO Versicherter tätig (§ 539 Abs 2 RVO; s hierzu Krasney/Noell/ Zöllner, Das Landwirtschaftliche Sozialrecht und Möglichkeiten seiner Fortentwicklung, LSR-Studie 1982, S 61 f; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, Anm 98 und 100 zu § 539). Die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid den Nachweis dafür, daß der Ehemann der Klägerin im Unfallzeitpunkt eine versicherte Tätigkeit ausüben wollte, zwar nicht als erbracht bezeichnet. Bereits das SG hat jedoch in seinem Urteil ua ausgeführt, daß insbesondere nach der Aussage des Stiefsohnes der Klägerin kein Zweifel daran bestehe, daß dessen Vater, der Verunglückte, jenseits der Autobahn landwirtschaftliche Tätigkeiten habe verrichten wollen. Dem ist die Beklagte nicht mehr entgegengetreten. Sie hat auch im Revisionsverfahren nicht die dementsprechenden Feststellungen im Urteil des LSG angegriffen. Das LSG ist bei der rechtlichen Beurteilung von dem Sachverhalt ausgegangen, den die Klägerin in der Berufungsbegründung - von der Beklagten unwidersprochen - als "unstreitig" bezeichnet hat, wonach der Ehemann der Klägerin auf dem Acker jenseits der Autobahn mit seinen drei Enkeln Steine sammeln sollte (S 8 des Urteils).
Von diesen für das BSG bindenden Feststellungen (s § 163 SGG) ausgehend, hat das LSG angenommen, der "betriebliche Ursachenanteil" sei von dem unvernünftigen Verhalten des Verunglückten - durch selbstgeschaffene Gefahr - bis zur Bedeutungslosigkeit in den Hintergrund gedrängt worden (S 5 des Urteils), so daß der Versicherungsschutz entfallen sei (S 8 des Urteils). Das LSG hat den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges zum Acker und der versicherten Tätigkeit somit verneint, obwohl - auch nach den Ausführungen und Feststellungen im angefochtenen Urteil - kein Anhalt dafür besteht, daß das Überqueren der Autobahn einem anderen Zweck als dem Erreichen des Ackers diente. Soweit die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung geltend macht, für den Verunglückten könnten nur eigenwirtschaftliche Gründe eine Rolle gespielt haben, aus betrieblichen Gründen hätte er ohne weiteres die etwa 50 m entfernt liegende Autobahnunterführung benutzen können, wird der ausschließliche Zweck, aus betrieblichen Gründen - wenn auch unvernünftig auf einem kürzeren, aber gefahrenträchtigen Weg - den Acker zu erreichen, nicht in Frage gestellt. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des LSG stand der Ehemann der Klägerin im Unfallzeitpunkt auf einem Betriebsweg (§ 548 RVO) unter Versicherungsschutz.
In ständiger Rechtsprechung hat das BSG den Begriff der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr mit größter Vorsicht angewendet (s zuletzt BSG SozR 2200 § 548 Nr 60 mwN). Danach schließt nur eine aus betriebsfremden Motiven selbstgeschaffene Gefahr den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall aus, wenn die selbstgeschaffene Gefahr die zunächst noch vorhandenen betriebsbedingten Umstände so weit zurückdrängt, daß sie keine wesentliche Bedingung mehr für den Unfall bilden (BSG aaO; s auch BSGE 37, 38, 41; 41, 58, 61; 43, 15, 18; Breithaupt 1966, 834, 835; SozR Nr 53 und Nr 77 zu § 542 RVO aF, Nr 31 zu § 548 RVO; SozR 2200 § 548 Nr 26; s auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl S 484 h bis 484 o). Bei der Verfolgung betriebsbezogener Zwecke - wie hier - ist der ursächliche Zusammenhang selbst dann vorhanden, wenn der Unfall in hohem Maße selbstverschuldet wird. Der Grad des Verschuldens des Versicherten an dem Unfallgeschehen allein beseitigt nicht den Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit (vgl auch § 548 Abs 3, § 553 RVO). Vielmehr müssen betriebsfremde Motive für die sogenannte selbstgeschaffene Gefahr vorhanden sein, um den ursächlichen Zusammenhang aus diesem Grund verneinen zu können (s BSG SozR 2200 § 548 Nr 60; Brackmann aaO S 484 i). Da das Überqueren der Autobahn ausschließlich dem Zweck diente, den jenseits liegenden Acker zur Verrichtung einer dem Betrieb dienenden Tätigkeit zu erreichen und auch verbotswidriges Handeln unbeachtlich ist (§ 548 Abs 3 RVO), ist der Versicherungsschutz nicht unter dem Gesichtspunkt einer selbstgeschaffenen Gefahr zu verneinen.
Auf die Revision war danach mit der bereits angeführten Maßgabe die Beklagte zur Gewährung von Witwenrente zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, daß die Klägerin nur in einem unbedeutenden Umfang mit den erhobenen Ansprüchen im Rechtsstreit keinen Erfolg gehabt hat.
Fundstellen