Entscheidungsstichwort (Thema)

Fernmündliche Einholung von Auskünften. Beweismittel bei Verfahrensrügen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Werden die Aufgaben aus den SGG §§ 104 106 - 108 nach SGG § 155 auf einen Berufsrichter des Senats übertragen, so muß dies für die einzelne Streitsache in den Akten dieser Sache schriftlich festgelegt werden.

2. SGG § 106 Abs 3 Nr 3 schließt nicht die Befugnis ein, von Zeugen oder Sachverständigen fernmündliche "Auskünfte" einzuholen, wenn diese "Auskünfte" ihrem Gehalt nach Erklärungen als Zeuge oder Sachverständiger darstellen.

3. Zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der Entscheidung ist der ursächliche Zusammenhang im Sinne des SGG § 162 Abs 2 schon dann gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das Landessozialgericht anders entschieden hätte, wenn es die verfahrensrechtlichen Vorschriften richtig angewandt hätte.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Auskunft iS des SGG § 106 Abs 3 Nr 3 ist nicht nur die Erklärung einer Behörde, sondern auch die einer Privatperson.

2. Bei Verfahrensrügen sind Beweismittel nur anzugeben, wenn eine Beweisaufnahme erforderlich ist, nicht aber, wenn sich der Verfahrensverstoß unmittelbar aus den Akten ergibt.

 

Normenkette

SGG § 155 Fassung: 1953-09-03, § 106 Abs. 3 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, § 107 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 104 Fassung: 1953-09-03, § 108 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 13. Januar 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Schleswig zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin, die 1927 in die Angestelltenversicherung eintrat, war von 1928 bis 1944 Redaktionssekretärin bei der G Z. Am 24. Januar 1949 beantragte sie in Kiel bei der Landesversicherungsanstalt Schleswig, von der damals die Aufgaben der Angestelltenversicherung wahrgenommen wurden, die Bewilligung des Ruhegeldes wegen Berufsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 26. April 1949 wurde dieser Antrag abgelehnt; die Landesversicherungsanstalt war der Auffassung, daß die Klägerin berufsfähig sei. Die Berufung der Klägerin wies das Oberversicherungsamt Schleswig am 21. Dezember 1949 zurück; auch das Oberversicherungsamt hielt die Klägerin noch für berufsfähig. Die weitere Berufung, die von der Klägerin gegen dieses Urteil eingelegt wurde, wies das Landessozialgericht Schleswig zurück; es stützte sich dabei auf die Gutachten der Ärzte Dr. R und Dr. P von der Universitäts-Augenklinik in K vom 24. Juli 1953 und des Oberarztes Dr. W von der Medizinischen Klinik in K vom 30. Juli 1953; die Revision ließ das Landessozialgericht nicht zu.

Am 4. Juni 1955 legte die Klägerin Revision ein; sie beantragte, das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 13. Januar 1955 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen. Zur Begründung führte sie aus, das Verfahren des Landessozialgerichts sei mangelhaft; mit Schriftsatz an das Landessozialgericht vom 5. August 1954 habe sie darauf hingewiesen, daß das augenärztliche Gutachten der Ärzte Dr. R und Dr. P vom 24. Juli 1953 in Widerspruch stehe zu dem Schreiben derselben Ärzte an ihren behandelnden Arzt Dr. K vom 13. Mai 1953; während nämlich in dem Gutachten vom 24. Juli 1953 gesagt sei, es sei augenärztlich eine meßbare Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit nicht festzustellen, weil die fehlende Konvergenz des linken Auges durch die Prismenbrille der Klägerin ausgeglichen sei, sei in dem Schreiben vom 13. Mai 1953 ausgeführt, daß die Prismenbrille Naharbeiten "nur auf kurze Zeit" ermögliche; zur Aufklärung dieses Widerspruchs habe der Berichterstatter des Landessozialgerichts, wie auch im Tatbestand des Urteils ausdrücklich dargelegt sei, fünf Tage vor der Verhandlung von dem Gutachter Dr. P fernmündlich eine Auskunft eingeholt, darüber einen Vermerk gemacht und diesen Vermerk in der Verhandlung vom 13. Januar 1955 verlesen. Diese fernmündliche Vernehmung des Gutachters Dr. P sei unzulässig gewesen, ganz abgesehen davon, daß gar nicht sichergestellt sei, ob der Berichterstatter auch wirklich mit Dr. P gesprochen habe; es sei im Sozialgerichtsgesetz nirgends vorgesehen, daß ein Berichterstatter nach eigenem Ermessen eine Beweisaufnahme anordnen und durchführen könne. Beweise seien nach § 117 SGG in der mündlichen Verhandlung durch das Gericht zu erheben.

Die Beklagte beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen; § 117 SGG sei nicht verletzt; bei der fernmündlichen Unterredung zwischen dem Berichterstatter und dem Gutachter Dr. P habe es sich nicht um eine Beweiserhebung, sondern um die Einholung einer Auskunft im Sinne des § 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG gehandelt; im übrigen habe die Klägerin in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gehabt, sich zu dem Vermerk des Berichterstatters zu äußern; sie habe auch nicht - wie § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG dies verlange - die Beweismittel bezeichnet, die einen Verfahrensmangel ergeben.

Das Bundessozialgericht ersuchte das Landessozialgericht am 5. Oktober 1955, den Vermerk über das Ferngespräch vom 8. Januar 1955 zwischen dem Berichterstatter LSG-Rat P und dem Gutachter Dr. P zu den Akten des Landessozialgerichts nachzureichen; das Landessozialgericht teilte darauf am 18. Oktober 1955 mit, der Vermerk vom 8. Januar 1955 sei nicht mehr auffindbar. Auf die weitere Frage des Bundessozialgerichts, seit wann LSG-Rat P dem erkennenden Senat angehöre und ob er etwa Vertreter des ursprünglich zum Berichterstatter ernannten und nach § 155 SGG zur Ausübung der Rechte aus den §§ 104, 106 - 108 SGG befugten LSG-Rats K sei, erwiderte das Landessozialgericht am 25. Januar 1956 unter Hinweis auf den Beschluß seines Präsidiums vom 25. Oktober 1954, LSG-Rat P gehöre dem Senat seit 1. November 1954 an, er sei vom Vorsitzenden mündlich zum Berichterstatter ernannt und mit den Aufgaben aus den §§ 104, 106 - 108 SGG betraut worden; LSG-Rat K sei am 1. November 1954 aus dem Senat ausgeschieden.

II.

1.) Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt; sie ist auch rechtzeitig begründet. Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, da das Verfahren des Landessozialgerichts an wesentlichen Mängeln leidet.

a) Die Anfrage, die LSG-Rat P am 8. Januar 1955 fernmündlich an den Gutachter Dr. P gerichtet hat, ist eine Maßnahme zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung im Sinne von § 106 Abs. 2 SGG gewesen, die der Berichterstatter für notwendig gehalten hat. Hierbei ist aber nicht beachtet worden, daß vom Berichterstatter solche Maßnahmen nur getroffen werden können, wenn ihm nach § 155 SGG die Aufgaben aus § 106 SGG ausdrücklich übertragen sind. Das ist hier nicht der Fall gewesen. Zwar hat der Vorsitzende des Senats durch Verfügung vom 18. Mai 1954 den LSG-Rat K unter Übertragung der "Rechte aus § 155 Satz 1 SGG" zum Berichterstatter bestimmt; aus den Akten ist aber nicht ersichtlich, daß später LSG-Rat P, der nicht etwa Vertreter des LSG-Rats K gewesen ist, zum Berichterstatter bestimmt worden ist und daß auch ihm die Befugnisse aus § 106 SGG übertragen worden sind. Eine solche Übertragung kann nicht etwa mündlich erfolgen; sie muß vielmehr für die einzelne Streitsache in den Akten dieser Sache schriftlich festgelegt werden. LSG-Rat P ist deshalb nicht berechtigt gewesen, Maßnahmen im Sinne des § 106 Abs. 2 SGG zu treffen. Dieser Mangel ist auch gerügt worden.

Die Rüge ist darin zu erblicken, daß die Klägerin erklärt hat, es sei nirgends vorgesehen, daß ein Berichterstatter "nach eigenem Ermessen eine Beweisaufnahme anordnen und durchführen könne".

b) Die fernmündliche Anfrage bei Dr. P hat dazu gedient, den Widerspruch zwischen dem Gutachten vom 24. Juli 1953 und dem Schreiben an Dr. med. K vom 13. Mai 1953 aufzuklären. Sie ist eine Zeugenvernehmung gewesen, soweit es sich darum gehandelt hat, festzustellen, wie das Schreiben an Dr. K zustande gekommen ist; sie ist eine Sachverständigenvernehmung gewesen, soweit es sich dabei um die Richtigkeit des Gutachtens vom 24. Juli 1953 gehandelt hat. Sowohl Zeugen- wie Sachverständigenvernehmungen können nach dem Sozialgerichtsgesetz mündlich oder schriftlich erfolgen; erfolgen sie mündlich, so hat der Zeuge oder Sachverständige seine Angaben vor dem zuständigen Richter zu Protokoll zu machen; erfolgen sie schriftlich, so hat er seine Angaben niederzuschreiben, zu unterzeichnen und dem Gericht einzureichen (§§ 106 Abs. 4, 117, 118 Abs. 1 SGG, 160 Abs. 2 und 3, 377 Abs. 3 und 4, 394 - 397, 402, 411 ZPO). Die fernmündliche Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen ist dagegen dem Sozialgerichtsgesetz nicht bekannt; sie ist mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (vgl. dazu die Urteile des BGH vom 29.1.1955, NJW 1955 S. 671, und des BVerwG vom 4.11.1955, NJW 1956 S. 236), von dem auch das sozialgerichtliche Verfahren ausgeht und von dem nur in den gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Fällen Ausnahmen gemacht werden können, nicht vereinbar und deshalb unzulässig.

Die Meinung der Beklagten, die fernmündliche Anhörung des Dr. P sei als Einholung einer "Auskunft" nach § 106 Abs. 3 Nr. 3 SGG zulässig gewesen, trifft nicht zu. Zwar kann nach dieser Vorschrift der Vorsitzende des Senats oder der Richter, dem die Aufgaben des § 106 SGG übertragen sind, nicht nur von Behörden, sondern auch von Privatpersonen "Auskünfte jeder Art" einholen; eine "Auskunft" ist nicht nur die Erklärung einer Behörde, sondern auch die Erklärung einer Privatperson (ebenso Peters-Sautter-Wolff a. a. O. Anm. 3 b unter cc zu § 106 SGG); insoweit gelten für das sozialgerichtliche Verfahren die gleichen Grundsätze wie im Zivilprozeß; auch dort kann der Vorsitzende oder ein von ihm zu bestimmendes Mitglied des Prozeßgerichts schon vor der mündlichen Verhandlung u. a. sowohl von Behörden wie von Privatpersonen Auskünfte einholen (§§ 272 b Abs. 2 Nr. 4, 377 Abs. 3 und 4 ZPO); ein Unterschied besteht nur insofern, als im Zivilprozeß die Einholung von Auskünften bei Privatpersonen durch die Vorschriften der §§ 272 b Abs. 2 Nr. 4 in Verbindung mit § 377 Abs. 3 und 4 ZPO eingeschränkt ist, während für das sozialgerichtliche Verfahren eine solche Einschränkung nicht vorgesehen ist. Eine Einschränkung dieser Möglichkeit läßt sich für das sozialgerichtliche Verfahren auch nicht aus § 106 Abs. 3 Nr. 4 SGG herleiten; diese Vorschrift bezieht sich nur auf die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen durch den ersuchten Richter; es kann aus ihr nicht gefolgert werden, daß es untersagt sei, von diesen Personen Auskünfte einzuholen. Was indes durch § 106 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht zugelassen ist, ist die fernmündliche Einholung von "Auskünften" bei Zeugen oder Sachverständigen, die sich auf den Inhalt ihrer Aussagen oder Gutachten beziehen. Dies ergibt sich daraus, daß eine solche "Auskunft", die von einem Zeugen oder Sachverständigen eingeholt wird, ihrem Gehalt nach eine Erklärung als Zeuge oder Sachverständiger darstellt; eine solche Erklärung kann aber, wie bereits dargelegt ist, nur mündlich oder schriftlich, nicht aber fernmündlich abgegeben werden; nur die Erklärung zu Protokoll und die schriftliche Erklärung bieten die Gewähr dafür, daß sie so festgehalten sind, wie dies im Interesse der Sorgfalt der Beweisaufnahme erforderlich ist. Die fernmündliche Anhörung des Dr. P findet hiernach in dem Hinweis auf § 106 Abs. 1 Nr. 3 SGG keine verfahrensrechtliche Stütze. Auch dieser Mangel des Verfahrens ist gerügt. Der Mangel ist nicht etwa dadurch geheilt worden, daß der Aktenvermerk des LSG-Rats P in der mündlichen Verhandlung verlesen worden ist; durch diese Verlesung haben die Beteiligten lediglich das Beweisergebnis erfahren; die Unzulässigkeit des Verfahrens bei der Beweisaufnahme ist aber durch die Verlesung des Aktenvermerks nicht beseitigt worden.

2. Der Einwand der Beklagten, die Revision sei unzulässig, weil die Klägerin in ihrer Begründung entgegen der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht die Beweismittel für die Verfahrensmängel bezeichnet habe, geht fehl. Bei Verfahrensrügen sind Beweismittel nur dann anzugeben, wenn zur Beurteilung der Frage, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, eine Beweisaufnahme erforderlich ist. Ergibt sich aber so wie hier der Verfahrensverstoß unmittelbar aus den Akten, dann bedarf es nur der Angabe der diesbezüglichen Tatsachen, nicht aber der Bezeichnung besonderer Beweismittel; die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensverstoß ergibt, sind im vorliegenden Fall von der Klägerin in der Revisionsbegründung vorgetragen worden; ihre Revision ist deshalb zulässig.

3.) Die Revision ist auch begründet. Zwischen der Verletzung der §§ 155, 106 und 107 SGG und der Entscheidung besteht ein ursächlicher Zusammenhang im Sinne von § 162 Abs. 2 SGG. Dieser Zusammenhang ist gegeben, weil die Möglichkeit besteht, daß das Landessozialgericht anders entschieden hätte, wenn es die verfahrensrechtlichen Bestimmungen richtig angewandt hätte (vgl. Haueisen, NJW 1955 S. 1859 unter IV 2, ebenso für § 549 ZPO Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 6. Auflage S. 664; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 23. Aufl. Anm. 2 A zu § 549, Stein-Jonas, ZPO, 18. Aufl. Anm. VI zu § 549 und RGZ Bd. 57 S. 330 ff, Band 68 S. 130 ff und Band 136 S. 299 ff). Das Urteil des Landessozialgerichts ist daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Gleichzeitig ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG); das Bundessozialgericht selbst kann nicht entscheiden, da nicht vorherzusehen ist, zu welchem Ergebnis die ordnungsmäßige Vernehmung des Sachverständigen Dr. P führen wird.

4.) Über die Kosten des Verfahrens hat das Landessozialgericht in seinem Schlußurteil zu entscheiden.

 

Fundstellen

NJW 1957, 119

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