Leitsatz (amtlich)
Ein anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege im Sinne des RVO § 205 besteht insoweit nicht, als die in Frage kommende gesetzliche Regelung die Gewährung ganzer Leistungsarten ausschließt.
Ein Versicherter hatte daher bei einem Versicherungsfall seiner Ehefrau, die während der Geltungsdauer der KVdRV vom 1941-11-04 selbst dieser Versicherung angehörte, aus der Familienhilfe einen Anspruch auf die Zahlung eines Zuschusses für Zahnersatz.
Normenkette
RVO § 205 Fassung: 1933-03-01; KVdRV § 9; RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Juni 1959 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Kläger ist in der knappschaftlichen Krankenversicherung bei der Beklagten pflichtversichert. Bei seiner Ehefrau, die auf Grund eigener Versicherung der Rentnerkrankenversicherung angehört, stellte sich Ende 1955 die Notwendigkeit von Zahnersatz heraus. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf einen Zuschuß zu den Kosten dieses Zahnersatzes im Rahmen der Familienhilfe ab, da dessen Ehefrau einen eigenen gesetzlichen Anspruch auf Leistungen aus der Krankenversicherung der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Recklinghausen habe und deshalb Leistungen im Rahmen der Familienhilfe nicht in Frage kämen, obwohl die Krankenversicherung der Rentner keinen Einspruch auf Barleistungen kenne.
Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht (SG) in Münster hatte der Kläger Erfolg; die von der Beklagten eingelegte Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch das angefochtene Urteil vom 2. Juni 1959 zurückgewiesen.
Das LSG hält den Anspruch des Klägers auf Zuschußgewährung im wesentlichen aus folgenden Gründen für berechtigt:
Nach den auf § 20 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) in Verbindung mit § 205 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützten Satzungsvorschriften (§§ 28 Abs. 2 und 3, 36 Abs. 1 und 6 der Satzung der Ruhrknappschaft) bestehe ein Anspruch auf Beteiligung an den Kosten eines bei der unterhaltsberechtigten Ehefrau eines Versicherten notwendig gewordenen Zahnersatzes, sofern diese sich im Inland aufhalte und nicht anderweitig einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege habe. Wenn auch der nach der Satzung zu gewährende Zuschuß an sich eine Ermessensleistung darstelle, so bestehe in einem Falle wie dem vorliegenden - der gesamte Oberkiefer der Ehefrau des Klägers sei nach dem ärztlichen Gutachten zahnlos - kein Ermessensspielraum, so daß das sachgemäße Ermessen allein in der Richtung einer Zuschußgewährung ausgeübt werden könne; es sei daher hinsichtlich der Klagemöglichkeiten mit einem unbedingten Anspruch gleichzusetzen.
Alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Zuschußgewährung seien erfüllt, insbesondere habe die Ehefrau des Klägers, was allein streitig sei, keinen anderweitigen Anspruch auf Krankenpflege, der die Familienkrankenhilfe im vorliegenden Falle ausschließe. Wenn die Ehefrau auch der Rentnerkrankenversicherung angehöre und somit selbst gegen Krankheit versichert sei, so sei doch nach der Verordnung über die Krankenversicherung der Rentner vom 4. November 1941 die Gewährung Zuschusses nicht möglich, da § 9 aaO ausdrücklich Barleistungen - abgesehen vom Sterbegeld - im Rahmen der Rentnerkrankenversicherung überhaupt ausschließe und die Ehefrau des Klägers auch keine (nach § 13 Abs. 1 aaO mögliche) Zusatzversicherung, die die Zahlung eines derartigen Zuschusses gestatte, abgeschlossen habe; wenn jene einschränkenden Vorschriften auch gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 Satz 2 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Rentner vom 12. Juni 19156 schon am 1. August 1956 außer Kraft getreten seien, so müßten sie im vorliegenden Falle doch noch angewandt werden, da der Versicherungsfall bereits im Dezember 1955 eingetreten sei.
Da die Krankenversicherung der Rentner der Ehefrau des Klägers somit keinen vollwertigen Schutz biete, kenne auch nicht gesagt werden, daß ihr ein anderweitiger Anspruch auf Krankenpflege im Sinne des § 205 RVO zustehe.
Auch wenn man mit dem Reichsarbeitsminister (Erlaß vom 14. Dezember 1940, AN 1941 II, 11) davon ausgehe, daß ein die Familienkrankenhilfe ausschließender anderweitiger Anspruch auf Krankenpflege bereits dann gegeben sei, wenn die auf letzterem beruhenden Leistungen sich nicht vollinhaltlich mit der durch die gesetzliche Krankenversicherung gewährleisteten Krankenpflege deckten, so gelte dies doch nur dann, wenn alle vorgesehenen Leistungsarten, nenn auch nicht vollinhaltlich, gewährleistet seien, nicht aber auch dann, wenn irgendeine Leistungsart - wie hier die Barleistungen - überhaupt ausgeschlossen sei. Dem widerspreche auch nicht etwa der Grundsatz der "Unteilbarkeit" des Leistungsanspruchs; denn in vorliegenden Falle werde gar keine Leistung der Rentnerkrankenversicherung ausgeschlagen, um dadurch eine andere höhere Leistung seitens der Beklagten zu erhalten.
Gegen das am 30. Oktober 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21. November 1959 die zugelassene Revision eingelegt und sie am 23. Dezember 1959 begründet. Sie rügt eine Verletzung des § 205 RVO. Die Mitgliedschaft zur Krankenversicherung der Rentner schließe eine Familienhilfe nach § 205 Abs. 1 RVO auch zur Zeit der Gültigkeit der Verordnung vom 4. November 1941 aus. Auch wenn keine Barleistungen außer Sterbegeld gewährt würden und sich daher die Leistungen aus der Rentnerkrankenversicherung mit denen der Familienkrankenpflege nicht vollinhaltlich deckten, stehe der Ehefrau des Klägers doch ihrer Krankenversicherung gegenüber der gesetzliche Anspruch auf Krankenpflege im Sinne des § 205 RVO zu; dieser Anspruch sei unteilbar.
Die Ehefrau des Klägers hätte zudem über die Zusatzversicherung sogar die Möglichkeit gehabt, sich die begehr Leistungen zu sichern.
Die Beklagte beantragt, die Klage unter Aufhebung des Urteils des SG Münster vom 2. August 1954 und des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. Juni 1959 abzuweisen.
Der Kläger beantragt kostenpflichtige Zurückweisung der Revision. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung eingelegt und begründet worden; sie ist vom LSG zugelassen und daher statthaft. Sie ist jedoch nicht begründet.
Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - Angriffe gegen die getroffenen Feststellungen und die diesbezüglichen rechtlichen Darlegungen sind auch von der Beklagten mit ihrer Revision nicht vorgebracht -, war die Ehefrau des Klägers in dem für die Zuschußzahlung in Betracht kommenden Zeitpunkt (Ende Dezember des Jahres 1955) ihren Ehemann gegenüber unterhaltsberechtigt und hielt sich im Inland auf. Der völlig zahnlose Zustand des Oberkiefers verpflichtete daher die Beklagte nach § 205 RVO zu einer Zuschußgewährung, falls die Ehefrau des Klägers auf Grund ihrer eigenen Zugehörigkeit zur Rentnerkrankenversicherung nicht einen eigenen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege hatte. Grundsätzlich stand ihr ein solcher eigener. Anspruch zu; doch war nach der damals gültigen gesetzlichen Regelung (§ 9 der VO über die Krankenversicherung der Rentner vom 4. November 1941) die Gewährung von Barleistungen an den Versicherten ausdrücklich ausgeschlossen. In der Frage, ob ein erkrankter Familienangehöriger eines Versicherten über die Familienkrankenhilfe Leistungen erhalten kann, die ihm seine eigene gesetzliche Krankenversicherung nicht in demselben Ausmaß bzw. derselben Höhe gewährt, ist grundsätzlich auch heute noch die von dem früheren Reichsarbeitsminister in seinem Erlaß vom 14. Dezember 1940 (AN 1941, 11) vertretene Auffassung zu billigen, daß die Familienkrankenhilfe nicht erst dann entfalle, wenn der Familienangehörige einen eigenen, sich vollinhaltlich mit den auf der Familienkrankenhilfe beruhenden Leistungen deckenden Anspruch habe, sondern auch schon dann, wenn jene Leistungen geringer seien. Diese Ansicht wird getragen von dem anerkannten Grundsatz der "Unteilbarkeit der Leistungen" in der Krankenversicherung, der nicht zuläßt, daß für einen aus verschiedenen versicherungsrechtlichen Beziehungen Berechtigten Ansprüche jeweils dort erhoben werden, wo dies für die einzelne in Frage kommende Leistung am günstigsten erscheint, sei es in der Form der tatsächlichen Aufteilung zwischen der Leistung der primär verpflichteten Kasse und dem Mehrbetrag bei der anderen, sei es in der Form eines irgendwie gearteter Verzichts gegenüber ersterer, um die höhere Leistung insgesamt von der zweiten Kasse zu erhalten.
Diese auf der Einheit des Versicherungsfalles beruhende Unteilbarkeit der Leistungen erscheint gerade in dem hier bislang erörterten Bereich der Krankenversicherung auch allein billig und sinnvoll, da nur dadurch etwaige Doppelleistungen und ungerechtfertigte Besserstellungen vermieden werden können, die sonst durch das Abschöpfen der jeweilig günstigsten Regelung entstehen müßten. Gerade der Umstand, daß die gesetzliche Regelung den einzelnen Krankenvorsicherungsträgern in erheblichem Umfang Raum zur eigenen Regelung zusätzlicher Leistungen läßt mit der Folge, daß bei den verschiedenen Kassen das Gewicht und der Schwerpunkt jener Leistungen - den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend - durchaus unterschiedlich gelagert sein kann, zwingt dazu, die Gesamtheit aller von der Kasse für den Versicherungsfall vorgesehenen Leistungen als eine Einheit zu betrachten, die nicht im Eigeninteresse des Versicherten zerlegbar ist.
Dieser Grundsatz ist jedoch dann nicht mehr anzuerkennen, wenn durch eine Maßnahme des Gesetzgebers jene in sich abgeschlossene, dem einzelnen Versicherungsfall nach Auffassung der verantwortlichen Organe der Krankenkasse für ihren Bereich am zweckmäßigsten entsprechende Regelung verhindert wird. Dies aber war bei der Krankenversicherung der Rentner bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vom 12. Juni 1956, d.h. bis zum 1. August 1956, der Fall, da diese sich auf Sachleistungen beschränkte - das den Hinterbliebenen des Versicherten zufließende Sterbegeld kann bei dieser Betrachtung unberücksichtigt bleiben - und demnach nur eine "Teilversicherung" darstellte, die auch durch den Versicherungsträger nicht zu einer die Risiken voll deckenden Versicherung umgestaltet werden konnte. Gerade der Umstand, daß gesetzlich die im Grundsatz in den Rahmen einer gesetzlichen Pflichtversicherung nickt hineinpassende Möglichkeit einer freiwilligen Zusatzversicherung zur Deckung jenes nicht miterfaßten Barleistungsrisikos vorgesehen und von der AOK Recklinghausen auch eingerichtet war, zeigt im Gegensatz zu der Auffassung der Revision, daß dem Gesetzgeber die Unvollständigkeit des von ihm auf die Sachleistungen beschränkten Versicherungsschutzes durchaus bekannt war.
Der Einwand, die Ehefrau des Klägers hätte eine solche Zusatzversicherung eingehen können, scheitert schon daran, daß es sich dabei um eine nicht dem Kläger selbst, sondern allein seiner Ehefrau zustehende Berechtigung handelt, auf deren Ausübung ihn jeder rechtliche Einfluß fehlt und auf die er daher nicht verwiesen werden kann.
Durch die Regelung des § 205 RVO soll der Versicherte von der ihm sonst auf Grund seiner Unterhaltspflicht gegenüber seinen Familienangehörigen obliegenden Übernahme der Kosten für deren Erkrankung entlastet werden; diese Entlastung wäre nur unvollkommen, wenn sie in den Fällen nicht einträte, in denen der Anspruch der Angehörigen auf anderweite Krankenpflege gesetzlich ausdrücklich auf bestimmte Leistungsarten beschränkt ist. Anders als bei einen sämtliche Leistungsarten, wenn auch möglicherweise nach anderen Regeln als bei der Krankenkasse des Versicherten, vorsehenden gesetzlichen Krankenpflegeanspruch des Familienangehörigen muß daher in Fällen wie dem vorliegenden die Familienkrankenhilfe jedenfalls insoweit gewährt werden, als bestimmte Leistungsarten überhaupt ausgeschlossen sind (so auch WzS 1953, 153; Aye, WzS 1953, 115; Peters, Anm. 2 e zu § 205 RVO (S. 232 - 1); vgl. auch Albrecht, KrV 1957, 189).
Diese Auslegung ist auch mit dem Wortlaut des § 205 RVO zu verneinen. Wenn im Gesetz nicht gesagt ist, "soweit", sondern "wenn ein anderweitiger Anspruch nicht besteht", so ist damit jedenfalls grundsätzlich klargestellt, daß Ansprüche, die nur ein größeres Ausmaß oder eine längere Bezugszeit der Leistungen betreffen, nicht auf die Familienhilfe abzuwälzen sind. Mit diesem Wortlaut und Sinn der Vorschrift ist es aber nicht unvereinbar, ihre Anwendbarkeit auf die Fälle zu beschränken, bei denen der anderweitige Anspruch auf Krankenpflege alle Arten von Leistungen der Krankenpflege im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 RVO umfaßt.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen