Leitsatz (amtlich)
Zur Ermittlung des angemessenen Unterhalts zur Zeit der Scheidung (EheG § 58 Abs 1 Halbs 1) sind, wenn beide Ehegatten Einkünfte gehabt haben, die Nettoeinkünfte zusammenzurechnen; als angemessener Unterhalt der geschiedenen Frau ist in der Regel ein Betrag in Höhe von 1/3 - 3/7 dieses Gesamteinkommens anzusetzen.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 S. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 58 Abs. 1 Hs. 1 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. Juli 1969 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die 1912 geborene Klägerin begehrt eine Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Ihre im Juli 1942 geschlossene Ehe mit dem 1909 geborenen Versicherten wurde am 8. Dezember 1964 aus dessen Verschulden geschieden. Das Urteil wurde am 3. Februar 1965 rechtskräftig. Aus der Ehe ging eine 1946 geborene Tochter hervor. Der Versicherte, der nicht wieder geheiratet hatte, starb am 8. April 1965, vermutlich durch einen Unglücksfall.
Der Versicherte, der von 1948 bis 1959 im Beamtenverhältnis stand (Amtmann und Sparkassenleiter nach Besoldungsgruppe A 11) war seit 1961 als Buchhalter tätig, von April 1964 bis Februar 1965 bei einer Spar- und Kreditbank; sein monatliches Nettoeinkommen betrug nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) zur Zeit der Scheidung zumindest etwa 600,- DM. Ob er auch noch anschließend bis zu seinem Tode gegen Entgelt beschäftigt war, konnte nicht festgestellt werden.
Die Klägerin, die keinen Beruf erlernt hat, versorgte in den Jahren 1964/65 und auch nach der Scheidung den eigenen Haushalt; als Miterbin hatte sie Einkünfte aus Grundbesitz, die nach den Feststellungen des LSG in den Jahren 1964, 1965 etwa 250,- DM monatlich ausmachten. Die damals als Arzthelferin tätige Tochter kam für ihren Unterhalt selbst auf. Die Klägerin erhob im April 1965 eine Unterhaltsklage, nahm sie aber nach dem Tod des Versicherten zurück. Ihr Antrag auf Hinterbliebenenrente wurde mit Bescheid der Beklagten vom 10. November 1965 abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 42 AVG nicht erfüllt seien. Ihre Klage hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg.
Das LSG wies die Berufung der Beklagten zurück: Die Frage, ob der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zu leisten hatte, sei zu bejahen. Der im Zeitpunkt der Ehescheidung bestehende wirtschaftliche Dauerzustand habe sich bis zum Tod des Versicherten nicht geändert. Der angemessene Unterhaltsbedarf der Klägerin bei bestehender Ehe - aber auch im Zeitpunkt des Todes des Versicherten - habe 320,- DM monatlich betragen. Dieser Betrag ergebe sich daraus, daß den eigenen Einkünften der Klägerin (250,- DM) mindestens 1/5 des Mehrverdienstes des Versicherten (600,- DM minus 250,- DM = 350,- DM), also 70,- DM monatlich zuzurechnen seien. Diesen Betrag hätte der Versicherte nach § 58 Abs. 1 EheG zu leisten gehabt, da der Klägerin eine Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten gewesen sei; er habe mehr als 25 v. H. des zeitlichen und örtlich notwendigen Mindestbedarfs ausgemacht und sei daher als Unterhalt anzusehen.
Die Beklagte legte frist- und formgerecht die vom LSG zugelassene Revision ein mit dem Antrag,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügte eine Verletzung des § 42 AVG i. V. m. § 58 Abs. 1 EheG. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom 28. November 1963 - 12 RJ 98/62 - SozR Nr. 16 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) stehe der geschiedenen Frau je nach den Besonderheiten des Einzelfalles 1/3 bis 1/4 des Nettoeinkommens des Mannes unter voller Anrechnung ihres eigenen Einkommens als angemessener Unterhalt zu. Das LSG sei irrigerweise von der Annahme ausgegangen, in jenem vom BSG entschiedenen Fall habe die Ehefrau kein eigenes Einkommen gehabt. Der Klägerin hätten somit nur 1/3 von 600,- DM, also 200,- DM, zugestanden, dem ihr eigenes Einkommen von 250,- DM gegenüberzustellen sei; hiernach sei sie nicht unterhaltsbedürftig gewesen.
Die Klägerin beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision ist unbegründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Hinterbliebenenrente.
Der Klageanspruch, der aus einem Versicherungsfall im April 1965 hergeleitet wird, ist nach § 42 AVG zu beurteilen. Von den verschiedenen - alternativ erfüllbaren - Anspruchsvoraussetzungen dieser Vorschrift kommt im vorliegenden Fall nur die erste Alternative von Satz 1 in Betracht. Die anderen Alternativen scheiden nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG - die mit der Revision nicht angegriffen und deshalb für das Revisionsgericht bindend sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - von vornherein aus. Die Entscheidung hängt somit allein davon ab, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten hatte.
Mit der "Zeit seines Todes" im Sinne von § 42 Satz 1 AVG ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tod des Versicherten zu verstehen (SozR Nr. 22 zu § 1265 RVO). Das LSG ist der Meinung, daß sich im vorliegenden Fall, in dem der Versicherte wenige Monate nach der Scheidung gestorben ist, in den Verhältnissen der geschiedenen Eheleute vor dem Tode des Versicherten noch kein "wirtschaftlicher Dauerzustand" entwickelt hat. Es hat die wirtschaftlichen Verhältnisse zur Zeit der Scheidung zugrunde gelegt, weil sie sich ohne den Tod des Versicherten vermutlich nicht verändert hätten und weil insbesondere auch der Versicherte vermutlich in Kürze wieder eine gleich oder ähnlich bezahlte Arbeit aufgenommen hätte. Hiergegen sind keine Bedenken zu erheben (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 15.2.1966, SozR Nr. 32 zu § 1265 RVO). Es ist deshalb unerheblich, daß der Versicherte am 28. Februar 1965, also nach der Scheidung (3. Februar 1965), aus seiner damaligen Stellung ausgeschieden ist und nicht hat festgestellt werden können, ob er in der kurzen Zeit bis zu seinem Tode noch eine andere entgeltliche Beschäftigung aufgenommen hat. Ist jedoch - wie hier - der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tod des Versicherten mit den im Zeitpunkt der Ehescheidung bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten identisch, dann hat entgegen der Meinung der Beklagten ein Unterhaltsanspruch der Klägerin nach den Vorschriften des EheG bestanden.
Nach § 58 Abs. 1 EheG hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen. Der angemessene Unterhalt wird durch die Lebensverhältnisse der früheren Ehegatten zur Zeit der Scheidung bestimmt. Dabei ist auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand während der Ehe abzustellen (vgl. SozR Nr. 16 zu § 1265 RVO). Wie der angemessene Unterhalt zu errechnen ist, läßt das Gesetz offen; die Beantwortung dieser Frage hängt von den Umständen des einzelnen Falles ab. Im Interesse der Rechtssicherheit und zur Gewährleistung einer möglichst einheitlichen Rechtsprechung im Unterhaltsrecht haben aber die Zivilgerichte wie auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit immer nach Richtlinien gesucht, die wenigstens für Regelfälle gültig sind (vgl. etwa die "Hamburger Formel" und die "Düsseldorfer Richtsätze"; Millauer und Pabst in NJW 1967, 1061 und 2248 sowie Rassow in FamRZ 1969, 515). Solche Richtlinien sind als "Orientierungshilfen" und "Anhaltspunkte" zur Gleichbehandlung gleichliegender Fälle und damit aus Gründen der Gerechtigkeit unentbehrlich; sie stehen dem Gesetz nicht entgegen, weil sie nicht schematisch (vgl. Hoffmann/Stephan, § 58 EheG, Anm. 35) sondern immer nur unter dem Vorbehalt einer Abweichung bei Besonderheiten des Einzelfalles angewendet werden dürfen (vgl. Rassow aaO). In diesem Sinne sind auch die nachstehenden Erwägungen über die hier maßgeblichen Richtlinien zu verstehen.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Lebenszuschnitt von Ehegatten, wenn beide Einkommen haben, in aller Regel durch die Einkünfte des Mannes und der Frau bestimmt wird. Der erkennende Senat stimmt dem zu; auch nach seiner Meinung ist es in solchen Fällen regelmäßig so, daß die Eheleute den Lebensunterhalt der Familie aus ihren beiderseitigen Einkünften bestreiten. Dann ist es aber auch nur folgerichtig, den angemessenen Unterhalt eines Ehepartners auf Grund beider Einkünfte zu bestimmen. Dabei erscheint es allerdings nicht angebracht, wie es das LSG getan hat den Unterhaltsanspruch des geringer verdienenden Ehepartners aus dem Mehrverdienst des anderen zu errechnen; dem Wesen der Ehe wie auch der Gleichberechtigung der Ehegatten (Art. 3 des Grundgesetzes - GG -) entspricht es vielmehr, bei Prüfung des angemessenen Unterhalts die Einkünfte zusammenzurechnen und jedem Ehegatten den für ihn angemessenen Teil dieses Gesamtbetrages zuzuweisen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß § 58 Abs. 1 EheG Unterhaltsansprüche nach Auflösung der Ehe betrifft; es handelt sich jedoch insoweit um Nachwirkungen der Ehe, die sich noch an den ehelichen Lebensverhältnissen orientieren. Auch das Urteil des 12. Senats vom 28. November 1963 - 12 RJ 98/62 - (SozR Nr. 16 zu § 1265 RVO) steht dieser Auffassung nicht entgegen, weil in jenem Fall zur Zeit der Ehescheidung nur der Mann ein Einkommen gehabt hat und die Ehefrau erst einige Monate später eine Halbtagsbeschäftigung aufgenommen hat. Der zu jenem Urteil ergangene Leitsatz, daß in der Regel 1/3 bis 1/4 des Nettoeinkommens des Mannes zur Zeit der Scheidung als angemessener Unterhalt der Frau anzusehen sei, setzt deshalb auch voraus, daß im Zeitpunkt der Scheidung nur der für schuldig erklärte Mann Einkünfte hatte.
Für die Zusammenrechnung der beiderseitigen Einkünfte sind die Nettoeinkommen der Ehegatten anzusetzen, in der Regel also die Beträge, die nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben übrig bleiben. Auch das LSG ist hiervon ausgegangen. Nach seinen Feststellungen betrug das monatliche Bruttoeinkommen des Versicherten im Zeitpunkt der Scheidung 730,- DM; dementsprechend legte es ein Nettoeinkommen von "zumindest etwa 600,- DM" zugrunde. Die Revision hat das nicht beanstandet. Die damaligen Einkünfte der Klägerin aus eigenem Grundbesitz hat das LSG unter Berücksichtigung des Mietwertes der von den Eheleuten bewohnten Wohnung und von Rücklagen für bauliche Erneuerungen "mit etwa 250,- DM monatlich" bewertet; auch diese tatsächliche Feststellung ist von der Revision nicht angegriffen. Sie hat sich auch nicht gegen die Feststellung gewandt, der Klägerin sei bei dem Lebenszuschnitt ihrer Ehe, bei ihrem Gesundheitszustand und weil sie keinen Beruf erlernt habe, eine Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten gewesen. Somit ist hier für die Errechnung eines angemessenen Unterhalts der Klägerin von einem Gesamteinkommen in Höhe von 850,- DM auszugehen.
Bei der Aufteilung dieses Gesamteinkommens würde der grundsätzlichen Gleichberechtigung der Ehegatten an sich am ehesten die Halbierung entsprechen. Eine solche schematische Aufteilung würde jedoch den unterschiedlichen Verhältnissen, unter denen die Geschiedenen leben, arbeiten und Einkünfte beziehen, nicht gerecht; sie würde auch den Arbeitswillen des Mehrverdienenden beeinträchtigen. Bei der Höhe des angemessenen Anteils darf nicht übersehen werden, daß nicht Unterhaltsansprüche während bestehender, sondern solche nach aufgelöster Ehe zu beurteilen sind. Auch ist zu berücksichtigen, daß die Klägerin hier einen geringeren finanziellen Unterhaltsbedarf gehabt hat als der Versicherte, weil sie nicht berufstätig gewesen ist und weil sie ihre Kleidung, ihre Wäsche und ihren Haushalt selbst hat versorgen können. Es entspricht einer allgemeinen Erfahrung, daß sich eine alleinstehende Frau, wenn sie nicht berufstätig ist, in der Regel mit geringerem Aufwand selbst versorgen kann als ein alleinstehender, berufstätiger Mann; ihr angemessener Unterhaltsbedarf ist darum in der Regel niedriger anzusetzen. Nach der Auffassung des Senats ist deshalb als angemessener Unterhalt der geschiedenen Frau nach § 58 EheG in vergleichbaren Fällen entsprechend den Besonderheiten des Einzelfalles - in der Regel ein Betrag in Höhe von 1/3 bis 3/7 des Gesamteinkommens anzusetzen. Der Anteil der Frau am Gesamteinkommen wird dabei umso höher anzusetzen sein, je bescheidener ihre eigenen Einkünfte sind, insbesondere dann, wenn ihr Einkommen die Regelsätze der Sozialhilfe nicht übersteigt. Das braucht hier jedoch nicht näher erörtert zu werden. Im vorliegenden Fall erscheint es bei Berücksichtigung dieser "Anhaltspunkte" und der in der Rechtsprechung des BSG entwickelten Grundsätze (vgl. SozR Nr. 16, 28, 42 (Aa 48 R), 45, 47 und 52 zu § 1265 RVO sowie die Urteile vom 22. November 1968 - 11 (12) RJ 328/67 - und vom 15. Juli 1969 - 1 RA 245/68 -) jedenfalls angebracht, der Klägerin 2/5 des Gesamteinkommens als angemessenen Unterhalt zuzubilligen, also 340,- DM (850,- DM : 5 x 2). Auf diesen Betrag ist gemäß § 58 Abs. 1 EheG (letzter Satz) ihr eigenes Einkommen (250,- DM) anzurechnen, so daß der Unterhaltsanspruch der Klägerin nach § 58 EheG 90,- DM betragen hat (340,- DM minus 250,- DM). Umstände im Sinne des § 59 Abs. 1 EheG, die diesen Unterhaltsanspruch auf einen geringeren Betrag hätten mindern können, sind weder festgestellt noch vorgetragen. Die Summe von 90,- DM ist auch hoch genug, um als Unterhaltsleistung im Sinne von § 42 AVG angesehen werden zu können (vgl. BSG 22, 44, 47; SozR Nr. 49 zu § 1265 RVO).
Das LSG ist demnach zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß nach den Vorschriften des EheG zur Zeit des Todes des Versicherten ein Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen ihn bestanden hat. Da im vorliegenden Fall eine Witwenrente, d. h. Rente an eine zweite Frau, nicht zu gewähren ist, hätte die Klägerin ab 1. Juli 1965 im übrigen auch dann einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente gehabt, wenn eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten auf Grund des § 59 Abs. 1 EheG an seiner Leistungsfähigkeit gescheitert wäre (§ 42 Satz 2 AVG, der durch das RVÄndG vom 9. Juni 1965 angefügt worden ist und auch für Versicherungsfälle gilt, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind).
Die Revision der Beklagten ist daher unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen