Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehinderteneigenschaft. MdE. GdB. Gesamtbeurteilung. richterliche Sachkunde auf medizinischem Gebiet
Orientierungssatz
1. Zwar ist die Bewertung der MdE nicht die vordringliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen (vgl BSG vom 17.12.1975 2 RU 35/75 = BSGE 41, 99, 101 = SozR 2200 § 581 Nr 5). Wenn es indessen darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen (vgl BSG vom 15.3. 1979 9 RVs 16/78 = SozR 3870 § 3 Nr 5), sind ärztliche Beurteilungen unerläßlich, auch wenn ihnen bei der MdE-Schätzung keine bindende Wirkung zukommt. Sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage; das gilt insbesondere, wenn der Behinderte von Ärzten der verschiedenen Fachrichtungen - teilweise nur ganz kurzfristig - behandelt worden ist (Lungenfacharzt, Orthopäde, Psychiater, Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Nervenarzt) und die Befund- und Behandlungsberichte nicht aufeinander bezogen sind.
2. Im Berufungsurteil bedarf es einer eindeutigen Aussage darüber, welche Kompetenz dem LSG für seine auf medizinischem Gebiet liegende Beurteilung zukommt und worauf diese medizinische Sachkunde beruht (ständige Rechtsprechung des BSG).
3. Es liegt im Ermessen des Gerichts inwieweit auch für die Würdigung der Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf Arbeit, Beruf und Gesellschaft die Hinzuziehung von Fachleuten erforderlich ist. Insbesondere im Bereich der Auswirkungen im gesellschaftlichen Leben werden die Richter der Sozialgerichtsbarkeit mit der aus langjähriger Erfahrung gewonnenen Sachkunde den Tatbestand unter Auswertung einschlägiger Literatur beurteilen können.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs 1 S 1 Fassung: 1986-08-26, § 3 Abs 1 S 3 Fassung: 1986-08-26, § 4 Abs 3 Fassung: 1986-08-26; SGG §§ 103, 128 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 04.11.1985; Aktenzeichen L 3 Vs 55/84) |
SG Bremen (Entscheidung vom 28.08.1984; Aktenzeichen S 15 V 117/83) |
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger Schwerbehinderter ist.
Bei dem im Jahre 1943 geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt nach Einholung verschiedener Arztberichte eine chronische spastische Bronchitis mit Lungenfunktionsstörung sowie ein psycho-vegetatives Syndrom als Behinderung und den Grad der auf ihr beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 30 vH fest (Bescheide vom 15. Juni 1982 und 26. Januar 1983).
Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung ergänzender Befund- und Behandlungsberichte den Beklagten verurteilt, zusätzlich Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und des linken Schultergelenkes als weitere Behinderungen anzuerkennen und die Gesamt-MdE mit 50 vH festzustellen (Urteil vom 28. August 1984).
Der Beklagte hat Berufung, der Kläger Anschlußberufung eingelegt. Während der Beklagte beantragt hat, die MdE auf 40 vH herabzusetzen, hat der Kläger einen Beweisantrag gestellt mit dem Ziel, weitere Behinderungen anzuerkennen und die MdE auf 70 vH zu erhöhen.
Ohne weitere Beweiserhebung hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 4. November 1985 den Tenor teilweise neu gefaßt und als zusätzliche Behinderung festgestellt: "zeitweise auftretendes Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom bei Steil- bzw Schrägstellung der Hals- bzw Lendenwirbelsäule"; die Gesamt-MdE hat es wieder auf 40 vH ermäßigt und die Anschlußberufung des Klägers auch insoweit zurückgewiesen, als er statt des psycho-vegetativen Syndroms die Anerkennung einer hypochondrisch-depressiven Neurose sowie einer beidseitigen Schwerhörigkeit als Behinderungen begehrte. In den Entscheidungsgründen führt das LSG aus, die Behinderung durch die chronische spastische Bronchitis mit Lungenfunktionsstörung sei - abweichend vom SG - mit einer MdE um 30 vH angemessen bewertet. Die Aufzeichnungen der Allgemeinen Ortskrankenkasse sprächen ebenso wie die Arztberichte nicht für eine schwere Form der Lungenfunktionsstörung. Die Wirbelsäule zeige keine Verschleißerscheinungen, sondern nur eine Steilstellung mit geringer Funktionsbehinderung bei einer MdE um höchstens 10 vH. Die Schwerhörigkeit im Hochtonbereich rechne noch zur Normalhörigkeit und sei ohne Belang. Das anerkannte psycho-vegetative Syndrom bezeichne die Behinderung zutreffend; eine Neurose bestehe nicht. Zur Bildung der Gesamt-MdE genüge es, darauf hinzuweisen, daß die MdE-Grade nicht addiert werden dürften. Bei der Gesamtwürdigung müßten Vergleiche mit Gesundheitsschäden angestellt werden, für die es feste Anhaltspunkte gebe.
Der Kläger hat die - vom Senat zugelassene - Revision eingelegt; er rügt die Verletzung der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie die der §§ 1, 3 und 4 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG). Er ist der Ansicht, der vorliegende Streitfall sei dadurch gekennzeichnet, daß Behinderungen aus den verschiedensten medizinischen Fachbereichen zu beurteilen seien, ohne daß der Kläger auch nur einmal untersucht worden wäre. Mit Hilfe der vom LSG verwerteten Arztberichte und der Karteikarten der Allgemeinen Ortskrankenkasse ließen sich die bestehenden Behinderungen weder feststellen noch deren Ausmaß beurteilen. Das LSG habe ohne hinlängliche Begründung die Beweisanträge zur weiteren medizinischen Sachaufklärung übergangen.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 28. August 1984 zurückzuweisen, das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 28. August 1984 dahingehend zu ändern, daß der Beklagte verurteilt wird, zusätzlich zum Bescheid eine hypochondrisch-depressive Neurose mit psycho-vegetativen Störungen (statt eines psycho-vegetativen Syndroms) und eine beiderseitige Schwerhörigkeit als Behinderungen anzuerkennen und den Grad der Behinderung auf 70 vH festzustellen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Bremen zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen zu einer abschließenden Entscheidung in der Sache nicht aus, weil Sachaufklärung (§ 103 SGG) und Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) fehlerhaft sind. Das LSG hat die Feststellung und Bewertung der beim Kläger vorliegenden Behinderungen durch das SG abgeändert, ohne sich der notwendigen sachverständigen Unterstützung durch Fachärzte zu bedienen, und für seine auf medizinischem Gebiet liegende Beurteilung die eigene Kompetenz nicht belegt.
Der Senat hat in seinen Urteilen SozR 3870 § 3 Nrn 4 und 5 und in dem Urteil vom 27. Januar 1987 - 9a RVs 53/85 - ausgesprochen, daß für die Festlegung des MdE-Grades folgender Weg einzuschlagen ist: Nach § 3 Abs 1 und Abs 3 SchwbG sind die Auswirkungen der festgestellten Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit "in ihrer Gesamtheit" entsprechend § 30 Abs 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu bemessen. Liegen mehrere Behinderungen vor, ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Dies erfordert eine funktionale Betrachtungsweise. Sie geht dahin, in einer "Gesamtbeurteilung" zu bemessen, wie im Einzelfall die durch alle Störungen bedingten Funktionsausfälle, teilweise einander verstärkend, gemeinsam die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen (BSGE 48, 82 = SozR 3870 § 3 Nr 4). In Anlehnung an diese ständige Rechtsprechung des Senats hat der Gesetzgeber nunmehr in § 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF der Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes vom 26. August 1986 (BGBl I, 1421) bestimmt: "Behinderung iS dieses Gesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht". Zusätzlich ist in § 3 Abs 1 Satz 3 SchwbG ausgesprochen: "Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist die Gesamtauswirkung maßgeblich". Obwohl diese gesetzliche Neuregelung erst am 1. August 1986 in Kraft getreten ist (Art 10 des 1. Gesetzes zur Änderung des Schwerbehindertengesetzes vom 24. Juli 1986 -BGBl I 1110-), waren diese Rechtsgrundsätze nach der zuvor genannten Rechtsprechung des Senats schon bisher der allein maßgebliche Beurteilungsmaßstab für die Festsetzung der MdE.
Daran hat sich das LSG nicht gehalten. Es hat allein aus den verschiedenen Befundberichten der Ärzte, die in der Vergangenheit - zum Teil weit zurückliegend - den Kläger behandelt haben, und den dürftigen Aufzeichnungen der Krankenkasse weitreichende Schlüsse gezogen, für die ihm keine ausreichenden medizinischen Beweismittel zur Verfügung standen. Es hat den Kläger nicht untersuchen lassen, obwohl den Behandlungsberichten wenig über Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen auf beruflichem und gesellschaftlichem Gebiet zu entnehmen war. Über das Zusammenwirken der einzelnen Behinderungen und über ihre wechselseitige Einflußnahme war aus diesen Unterlagen auch nach den Gründen der angefochtenen Entscheidung gar kein Aufschluß zu gewinnen. Hierzu hätte es zunächst einer medizinischen Begutachtung bedurft. Zwar ist die Bewertung der MdE nicht die vordringliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen (BSGE 41, 99, 101 = SozR 2200 § 581 Nr 5). Wenn es indessen darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen (BSG SozR 3800 § 3 Nr 5), sind ärztliche Beurteilungen unerläßlich, auch wenn ihnen bei der MdE-Schätzung keine bindende Wirkung zukommt. Sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage; das gilt insbesondere, wenn der Behinderte von Ärzten der verschiedenen Fachrichtungen - teilweise nur ganz kurzfristig - behandelt worden ist (Lungenfacharzt, Orthopäde, Psychiater, Hals-Nasen-Ohrenarzt und Nervenarzt) und die Befund- und Behandlungsberichte nicht aufeinander bezogen sind.
Im übrigen hätte es im Berufungsurteil einer eindeutigen Aussage darüber bedurft, welche Kompetenz dem LSG für seine auf medizinischem Gebiet liegende Beurteilung zukommt und worauf diese medizinische Sachkunde beruht (BSG SozR Nr 33 zu § 103 SGG; BSGE 21, 230, 234 und seitdem st Rspr). Ausführungen darüber finden sich im Berufungsurteil letztlich nur zum Hörschaden. Zu der schwierigen Abgrenzung des neurasthenischen und psychovegetativen Syndroms von der hypochondrisch-depressiven Neurose, zu der Intensität der durch diese Krankheiten hervorgerufenen Funktionseinbußen, zu den Fragen der Dauer, der Behandlungsfähigkeit und insbesondere ihrer - eventuell verstärkenden - Auswirkung auf die sonstigen Behinderungen fehlt es an ausreichenden Feststellungen. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, hierzu einen Sachverständigen anzuhören, schon weil der Kläger nicht langjährig von einem behandelnden Arzt beobachtet worden ist, sondern die vorliegenden Befund- und Behandlungsberichte bei einem seit Jahren bekannten Krankheitsgeschehen nur Momentaufnahmen sind und das Geschehen nur punktuell erhellen.
Bei der noch notwendigen weiteren Sachaufklärung und Entscheidung sind sowohl der Unterschied zwischen Gesundheitsstörung und Behinderung (vgl zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des Senats vom 9. Oktober 1987 - 9a RVs 5/86) zu beachten, als auch der dadurch hervorgerufene Grad der Behinderung im Erwerbsleben - evtl unter Hinzuziehung geeigneter Fachleute - zu bewerten (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 581 Nr 22). Zusätzlich sind die Auswirkungen im gesellschaftlichen Leben in die Betrachtung einzubeziehen; in diesem Bereich werden die Richter der Sozialgerichtsbarkeit mit der aus langjähriger Erfahrung gewonnenen Sachkunde den Tatbestand unter Auswertung der einschlägigen Literatur selbst würdigen können.
Damit die "Gesamtschau" nachgeholt werden kann, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Auch die erst im Berufungsrechtszug vom Kläger geltend gemachte Behinderung ist zu berücksichtigen. Ob das Gericht den gestellten Beweisanträgen folgen wird, bleibt ihm samt der Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.
Fundstellen