Entscheidungsstichwort (Thema)
Abweichung. Anscheinsbeweis. Begründung. Durchschnittswert. Einzelleistungsvergleich. Fachgruppendurchschnitt. Grenzwert. Homogenität. Honorarkürzung. Kompensatorische Einsparung. Mehraufwand. offensichtliches Mißverhältnis. Praxisbesonderheit. Rentneranteil. Richtigstellung. statistische Vergleichsprüfung. Überschreitung. Unwirtschaftlichkeit. Vergleichsgruppe. Wirtschaftlichkeitsprüfung
Leitsatz (amtlich)
- Zur Berücksichtigung der besonderen Praxisumstände des Vertragsarztes bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit seiner Behandlungsweise nach der Methode des statistischen Kostenvergleichs (Fortführung von und Abgrenzung zu BSGE 62, 24 = SozR 2200 § 368n Nr 48).
- Zu den Begründungsanforderungen bei Honorarkürzungsbescheiden wegen unwirtschaftlicher Behandlungs- oder Verordnungsweise.
Normenkette
SGB V § 106; SGB X § 35 Abs. 1 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Urteil vom 24.06.1992; Aktenzeichen S 15 Ka 3203/91) |
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen zu 1) wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Juni 1992 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Mit den Honoraranforderungen aus ihrer allgemeinärztlichen Gemeinschaftspraxis überschritten die Klägerin und ihr 1993 verstorbener Ehemann bei den Primärkassenabrechnungen der Quartale I/1990 und III/1990 den Fachgruppendurchschnitt bei der Leistung nach Nr 10 des Bewertungsmaßstabs für kassenärztliche Leistungen (BMÄ) um 134 % bzw 126 %. Die Prüfungseinrichtungen werteten dies als unwirtschaftlich und kürzten die Gebührenansätze in beiden Quartalen bis auf eine Restüberschreitung von 60 %. Im Quartal I/1990 ermäßigten sie darüber hinaus die Ansätze für die Nrn 252, 253 und 267 BMÄ, die um 447 %, 286 % und 400 % über dem Fachgruppendurchschnitt lagen, bis auf eine Restüberschreitung von je 100 %.
Zur Begründung führte der beklagte Beschwerdeausschuß im Bescheid vom 23. Oktober 1991 aus, die festgestellten Abweichungen lägen auch bei Berücksichtigung eines um ca 20 % erhöhten Rentneranteils in der klägerischen Praxis deutlich im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses. Sonstige Praxisbesonderheiten oder kompensatorische Einsparungen, die den Mehraufwand erklären könnten, seien nicht zu erkennen, zumal auch die Arzneiverordnungskosten um 40 bis 50 % höher lägen als in einer durchschnittlich strukturierten allgemeinärztlichen Praxis. Bei den Gesamtbehandlungskosten werde der – rentnerbereinigte – Fachgruppendurchschnitt auch nach der Kürzung noch um 1,6 Standardabweichungen überschritten.
Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) Stuttgart hat den Bescheid des Beklagten und die vorangegangenen Kürzungsbescheide des Prüfungsausschusses aufgehoben. Die Entscheidungen ließen nicht erkennen, aufgrund welcher Tatsachen und Bewertungen die Prüfgremien zur Feststellung der Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise gelangt seien. Wo bei den gekürzten Leistungen der Grenzwert für das offensichtliche Mißverhältnis angesetzt worden sei, bleibe im Dunkeln. Die Annahme unterschiedlicher Grenzwerte bzw Kürzungsgrenzen bei der Nr 10 BMÄ einerseits und den Nrn 252, 253 und 267 BMÄ andererseits werde nicht begründet. Unklar sei auch, nach welchen Kriterien die Grenzziehung vorgenommen worden sei. Die maßgebenden statistischen Parameter, nämlich die Grenzwahrscheinlichkeiten und die unterschiedlichen Homogenitätsgrade der Vergleichskollektive, seien nicht ermittelt, jedenfalls nicht erkennbar berücksichtigt worden. Des weiteren fehlten nachvollziehbare Berechnungen dazu, welchen Mehraufwand der erhöhte Rentneranteil bei den einzelnen Leistungen bewirke. Schließlich seien die Kürzungen bei der Nr 10 BMÄ auch deshalb rechtswidrig, weil der überhöhte Ansatz dieser Gebührennummer nach den Feststellungen des Beklagten teilweise auf einer Fehlinterpretation des Leistungsinhalts beruhe und insoweit allenfalls Gegenstand einer sachlichen Richtigstellung sein könne.
Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt die beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) eine Verletzung des § 106 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V), des § 35 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) sowie der §§ 95, 70 Nr 4 und § 51 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das angefochtene Urteil überspanne die an einen Honorarkürzungsbescheid zu stellenden Begründungsanforderungen. Zu diesen Anforderungen gehöre nicht, daß der von den Prüfgremien angenommene Grenzwert für das offensichtliche Mißverhältnis ausdrücklich genannt werde; es reiche aus, wenn er sich anhand der vorgenommenen Kürzungen und der dazu im Bescheid angestellten Erwägungen bestimmen lasse. Die Grenzziehung bedürfe auch keiner ins einzelne gehenden Begründung, wenn sie sich in dem von der Rechtsprechung anerkannten Rahmen bewege und Praxisbesonderheiten nicht erkennbar seien. Eine ausreichende Homogenität der Vergleichsgruppe sei dadurch gewährleistet, daß in sie nur diejenigen Ärzte einbezogen würden, welche die betreffende Leistung ebenfalls abgerechnet hätten. Die vom SG geforderte scharfe Trennung zwischen Wirtschaftlichkeitsprüfung und sachlicher Richtigstellung sei weder möglich noch rechtlich geboten. In verfahrensrechtlicher Hinsicht weiche das Urteil von der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab, nach der sich die Klage bei einer Honorarkürzung wegen unwirtschaftlicher Behandlungs- oder Verordnungsweise allein gegen den Bescheid des Beschwerdeausschusses zu richten habe.
Die Beigeladene zu 1) ≪Revisionsklägerin≫ und der Beigeladene zu 2), der sich diesem Vorbringen angeschlossen hat, beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Juni 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beklagte und der Beigeladene zu 4) unterstützen den Standpunkt der Revisionsklägerin. Die übrigen Beteiligten haben sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig und begründet.
Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage. Die rechtlichen Erwägungen, aus denen das SG die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Kürzungsentscheidungen herleitet, sind nicht stichhaltig.
Rechtsgrundlage für die von den Prüfgremien praktizierte Form der arztbezogenen Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten ist § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V. Mit dieser seit 1. Januar 1989 geltenden Bestimmung hat der Gesetzgeber die in der Praxis seit langem angewandte, bislang aber im Gesetz nicht verankerte und lediglich durch Richterrecht sanktionierte Methode des statistischen Kostenvergleichs als Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Tätigkeit anerkannt und als Regelprüfmethode übernommen. Er hat damit zugleich die zur Legitimation einer statistischen Vergleichsprüfung unerläßliche Annahme gebilligt, daß die Gesamtheit aller Ärzte im Durchschnitt gesehen wirtschaftlich behandelt, jedenfalls das Maß des Notwendigen und Zweckmäßigen nicht unterschreitet, und daß deshalb der durchschnittliche Behandlungsaufwand einer Arztgruppe grundsätzlich ein geeigneter Maßstab für die Wirtschaftlichkeitsprüfung eines Angehörigen dieser Arztgruppe ist. Ob sich aus der erstmaligen Festschreibung dieses Maßstabes im Gesetz Folgerungen in Richtung auf eine Einschränkung der bisher von der Rechtsprechung zugestandenen großzügigen Überschreitungstoleranzen und einen erhöhten Rechtfertigungszwang für erheblich über dem Durchschnitt liegende Behandlungs- und Verordnungskosten ergeben, bedarf im vorliegenden Fall keiner Erörterung, weil sich die angefochtenen Bescheide auch auf der Grundlage der bisher von der Rechtsprechung aufgestellten geringeren Anforderungen als rechtmäßig erweisen.
Die arztbezogene Prüfung nach Durchschnittswerten, die unter der Voraussetzung ausreichender Vergleichbarkeit auch zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit des Ansatzes einzelner Leistungspositionen des BMÄ herangezogen werden kann (BSGE 71, 194, 196 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15), basiert auf einer Gegenüberstellung der durchschnittlichen Fallkosten einerseits des geprüften Arztes und andererseits der Gruppe vergleichbarer Ärzte. Eine Unwirtschaftlichkeit ist anzunehmen, wenn der Fallwert des geprüften Arztes so erheblich über dem Vergleichsgruppendurchschnitt liegt, daß sich die Mehrkosten nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur und den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lassen und deshalb zuverlässig auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise als Ursache der erhöhten Aufwendungen geschlossen werden kann. Wann dieser mit dem Begriff des offensichtlichen Mißverhältnisses gekennzeichnete Überschreitungsgrad erreicht ist, hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Prüfungsgegenstandes und den Umständen des konkreten Falles ab und entzieht sich einer allgemeinverbindlichen Festlegung. Bei einem Einzelleistungsvergleich kann der Beweis der Unwirtschaftlichkeit regelmäßig nicht allein mit der Feststellung und Angabe von Überschreitungsprozentsätzen geführt werden; vielmehr bedarf es einer genaueren Untersuchung der Strukturen und des Behandlungsverhaltens innerhalb des speziellen engeren Leistungsbereichs sowie der Praxisumstände des geprüften Arztes, um die Eignung der Vergleichsgruppe und den Aussagewert der gefundenen Vergleichszahlen beurteilen zu können. Die dazu angestellten Erwägungen müssen, damit sie auf ihre sachliche Richtigkeit und auf ihre Plausibilität und Vertretbarkeit hin überprüft werden können, im Bescheid genannt werden oder jedenfalls für die Beteiligten und das Gericht erkennbar sein. Im Hinblick darauf, daß die Festlegung des Grenzwertes für das offensichtliche Mißverhältnis von der Beurteilung zahlreicher mehr oder weniger unbestimmter und in ihren wechselseitigen Auswirkungen nicht exakt quantifizierbarer Einzelfaktoren abhängt und auch bei Berücksichtigung aller relevanten Umstände letztlich eine wertende Entscheidung erfordert, verbleibt den Prüfungsorganen insoweit ein Beurteilungsspielraum.
Mit diesen rechtlichen Vorgaben ist es nicht vereinbar, wenn das SG dem Beklagten für die Grenzwertbestimmung eine rein statistische Vorgehensweise vorschreibt. Der Senat geht zwar, wie zuvor ausgeführt, ebenfalls davon aus, daß die Prüfung nach Durchschnittswerten auf einem statistischen Kostenvergleich aufbaut. Er hat aber wiederholt klargestellt, daß die statistische Betrachtung nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muß, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Arztgruppe und die bei dem geprüften Arzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, in Rechnung zu stellen sind (BSGE 62, 24, 25 ff = SozR 2200 § 368n Nr 48 mwN; BSGE 71, 194, 197 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15). Diese Gesichtspunkte sind nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium oder nur auf entsprechende Einwendungen des Arztes, sondern bereits auf der ersten Prüfungsstufe von Amts wegen mit zu berücksichtigen; denn die intellektuelle Prüfung dient dazu, die Aussagen der Statistik zu überprüfen und ggf zu korrigieren. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten läßt sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Mißverhältnisses und damit den Schluß auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen.
In der bisherigen Rechtsprechung ist allerdings die Frage, an welcher Stelle im Ablauf des Prüfverfahrens die von der Typik der Fachgruppe abweichenden Praxisumstände des geprüften Arztes zu berücksichtigen sind, nicht einheitlich beantwortet worden. Das BSG hat es den Prüfungseinrichtungen freigestellt, diese Umstände je nach Zweckmäßigkeit entweder schon am Beginn der Prüfung durch Bildung einer engeren Vergleichsgruppe oder erst in einem nachfolgenden Prüfungsabschnitt durch Ermittlung und Anrechnung des ihretwegen erforderlichen Mehraufwandes zur Geltung zu bringen (BSGE 50, 84, 87 = SozR 2200 § 368e Nr 4 S 9; SozR 2200 § 368n Nr 31 S 105; SozR 2200 § 368n Nr 50 S 170). Das ist überwiegend so aufgefaßt worden, daß im zweiten Fall zunächst nach statistischen Kriterien über das Vorliegen eines offensichtlichen Mißverhältnisses zu befinden und erst danach gegebenenfalls zu prüfen sei, ob und inwieweit der durch die Fallkostendifferenz begründete Nachweis der Unwirtschaftlichkeit durch Praxisbesonderheiten widerlegt werde (so ausdrücklich zB BSG SozR 2200 § 368n Nr 3 S 8 f; Nr 31 S 99; Nr 43 S 144; BSGE 62, 24, 25 ff = SozR 2200 § 368n Nr 48; Danckwerts, MedR 1991, 316, 320; Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht, 1994, S 226 Rdn 520 mwN). Indessen wird eine derartige Ausgestaltung des Prüfverfahrens weder der beweisrechtlichen Funktion und Bedeutung des offensichtlichen Mißverhältnisses noch den Erfordernissen einer effizienten Wirtschaftlichkeitsprüfung gerecht.
Wie der Senat zuletzt im Urteil vom 8. April 1992 (SozR 3-2500 § 106 Nr 11 S 59) dargelegt hat, kommt der Feststellung eines offensichtlichen Mißverhältnisses praktisch die Wirkung eines Anscheinsbeweises zu. Nach dessen Regeln kann aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, daß die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der Statistik wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsausweise oder der Angaben des Arztes (zu dessen Mitwirkungspflicht vgl BSG SozR 2200 § 368n Nr 31 S 101) erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verläßliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen läßt. Das gilt umso mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Mißverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann.
Umgekehrt können die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen ihren gesetzlichen Auftrag, die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung zu überwachen, nur unzureichend erfüllen, wenn es den Prüfungseinrichtungen verwahrt wird, die Praxisumstände des Arztes und andere medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte bereits im Rahmen des statistischen Kostenvergleichs bei der Bewertung der aufgetretenen Fallkostendifferenzen mit zu berücksichtigen. Das beruht darauf, daß eine rein statistische Vergleichsprüfung aus methodischen Gründen nur begrenzte Erkenntnisse über die Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Tätigkeit zu vermitteln vermag. Soll der Beweis für eine unwirtschaftliche Behandlungsweise auf der Grundlage der ausgewiesenen Fallkostenüberschreitungen allein nach mathematisch-statistischen Kriterien geführt werden, so muß bei wenig homogenen Vergleichsgruppen mit stark streuenden Werten bei der Festlegung des Grenzwertes für das offensichtliche Mißverhältnis ein sehr weiter Toleranzbereich vorgesehen werden, der aus medizinisch-ärztlicher Sicht bei Kenntnis des Behandlungsverhaltens der Fachgruppenangehörigen einerseits und des geprüften Arztes andererseits vielfach nicht gerechtfertigt ist. Eine verfeinerte, auf Teilbereiche der ärztlichen Tätigkeit bezogene Wirtschaftlichkeitsprüfung in der Form von Sparten- oder Einzelleistungsvergleichen könnte mangels genügend ausgereifter statistischer Verfahren überhaupt nicht durchgeführt werden (vgl Gaus, Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise des Kassenarztes, 1988, Kapitel 11.2, S 52 f). Die Folge wäre, daß dann auch gröbere Unwirtschaftlichkeiten unerkannt bleiben müßten bzw im Rahmen der angewandten Prüfmethode nicht beanstandet werden könnten. Für eine derartige Beschränkung der Beweismöglichkeiten gibt es keinen sachlichen Grund.
Der Beklagte war bei dieser rechtlichen Ausgangslage entgegen der Auffassung des SG aus Rechtsgründen nicht gehalten, für das offensichtliche Mißverhältnis eine Grenzwahrscheinlichkeit festzulegen oder bestimmte für die Beurteilung der Homogenität der Vergleichsgruppe geeignete statistische Kenndaten zu erheben. Ebensowenig sind die Bescheide deshalb rechtswidrig, weil in ihnen der Grenzwert für das offensichtliche Mißverhältnis nicht exakt mit einem bestimmten Überschreitungsprozentsatz angegeben ist. Der Senat hat bereits im Urteil vom 28. Oktober 1992 (BSGE 71, 194, 198 = SozR 3-2500 § 106 Nr 15) ausgeführt, daß die Prüfungseinrichtungen sich nicht ausdrücklich auf einen bestimmten Grenzwert festlegen müssen, wenn sich aus den vorgenommenen Kürzungen in Verbindung mit der dazu gegebenen Begründung ersehen läßt, bei welcher Überschreitung ein offensichtliches Mißverhältnis angenommen wurde. Im vorliegenden Fall ist der Beklagte ersichtlich davon ausgegangen, daß auch unter Berücksichtigung eines eventuell durch den erhöhten Rentneranteil bedingten Mehraufwandes bei den auffälligen Leistungen, den er zugunsten der Klägerin unterstellt und auf der Grundlage ihrer eigenen Gebührenansätze berechnet hat, jedenfalls bei den nach Kürzung belassenen Abweichungen um 60 % bei der Nr 10 BMÄ und 100 % bei den Nrn 252, 253 und 267 BMÄ die Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit erreicht ist.
Die für die Grenzziehung gegebene Begründung genügt den rechtlichen Erfordernissen. Bei der Festlegung des Grenzwertes für die Nr 10 BMÄ (Erörterung und Planung gezielter therapeutischer Maßnahmen zur Beeinflussung chronischer Erkrankungen oder von Erkrankungen mehrerer Organsysteme) haben die Prüfgremien erkennbar berücksichtigt, daß es sich um eine für die allgemeinärztliche Tätigkeit typische Grundleistung handelt, die nur bei bestimmten, genau umschriebenen Krankheitszuständen zum Einsatz kommt. Ein unverhältnismäßig häufiger Ansatz dieser Gebühr kann deshalb nur gerechtfertigt sein, wenn in der geprüften Praxis im Vergleichszeitraum sehr viel mehr chronisch kranke oder multimorbide Patienten zu versorgen waren als in einer allgemeinärztlichen Durchschnittspraxis. Dementsprechend können, wie der Senat bereits im Urteil vom 28. Oktober 1992 (aaO, S 198) näher ausgeführt hat, bei der Leistung nach Nr 10 BMÄ wie auch bei anderen ärztlichen Grundleistungen der Abschnitte B I, B II und B IV des BMÄ aus den statistischen Abweichungen in Verbindung mit den für die Prüfgremien erkennbaren Praxisumständen relativ zuverlässige Schlüsse auf die Wirtschaftlichkeit bzw Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise gezogen und entsprechend niedrige Grenzwerte angenommen werden.
Daß der angefochtene Bescheid auf diese jedem Vertragsarzt geläufigen Zusammenhänge nicht im einzelnen eingeht, ist unschädlich. In der Begründung eines Verwaltungsaktes müssen zwar gemäß § 35 Abs 1 Satz 2 SGB X die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitgeteilt werden, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Die Begründungsanforderungen sind aber von Fall zu Fall verschieden und richten sich nach den Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebietes und nach den Umständen des Einzelfalles. Es reicht aus, wenn dem Betroffenen die Gründe der Entscheidung in solcher Weise und in solchem Umfang bekanntgegeben werden, daß er seine Rechte sachgemäß verteidigen kann. Die Verwaltung darf sich deshalb auf die Angabe der maßgebend tragenden Erwägungen beschränken und braucht Gesichtspunkte und Umstände, die auf der Hand liegen oder dem Betroffenen bekannt sind, nicht nochmals ausführlich darzulegen (BSG SozR 2200 § 773 Nr 1; BVerwGE 22, 215, 217 f; 38, 191, 194; BVerwG NVwZ 1986, 374, 375; 919, 921; jeweils mwN). Die Beigeladene zu 1) mißt in diesem Zusammenhang mit Recht dem Umstand Bedeutung zu, daß sich die im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung ergehenden Bescheide an einen sachkundigen Personenkreis richten, der mit den Leistungs- und Abrechnungsvoraussetzungen vertraut ist und zu dessen Pflichten es gehört, über die Grundlagen der wirtschaftlichen Praxisführung und der Abrechnung der vertragsärztlichen Leistungen unter Wahrung des Gebots der Wirtschaftlichkeit Bescheid zu wissen. Das erlaubt es den Prüfgremien, entsprechende Kenntnisse vorauszusetzen und die Begründung ihrer Bescheide hierauf einzustellen.
Mit der Feststellung, daß im konkreten Fall nur ein geringer Teil des Mehraufwandes bei der Nr 10 BMÄ in einer Größenordnung unter 3 % durch den erhöhten Rentneranteil in der klägerischen Praxis erklärt werden kann, andere Praxisbesonderheiten aber nicht vorliegen, ist bei dieser Sachlage für die Betroffenen und das Gericht nachvollziehbar dargetan, daß und warum sich eine den Fachgruppendurchschnitt um mehr als das 1,6fache übersteigende Abrechnungshäufigkeit bei dieser Leistung keinesfalls mehr mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot vereinbaren läßt.
Der Schluß auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise ist auch nicht deshalb unzulässig, weil der überhöhte Ansatz der Nr 10 BMÄ nach den Feststellungen des Beklagten möglicherweise zu einem Teil auf einer Fehlinterpretation der betreffenden Leistungslegende beruht. Mit dem Einwand, in derartigen Fällen gehe es nicht um die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung, sondern um die inhaltliche Richtigkeit der vorgelegten Abrechnung, hat sich der Senat ebenfalls bereits im Urteil vom 28. Oktober 1992 (aaO, S 200) befaßt und klargestellt, daß eine der Wirtschaftlichkeitsprüfung vorausgehende sachlich-rechnerische Berichtigung der Honorarabrechnung nur in bezug auf solche Abrechnungsunrichtigkeiten in Betracht kommen kann, die offenkundig und aus den Behandlungsunterlagen ohne weiteres zu ersehen sind. Dagegen ist die vom SG geforderte scharfe Trennung zwischen Wirtschaftlichkeitsprüfung und Abrechnungskontrolle in Fällen der vorliegenden Art weder praktisch durchführbar noch rechtlich geboten. Die Prüfungseinrichtungen dürfen deshalb im Zweifel davon ausgehen, daß der Arzt die abgerechneten Leistungen tatsächlich erbracht hat, und haben lediglich zu prüfen, ob gegebenenfalls durch die unwirtschaftlichen Gebührenansätze andere, geringer bewertete Leistungen eingespart worden sind. Hierfür hat der Beklagte im vorliegenden Fall keinen Anhaltspunkt gesehen, weil nicht nur bei der Nr 10 BMÄ, sondern zugleich auch bei der für eine Kompensation in Betracht kommenden Leistung nach Nr 4 BMÄ eine weit über den Fachgruppendurchschnitt hinausgehende Ansatzhäufigkeit festzustellen war. Auch insoweit hält sich seine Entscheidung im Rahmen der vom Senat (aaO, S 200 f) zur Berücksichtigung kompensationsfähiger Einsparungen aufgestellten Grundsätze.
Die Injektionsleistungen nach Nrn 252 und 253 BMÄ und die medikamentöse Infiltrationsbehandlung nach Nr 267 BMÄ sind ebenfalls fachgruppentypische Leistungen, die von über 90 % (Nrn 252 und 253 BMÄ) bzw über 50 % (Nr 267 BMÄ) der Allgemeinärzte im Bezirk der beigeladenen KÄV erbracht und in einer ausreichend großen Zahl von Fällen angesetzt werden. Das allein und die Tatsache, daß der Beklagte nur diejenigen Ärzte in die Vergleichsprüfung einbezogen hat, welche die jeweilige Leistung im betreffenden Quartal tatsächlich abgerechnet haben, besagt zwar noch nicht, daß es sich auch um homogene Vergleichskollektive handelt; denn Injektions- und Infiltrationstherapie können je nach Ausrichtung der ärztlichen Behandlung zu unterschiedlichen Zwecken und in unterschiedlichem Umfang eingesetzt werden. Diesbezüglich war von der Klägerin geltend gemacht worden, die um das Vier- bis Fünffache über dem Durchschnitt liegende Zahl an Injektionen sei auf die besondere Behandlung mit immunstimulierenden Mitteln bei Tumorerkrankungen sowie auf die von ihr angewandte Umstimmungstherapie bei rezidivierenden Infekten, Allergien und chronischen Hauterkrankungen zurückzuführen. Die Prüfgremien, die dem nachgegangen sind, haben festgestellt, daß zum einen nur vergleichsweise wenige Tumorpatienten behandelt und zum anderen die beanstandeten Leistungen gerade bei diesen Patienten nicht vermehrt angesetzt wurden. Den Einwand, durch die genannten Behandlungsverfahren und durch den häufigen Einsatz der Neuraltherapie nach Nr 267 BMÄ würden in großem Umfang teuere Medikamente und andere Leistungen eingespart, haben sie mit Recht nicht gelten lassen, nachdem sowohl bei den Arzneiverordnungskosten als auch bei den Gesamtbehandlungskosten ebenfalls massive Überschreitungen des Fachgruppendurchschnitts zu verzeichnen waren, die nur zu einem geringen Teil durch den erhöhten Rentneranteil erklärt werden können. Daran wird deutlich, daß die Behandlungsweise der Klägerin nicht in den von Kürzungen betroffenen Leistungen besondere Schwerpunkte aufweist, die durch geringere Kosten an anderer Stelle ausgeglichen werden, sondern daß sie insgesamt erheblich kostenaufwendiger ist als die der Fachkollegen. Die Ausübung einer besonderen Therapieform vermag höhere Kosten in einem Teilbereich der ärztlichen Tätigkeit aber nur zu rechtfertigen, wenn der Behandlungsaufwand als Ganzes das Maß des Zumutbaren nicht überschreitet (BSGE 50, 84, 87 f = SozR 2200 § 368e Nr 4 S 10). Angesichts dessen kann es nicht beanstandet werden, wenn der Beklagte bei einer Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts um mehr als 100 % bei den beanstandeten Leistungen ein offensichtliches Mißverhältnis angenommen hat.
Die vorgenommenen Kürzungen beschränken sich auf den im Bereich der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegenden Mehraufwand und mußten deshalb nicht besonders begründet werden. Der angefochtene Bescheid erweist sich damit entgegen der Auffassung der Vorinstanz als rechtmäßig. Da die Anfechtungsklage abzuweisen war, bedarf es keines Eingehens auf die vom Sozialgericht aufgeworfene verfahrensrechtliche Problematik (vgl dazu aber BSGE 72, 214, 219 ff = SozR 3-1300 § 35 Nr 5 sowie das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 9. März 1994 – 6 RKa 5/92 –).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, wobei dessen Absatz 4 im Hinblick auf den Zeitpunkt der Revisionseinlegung noch in der früheren, bis 31. Dezember 1992 geltenden Fassung anzuwenden war (BSGE 72, 148, 156 f = SozR 3-2500 § 15 Nr 1).
Fundstellen
BSGE, 70 |
NJW 1995, 2435 |
AusR 1995, 22 |