Entscheidungsstichwort (Thema)
Verspätete Antragstellung infolge Unkenntnis der früheren Versicherung des Gefallenen
Leitsatz (redaktionell)
Beruhte die verspätete Antragstellung einzig auf der Unkenntnis über die Tatsache der früheren Versicherung des gefallenen Ehemannes, so war sie überhaupt nicht durch irgendwelche Kriegsereignisse bedingt. Unter diesen Umständen bietet KrFristenablaufG § 2 keine Möglichkeit für eine günstige Entscheidung.
Normenkette
KrFrHemmSV/AVG § 2
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Schleswig vom 3. November 1955 und des früheren Oberversicherungsamts S vom 27. November 1953 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Gebühren für die Berufstätigkeit der Rechtsanwälte Dr. L. und Dr. R. vor dem Bundessozialgericht werden auf ... DM (in Worten: "... Deutsche Mark") festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Vater der Klägerinnen ist am 18. Februar 1942 als Berufssoldat gefallen; er war vor seinem Eintritt in die Reichswehr einige Jahre in der Invalidenversicherung pflichtversichert gewesen. Die Klägerinnen, vertreten durch ihre Mutter, beantragten erst am 7. April 1952 bei der Beklagten die Gewährung von Waisengeld aus der Invalidenversicherung; die Mutter der Klägerinnen will erst zu dieser Zeit die Zugehörigkeit ihres gefallenen Ehemannes zur Invalidenversicherung erfahren haben.
Durch Bescheid vom 28. November 1952 gewährte die Beklagte das beantragte Waisengeld, und zwar rückwirkend vom 1. Oktober 1950, dem Tage des Inkrafttretens des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Mit Schreiben vom 12. Mai 1954 beantragten die Klägerinnen die "rückwirkende" Gewährung der Waisenrente; aus der dem Antrag beigefügten Sterbeurkunde ergab sich, daß der Sterbefall bereits im Jahre 1942 bei dem zuständigen Standesamt beurkundet worden war. Die Beklagte lehnte daraufhin die Vorverlegung des Rentenbeginns durch Bescheid vom 30. Juni 1953 ab, da die Frist zur Antragstellung nach § 2 Satz 1 des Kriegsfristengesetzes (KFG) bereits am 31. Dezember 1943 abgelaufen sei und auch Satz 3 a. a. O. nicht in Frage komme; der Bescheid enthielt keine Rechtsmittelbelehrung, seine Zustellung ist in den Akten nicht vermerkt. Auf die gegen diesen Bescheid am 15. August 1953 eingelegte Berufung sprach das Oberversicherungsamt S den Klägerinnen die Waisenrente bereits vom 1. März 1942 an zu; es ging hierbei davon aus, daß § 2 Satz 1 KFG auf alle nach dessen Inkrafttreten erlassenen Rentenbescheide anzuwenden sei, gleichgültig, wann der Rentenantrag gestellt war. Das Urteil des Oberversicherungsamts enthält am Schluß folgende Rechtsmittelbelehrung: "Gegen diese Entscheidung kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die (weitere) Berufung beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg eingelegt werden. Das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht ist nicht gebührenfrei".
Die Beklagte legte darauf fristgemäß weitere Berufung an das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg ein, die nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Landessozialgericht Schleswig überging; dieses verwarf zunächst durch Vorbescheid und, nachdem die Beklagte mündliche Verhandlung beantragt hatte, später auch in seinem Urteil vom 3. November 1955 die Berufung als unzulässig.
Die Zulässigkeit der Berufung richte sich nach § 215 Abs. 8 SGG ausschließlich nach den Vorschriften des SGG; nach § 146 SGG sei die Berufung unzulässig; auch dann, wenn die Rechtssache, wie die Beklagte annehme, grundsätzliche Bedeutung habe, könne das Landessozialgericht die fehlende Entscheidung des Sozialgerichts über die Zulassung der Berufung nicht ersetzen, und zwar selbst dann nicht, wenn das erste Urteil von einem Oberversicherungsamt erlassen sei, das nach dem damals geltenden Recht eine Berufungszulassung gar nicht habe aussprechen können. Das Landessozialgericht hat die Revision gegen sein Urteil wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage der Zulässigkeit der Berufung im Falle des § 215 Abs. 3 SGG zugelassen.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 12. Dezember 1955 zugestellte Urteil am 27. Dezember 1955 Revision eingelegt und diese am 23. Januar 1956 begründet. Sie rügt unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine Verletzung der Vorschriften des § 150 Nr. 1 in Verbindung mit § 215 Abs. 8 SGG. Das Landessozialgericht habe im vorliegenden Fall prüfen müssen, ob es sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handele; da diese Prüfung zur Bejahung habe führen müssen, verstoße die Verwerfung der Berufung als unzulässig gegen das Gesetz.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Oberversicherungsamts S vom 27. November 1953 und das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 3. November 1955 aufzuheben und Klage abzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen demgegenüber,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist vom Landessozialgericht zugelassen und daher statthaft. Sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt worden. Die Revision ist begründet.
Wie das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen hat (BSG. 1 S. 239 und - für ähnlich liegende Fälle - ebenda S. 62, 208 und 264; SozR. SGG § 150 Bl. Da 1 Nr. 1), bleibt eine nach § 215 Abs. 8 SGG auf das Landessozialgericht übergegangene Berufung trotz der Vorschriften der §§ 143 bis 149 SGG zulässig, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG von einem Sozialgericht zuzulassen gewesen wäre. In derartigen Übergangsfällen steht demnach dem Landessozialgericht die Prüfung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zu; für sie kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Landessozialgerichts an. Hat die in dem Rechtsstreit behandelte Frage ihre grundsätzliche Bedeutung vor dem Erlaß des Urteils des Landessozialgerichts verloren (sei es durch Klärung der Rechtsfrage durch die Rechtsprechung, sei es durch Änderung in der Gesetzgebung oder auf andere Weise), so wird die Berufung nicht mehr als statthaft behandelt werden dürfen; verliert die Frage diese Bedeutung jedoch erst nach der Entscheidung des Landessozialgerichts, so kann das auf die Frage der Zulässigkeit der Berufung keinen Einfluß mehr haben. Im vorliegenden Fall war im Zeitpunkt der Entscheidung des Landessozialgerichts die Auffassung über die Auswirkung des § 2 KFG noch völlig umstritten; es handelte sich dabei auch um ein Problem, das für zahlreiche Fälle von entscheidender Wichtigkeit war. Das Landessozialgericht hätte daher davon ausgehen müssen, daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hatte. Es durfte demgemäß die Berufung nicht als unzulässig verwerfen, sondern mußte sachlich entscheiden. Da die angefochtene Entscheidung somit auf einer unrichtigen Anwendung revisibler Rechtsnormen beruht, war sie aufzuheben.
Das Bundessozialgericht konnte in der Sache selbst entscheiden, da sich eine Zurückverweisung bei dem klaren Sachverhalt erübrigte. Da der Bewilligungsbescheid der Beklagten nach dem Inkrafttreten des KFG - dem 16. November 1952 - ergangen ist, beurteilt sich der geltend gemachte Anspruch auf Vorverlegung des Rentenbeginns nach Satz 1 des § 2 KFG (vgl. BSG. 3 S. 72), wobei es mit Rücksicht auf den Zweck und sonstigen Wortlaut des § 2 a. a. O. nach Auffassung des erkennenden Senats unerheblich ist, ob der den Bewilligungsbescheid auslösende Antrag der Hinterbliebenen schon vor dem Inkrafttreten des KFG gestellt ist. Nach der inzwischen ständig gewordenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG. 3 S. 52 und Urteil des erkennenden Senats vom 7.6.1956 - 4 RJ 192/55 -) kommt eine vom § 1286 der Reichsversicherungsordnung (RVO) abweichende frühere Festsetzung des Rentenbeginns nur in Frage, wenn der ursprüngliche Rentenantrag nicht später als bis zum Ablauf des auf die Todesnachricht oder die Todeserklärung folgenden Kalenderjahres gestellt ist. Diese Voraussetzung fehlt im vorliegenden Fall.
Die verspätete Antragstellung beruhte einzig auf der Unkenntnis der Mutter der Klägerinnen über die Tatsache der früheren Versicherung ihres gefallenen Ehemannes. Sie war daher überhaupt nicht durch irgendwelche Kriegsereignisse bedingt. Unter diesen Umständen bieten auch die sonstigen Bestimmungen des § 2 KFG, insbesondere sein Satz 4 zweite Alternative, keine Möglichkeit für eine für die Klägerinnen günstigere Entscheidung. Wenn die Beklagte - offenbar auf Grund einer damaligen Verwaltungsübung, jedoch ohne rechtliche Verpflichtung - die Waisenrente in ihrem mit der Klage angefochtenen Bescheid schon seit dem Inkrafttreten des BVG rückwirkend gewährt hatte, so ist sie an ihren insoweit nicht angefochtenen Bescheid auch weiterhin gebunden.
Da ein Anspruch der Klägerinnen auf einen noch früheren Beginn der Waisenrentenzahlung demnach nicht besteht, war die Klage unter Aufhebung auch des Urteils des Sozialgerichts abzuweisen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Gebühren für die Rechtsanwälte Dr. I. und Dr. R. erscheinen mit 100.- DM nach § 196 SGG angemessen festgesetzt.
Fundstellen