Leitsatz (amtlich)
1. NVG § 4 Abs 3, 7 sind außer Kraft getreten, soweit Renten nach den Vorschriften der RVO idF des ArVNG festzustellen sind (ArVNG Art 3 § 2).
2. Für solche Renten sind für Zeiten nationalsozialistischer Verfolgung, die als Ersatzzeiten anrechenbar sind (RVO § 1251 Abs 1 Nr 4, Abs 2), keine Steigerungsbeträge zu gewähren (NVG § 4 Abs 3); an deren Stelle tritt die Anrechnung der Ersatzzeit bei der Ermittlung der Anzahl der anrechenbaren Versicherungsjahre (RVO § 1258).
3. Solche Ersatzzeiten sind auch dann als Versicherungsjahre anzurechnen, wenn sie als ruhegehaltsfähige Dienstzeit bei einer Beamtenversorgung oder Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen angerechnet worden sind; die Vermeidung einer Doppelversorgung ist dem Recht des öffentlichen Dienstes vorbehalten (vergleiche zB BBG §§ 115, 112, BWGöD § 9).
Normenkette
ArVNG Art. 3 § 2 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 3 § 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1258 Fassung: 1957-02-23; AVG § 35 Fassung: 1957-02-23; BBG §§ 115, 112; BWöDG § 9 Fassung: 1955-12-23; NVG § 4 Abs. 7 Fassung: 1949-08-22, Abs. 3 Fassung: 1949-08-22
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. August 1965 aufgehoben.
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 3. Juli 1964 wird dahin geändert, daß die Beklagte verurteilt wird, der Klägerin einen neuen Rentenbescheid zu erteilen, in dem die Zeit
vom 1.9.1933 bis 31.1.1935 und
vom 1.9.1935 bis 31.3.1936
als Ersatzzeit angerechnet wird.
Im übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin zwei Drittel ihrer außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Die ... 1902 geborene Klägerin war früher als Stenotypistin, Assistentin und Stadtangestellte versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Vom 1. September 1933 bis 31. Januar 1935 und vom 1. September 1935 bis 31. März 1936 war sie arbeitslos. Sie ist als Verfolgte des Nationalsozialismus im Sinne des § 1 Abs. 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Seit dem 1. Mai 1962 erhält sie von der Stadt H Versorgungsbezüge in sinngemäßer Anwendung beamtenrechtlicher Bestimmungen. Bei der Berechnung des Ruhegehalts ist die ganze Zeit vom 1. April 1929 bis 30. April 1962 als ruhegehaltsfähige Dienstzeit anerkannt worden.
Seit dem 1. April 1962 bezieht die Klägerin außerdem vorgezogenes Altersruhegeld nach § 25 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Die Beteiligten streiten über die Höhe dieser Leistung. Die Beklagte hat die genannten Zeiten der Arbeitslosigkeit unter Berufung auf § 4 Abs. 7 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 (NVG) nicht nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG angerechnet, da sie bereits bei der Berechnung der Versorgungsbezüge als ruhegehaltsfähig anerkannt und berücksichtigt worden seien.
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat durch Urteil vom 3. Juli 1964 die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides vom 14. September 1962 verurteilt, bei dem Altersruhegeld die Zeit vom 1. September 1933 bis 31. Januar 1935 und vom 1. September 1935 bis 31. März 1936 als "Ersatzzeit nach Beitragsklasse D" zu berücksichtigen. Die Klägerin sei unstreitig Verfolgte im Sinne des § 1 BEG. Ihre Arbeitslosigkeit sei verfolgungsbedingt gewesen. Vorher habe eine Versicherung bestanden. Während der Arbeitslosigkeit habe eine Versicherungspflicht nicht bestanden. Es liege also eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG vor, die nach § 27 AVG als Versicherungszeit gelte. Sie sei somit nach den §§ 35, 31 AVG auch für die Bemessung des Altersruhegeldes zugrunde zu legen, da Ausschlußgründe im Sinne des § 28 Abs. 2 AVG, die einer Anrechnung entgegenstehen könnten, nicht vorlägen. Weitere Ausschlußgründe gäbe es nicht mehr. § 4 Abs. 7 NVG sei durch Art. 3 § 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) aufgehoben.
Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung ist vom Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen zurückgewiesen worden. Dieses hat sich der Auffassung des SG angeschlossen. Das Angestelltenversicherungsgesetz überlasse entgegen dem bisherigen § 4 Abs. 7 NVG und auch anders als § 18 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes (FRG) vom 25. Februar 1960 die Regelung der Doppelversorgung dem Beamtenrecht.
Das LSG hat in seinem Urteil vom 20. August 1965 die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,
das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Hannover vom 3. Juli 1964 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Gerügt wird Verletzung des § 4 Abs. 7 NVG. Die Vorentscheidungen seien in sich inkonsequent. Diese hielten § 4 Abs. 3 NVG noch für gültig und hätten deshalb sie, die Beklagte, verurteilt, für die Zeiten der verfolgungsbedingten Arbeitslosigkeit Beiträge der Klasse D zu berücksichtigen. Damit entfalle jeder Grund, § 4 Abs. 7 NVG nicht ebenfalls anzuwenden.
Die Klägerin - nach Zurückweisung des Vertreters vom Zentralverband der Sozialrentner vertreten durch ihren jetzigen Prozeßbevollmächtigten - bittet um Zurückweisung der Revision.
Die zulässige Revision der Beklagten ist im wesentlichen nicht begründet.
Der Versicherungsfall ist im April 1962 eingetreten. Damit ist für die Anerkennung und Bewertung von Ersatzzeiten zunächst von den §§ 27, 28, 35 AVG auszugehen und zu prüfen, ob und wieweit daneben noch Raum bleibt für die Anwendung der älteren Sondervorschriften des NVG. Nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG sind u.a. Zeiten der durch Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des BEG hervorgerufenen Arbeitslosigkeit als Ersatzzeiten anzurechnen, wenn - wie bei der Klägerin - die weiteren Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AVG erfüllt sind. Diese Ersatzzeiten werden - als beitragslose Zeiten - sowohl auf die Wartezeit angerechnet (§ 27 Abs. 1 Buchst. b AVG) als auch bei der Ermittlung der anrechenbaren Versicherungsjahre (§ 35 AVG) und damit für die Berechnung der Rentenhöhe berücksichtigt (§§ 30, 31 AVG). Diese Vorschriften ersetzen für den Kreis der Verfolgten des Nationalsozialismus in vollem Umfang die Vorschriften der §§ 3 Abs. 1 (Ersatzzeit für die Wartezeit), 4 Abs. 1, 3 (Berücksichtigung für die Rentenhöhe durch Steigerungsbeträge) des NVG und in Verbindung mit Art. 2 § 15 Abs. 2 AnVNG auch § 4 Abs. 2 NVG. Diese Vorschriften sind daher nach Art. 3 § 2 AnVNG auf Versicherungsfälle, die nach dem 31.12.1956 eingetreten sind oder eintreten, nicht mehr anzuwenden. Das bedeutet, daß für die Ersatzzeit keine Werte bei der Ermittlung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage einzusetzen sind, die persönliche Bemessungsgrundlage ist vielmehr ausschließlich aus Beitragszeiten zu ermitteln (§ 32 Abs. 1 AVG). Daran hat auch der durch das Rentenversicherungsänderungsgesetz (RVÄndG) mit Wirkung vom 1.1.1966 an eingeführte § 32 a AVG im Ergebnis nichts geändert; denn die wegen nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen anzuerkennenden Ersatzzeiten liegen sämtlich vor dem 1. Januar 1965, und für diese Zeiten sind die aus der persönlichen Bemessungsgrundlage gewonnenen Werte einzusetzen mit alleiniger Ausnahme der Fälle, in denen nicht mehr als 60 Kalendermonate mit Beiträgen belegt sind (§ 32 a Nr. 1 AVG). Dafür daß bei der Bewertung der von der Klägerin zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 erworbenen Beitragszeiten § 4 Abs. 5 NVG angewendet werden können und daß sich dadurch ihre persönliche Bemessungsgrundlage erhöht hätte, bieten die Feststellungen des LSG und der eigene Vortrag der Klägerin keinerlei Anhalt; nichts weist darauf hin, daß sie wegen der Verfolgungsmaßnahmen ein geringer bezahltes Arbeitsverhältnis habe eingehen müssen (§ 4 Abs. 5 NVG). Ebensowenig liegt ein Anhalt dafür vor, daß die Klägerin in den Zeiträumen, die als Ersatzzeit anrechenbar sind, ohne die Verfolgung einen höheren Arbeitsverdienst als die aus der persönlichen Bemessungsgrundlage sich ergebenden Werte gehabt hätte (§ 4 Abs. 4 NVG). Der Senat konnte daher offenlassen, ob und inwieweit § 4 Abs. 4, 5 NVG auch für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen nach dem 31.12.1956 noch anwendbar sind.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kann § 4 Abs.7 NVG nicht mehr angewendet werden, wenn Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG anzurechnen sind. § 4 Abs. 7 NVG setzt voraus, daß zwischen der Anrechnung der Ersatzzeit auf die Wartezeit und zur Erhaltung der Anwartschaft einerseits und ihrer Berücksichtigung für die Rentenhöhe durch Zubilligung von Steigerungsbeträgen andererseits unterschieden wird. Diese Unterscheidung zwischen "vollkommenen" und "unvollkommenen" Ersatzzeiten war im früheren Recht üblich (vgl. Dersch, Grundriß der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 132). Das neue Recht kennt diese Unterscheidung nicht mehr, vielmehr werden alle Ersatzzeiten auch bei der Ermittlung der anrechenbaren Versicherungsjahre und damit bei der Rentenhöhe berücksichtigt. Zu dieser Regelung steht § 4 Abs. 7 NVG in Widerspruch, er ist daher im Rahmen der Rentenfeststellung nach dem neuen Recht nicht mehr anzuwenden (Art. 3 § 2 AnVNG). Seine fernere Anwendung läßt sich auch nicht damit begründen, daß sonst dabei Schädigungen zweimal ausgeglichen würden, nämlich in der Rentenversicherung und in der Beamtenversorgung. Auch andere Tatbestände, die nach § 28 AVG zur Anerkennung von Ersatzzeiten in der Rentenversicherung führen, können nach den Vorschriften des Beamtenrechts gleichzeitig zur Anerkennung als ruhegehaltsfähige Dienstzeit in Betracht kommen. Die Versicherungsgesetze enthalten aber auch insoweit keine Vorschriften zur Vermeidung einer Doppelversorgung mehr; diese sind vielmehr dem Recht des öffentlichen Dienstes überlassen. So schränkt z.B. § 115 Abs. 2 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) bei versicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten, die zugleich ruhegehaltsfähig sind, die Doppelversorgung aus der gesetzlichen Rentenversicherung und dem Beamtenrecht dadurch ein, daß er eine teilweise Anrechnung der Renten auf die Versorgungsbezüge anordnet. Entsprechendes gilt für die Zeiten verfolgungsbedingter Arbeitslosigkeit. Sie sind im Rahmen der Wiedergutmachung ruhegehaltsfähige Dienstzeit (§ 112 Nr. 2 BBG, § 9 Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes - BWGöD -). Aus § 115 Abs. 4 BBG idF vom 22. Oktober 1965 (vorher Abs. 3) ergibt sich aber, daß Zeiten der Wiedergutmachung, die nach § 112 Nr. 2 BBG die ruhegehaltsfähige Dienstzeit erhöhen, den Beschäftigungszeiten nach § 115 Abs. 1 BBG gleichstehen. Damit ist § 115 Abs. 2 BBG auch auf diese Zeiten anzuwenden. Das bedeutet, daß der auf diese Ersatzzeiten entfallende Teil der Rente ebenfalls auf die beamtenrechtlichen Versorgungsbezüge nach Maßgabe des § 115 Abs. 2 BBG angerechnet wird (vgl. Plog/Wiedow, Anm. 51 zu § 115 BBG). Dasselbe gilt für Angestellte mit Anspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen, zu denen die Klägerin gehört (§ 21, § 9 Abs. 2 BWGöD idF vom 24.8.1961 BGBl I 1628).
Auch der Umstand, daß nach dem Rentenversicherungsänderungsgesetz die nach § 15 FRG anrechenbaren fremden Beitragszeiten bei der Feststellung der Rente nunmehr auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie der beamtenrechtlichen Versorgung zugrunde gelegt worden sind (Art. 1 § 4 Nr. 2, Art. 5 § 5 Abs. 1 RVÄndG), zeigt, daß solches Zusammentreffen von Ansprüchen nicht mehr durch die Vorschriften des Versicherungsrechts, sondern des Rechts des öffentlichen Dienstes geregelt wird. Dem steht nicht entgegen, daß Art. 1 § 4 Nr. 2 RVÄndG die doppelte Anrechnung von nicht versicherten Beschäftigungszeiten nach Versicherungsrecht (§ 16 FRG) und Beamtenrecht auch künftig durch die Neufassung des § 18 Abs. 3 FRG - also durch versicherungsrechtliche Vorschriften - ausschließt. Denn § 16 FRG soll für nicht versicherte Zeiten abhängiger Beschäftigung in bestimmten ausländischen Gebieten gewissermaßen subsidiär eine Versorgung gewähren, setzt also voraus, daß dafür noch keine andere Versorgung vorgesehen ist. Mehr besagt § 18 Abs. 3 FRG in der neuen Fassung nicht. Gerade das RVÄndG bestätigt also, daß grundsätzlich nunmehr das Recht des öffentlichen Dienstes die Vorschriften enthält, welche beim Zusammentreffen von Ansprüchen aus der gesetzlichen Versicherung und dem Recht der Beamtenversorgung anzuwenden sind.
Somit hat die Beklagte die genannten Zeiten verfolgungsbedingter Arbeitslosigkeit als reine Ersatzzeiten zu berücksichtigen, wie im einzelnen aus der Urteilsformel ersichtlich ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen