Leitsatz (amtlich)

1. Das BSG ist in den vom BGH übergegangenen Impfschadenssachen (vgl Art 3 Abs 1 des 2. ÄndG zum BSeuchG vom 1971-08-25 - BGBl 1 1401) an die tatsächlichen Feststellungen des OLG jedenfalls dann nicht gebunden, wenn die auf die Verletzung zivilprozessualer Vorschriften gestützten Revisionsgründe ergeben, daß diese Feststellungen bei Anwendung der für das Sozialgerichtsverfahren geltenden Vorschriften nicht verfahrensfehlerfrei hätten getroffen werden dürfen.

2. Zur Anwendung des SGG § 109 in Impfschadensstreitigkeiten.

 

Normenkette

SGG § 109 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 163 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Oberlandesgerichts München vom 3. Oktober 1968 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die am 11. April 1961 geborene Klägerin wurde am 8. Mai 1962 bei einem öffentlichen Impftermin vom Amtsarzt zum ersten Mal gegen Pocken geimpft. Sie war damals körperlich und geistig altersmäßig entwickelt und gesund. Bei der Nachschau am 15. Mai 1962 konnte ein Impferfolg nicht festgestellt werden. Am 19. Mai 1962 trat bei dem Kind eine fieberhafte Erkrankung auf, die der Hausarzt zunächst als Mittelohrentzündung diagnostizierte. Als der Arzt am 22. Mai 1962 keine Besserung feststellte und am 23. Mai 1962 Krämpfe und Bewußtlosigkeit auftraten, veranlaßte er die Einweisung der Klägerin in das Kinderkrankenhaus St. . Bei der Aufnahme in dieses Krankenhaus am 24. Mai 1962 war das Kind bewußtlos. Es wurden Krämpfe der rechten Körperhälfte und eine Blickwendung nach rechts oben festgestellt. Die bakteriologische Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit ergab eine erhebliche Zellvermehrung und später eine starke Eiweißvermehrung. Die Krämpfe ließen allmählich nach; es bleib aber eine rechtsseitige Lähmung bestehen, und eine Kontaktaufnahme war nicht möglich. Eine Reihe von weiteren Untersuchungen führte die behandelnden Ärzte des Krankenhauses zu der Vermutung, daß das Kind eine Meningitis (Meningoencephalitis - Entzündung des Gehirns und der Gehirnhäute) durchgemacht habe, die schon zur Zeit der Aufnahme in das Krankenhaus eine Hirnschädigung verursacht habe. Am 9. Juni 1962 wurde die Klägerin auf Veranlassung ihrer Eltern in das Kinderkrankenhaus an der L. in München verlegt. Dort wurde eine Untersuchung des Blutes und des Liquores (Rückenmarksflüssigkeit) auf haemagglutinationshemmende Antikörper (Reaktion auf Impfstoff) durchgeführt. Sie verlief negativ. Im Liquor wurden auch keine Impfviren festgestellt.

Das Kind erwies sich - auch bei späteren Untersuchungen - als intellektuell geschädigt, als praktisch blind und als gelähmt in der rechten Körperhälfte.

Die Eltern der Klägerin sind der Auffassung, die Gesundheitsstörungen seien auf die Pockenschutzimpfung zurückzuführen. Sie begehren aufgrund ihres Antrags vom 15./25. Oktober 1962 Entschädigung zunächst auf Grund von § 51 des Bundesseuchengesetzes (BSeuchenG aF) vom 18. Juli 1961 (Bundesgesetzblatt I 1012). Entsprechend dem Gutachten der Bayerischen Landesimpfanstalt vom 7. März 1963 lehnte die Regierung von Oberbayern den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 3. April 1963 ab. Es sei festgestellt worden, daß die Schutzimpfung keinen Erfolg gehabt habe. Es sei weder eine lokale noch eine allgemeine Reaktion eingetreten. Die serologische Untersuchung sei negativ verlaufen. Auch ein auslösender oder verschlimmernder Einfluß der Schutzimpfung auf eine vielleicht vorhanden gewesene andersartige Infektion könne nicht angenommen werden. - Dem Abhilfegesuch der Klägerin wurde nicht stattgegeben.

Das Landgericht München I wies die auf die Feststellung der Entschädigungspflicht des Beklagten gerichtete Klage durch Urteil vom 2. Dezember 1965 ab. Es schloß sich dem Gutachten von Privatdozent Dr. V, Oberarzt der Kinderpoliklinik der Universität M, vom 11. August 1965 an. Dieser Gutachter hatte im wesentlichen ausgeführt, die Erkrankungen und Folgezustände, wie sie bei der Klägerin vorlägen, kämen zwar auch als ursächliche Folge der Pockenschutzimpfung in Form der sogenannten Impfencephalitis vor. Diese Impfencephalitiden pflegten auch in der Zeit zwischen 4 bis 18 Tagen nach der Impfung aufzutreten. Da genau gleichartige Erkrankungen aber auch durch zahlreiche andere Krankheitserreger ohne jeden Zusammenhang mit einer Impfung auftreten könnten, dürfe ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer Meningoencephalitätserkrankung und einer Impfung nur dann angenommen werden, wenn sich nachweisen lasse, daß das Vakzine-Virus bei der Impfung tatsächlich in den Körper des Impflings eingedrungen sei. Dieser Nachweis lasse sich nur führen durch das Auftreten einer Impfpustel und Impfnarbe an der Impfstelle oder durch den Nachweis des Impfvirus in den Körperflüssigkeiten des Impflings oder durch den Nachweis von gegen das Vakzine-Virus gerichteten Antikörpern oder durch die Feststellung einer Impfallergie mit Hilfe des Vakzine-Antigen-Tests. Da alle diesbezüglichen Untersuchungen bei der Klägerin negativ ausgefallen seien, sei in Übereinstimmung mit dem Gutachten der Bayerischen Landesimpfanstalt ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Impfung abzulehnen.

Das Oberlandesgericht München wies durch Urteil vom 3. Oktober 1968 die Berufung der Klägerin zurück. Die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Impfung und Körperschaden sei unter Anwendung des § 287 ZPO zu beurteilen, der dem Tatrichter im Verhältnis zu § 286 ZPO eine freiere Stellung gebe und das tatrichterliche Ermessen über die Schranken des § 286 erheblich ausdehne. Ob darüber hinaus die durch die Einfügung des § 51 Abs. 4 BSeuchG aF (durch das Änderungsgesetz vom 23.1.1963 BGBl I 57) für gewisse Impfschadensfälle geschaffene Beweiserleichterung nicht Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens sei, der auch bei der Prüfung der unmittelbar durch die Impfung Geschädigten zur Anwendung zu kommen habe, könne für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits dahinstehen. Denn selbst bei Anwendung der Beweisregel dieser Vorschrift könne die Klägerin mit der Klage nicht durchdringen, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ihre Erkrankung nach wissenschaftlicher Erkenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht durch die Impfung hervorgerufen worden sei. Das sei durch die vorgenannten Gutachten und besonders durch das auf Anforderung des Oberlandesgerichts (OLG) erstattete Gutachten von Prof. Dr. M, Chefarzt des Kinderkrankenhauses B, vom 28. März 1967, seiner ergänzenden Stellungnahme vom 23. November 1967 und seiner mündlichen Erläuterung im Termin vom 26. Januar 1968 überzeugend dargetan. Für das Zustandekommen einer Impfencephalitis sei eine Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfvirus unabdingbare Voraussetzung. Der Gutachter Prof. Dr. M habe die möglichen Methoden zur Feststellung dieser Auseinandersetzung angewendet bzw. berücksichtigt. Es sei aber kein positives Ergebnis erzielt worden. Ferner sei aufgrund der Untersuchungsergebnisse dieses Gutachters ausgeschlossen, daß die Klägerin zu denjenigen Personen gehöre, die nicht in der Lage seien, Abwehrstoffe zu bilden. Das von der Klägerin beigebrachte Privatgutachten von Medizinalrat Dr. B vom 22. Mai 1966 sei nicht stichhaltig, weil dieser Gutachter nur die Unzuverlässigkeit des serologischen Tests geschildert, Prof. Dr. M aber seine Untersuchung auf alle bekannten Testmöglichkeiten ausgedehnt habe. Die Einholung weiterer Gutachten von Prof. Dr. S, Universität W, und von dem Bundesgesundheitsamt, wie sie von der Klägerin beantragt worden seien, sei nicht erforderlich, weil die vorliegenden Gutachten ausreichend seien und nicht dargetan sei, daß die von der Klägerin genannten Gutachter weitere und bessere Erkenntnisquellen hätten als Prof. Dr. M. - Die Revision brauche nicht zugelassen zu werden, weil der Beschwerdegegenstand die Revisionssumme von DM 15.000,- überschreite -.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 7. November 1968 zugestellte Urteil am 3. Dezember 1968 Revision zum Bayerischen Obersten Landesgericht eingelegt. Dieses hat am 13. Dezember 1968 beschlossen, daß zur Verhandlung und Entscheidung über die Revision der Bundesgerichtshof (BGH) zuständig ist. Der Beschluß wurde der Klägerin am 17. Dezember 1968 zugestellt. Auf Antrag der Klägerin wurde die Frist zur Begründung der Revision bis zum 17. April 1969 verlängert. Die Klägerin hat die Revision am 16. April 1969 begründet. Sie rügt die Verletzung der §§ 282, 286, 287, 412 Zivilprozeßordnung (ZPO) in Verbindung mit den Grundsätzen des Anscheinsbeweises und des § 51 BSeuchG aF. Sie führt im wesentlichen aus: Es könne dahingestellt bleiben, ob die Kausalitätsfrage verfahrensmäßig unter Anwendung des § 286 ZPO oder des § 287 ZPO zu beurteilen gewesen sei. Im ersten Falle seien die Grundsätze für den Beweis des ersten Anscheins unmittelbar anzuwenden, aber auch im Bereich des § 287 ZPO seien die beim Anscheinsbeweis zu berücksichtigenden Umstände im Rahmen der Beweiswürdigung zu verwerten. Hiernach sei der Ursachenzusammenhang zu bejahen. Da nach dem derzeitigen Stande der Wissenschaft die nach einer Impfung auftretenden Wirkungen und Reaktionen in ihren Einzelheiten noch weitgehend unbekannt seien, sei es auch völlig unbillig, dem in typischer Weise Impfgeschädigten den vollen Beweis des Ursachenzusammenhangs aufzubürden. Dieser Gedanke liege auch § 51 Abs. 4 BSeuchG aF zugrunde. Die hiernach für Impfschadensfälle anzuwendende Beweiserleichterung lasse sich dahin umschreiben, daß für eine Erkrankung, die sich nach sachlichen und zeitlichen Umständen als typische Impffolge darstelle, der Ursachenzusammenhang zwischen Impfung und übernormaler Impfreaktion auf den ersten Anschein als bewiesen anzusehen sei, es sei denn, die Krankheit sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch eine andere konkrete Ursache hervorgerufen worden.

Sie, die Klägerin, sei vor der Impfung vollkommen gesund gewesen und im typischen zeitlichen Abstand zu dem Impfvorgang unter den für eine postvakzinale Encephalitis typischen Erscheinungen erkrankt. Diese Sachlage allein genüge, um nach dem ersten Anschein den Ursachenzusammenhang zu beweisen. Um den Anscheinsbeweis auszuräumen, hätte der Beklagte einen atypischen Hergang dartun müssen. Er hätte beweisen müssen, daß die als typischer Impfschaden sich darstellende Krankheit eine andere konkrete Krankheitsursache gehabt habe. Dieser Beweis sei nach den Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. M nicht geführt. Der Sachverständige habe ausgeführt, daß er die Ursache der hier entstandenen Encephalitis nicht angeben könne. Die abstrakte Möglichkeit, daß andere Erreger die Krankheit hervorgerufen haben könnten, genüge auch nach der Rechtsprechung des BGH (BGHZ 11, 230) nicht. Dagegen lasse sich der für die Klägerin sprechende Anscheinsbeweis nicht mit der Feststellung ausräumen, der serologische Befund habe nicht den Nachweis einer Immunisierung gebracht. Die Impfung sei ein Vorgang, dessen technisches Instrumentarium darauf gerichtet sei, das Vakzine-Virus in den Körper des Impflings zu bringen. Wolle man, wie das Berufungsgericht mit dem Sachverständigen Prof. Dr. M meine, fordern, es müsse der Nachweis erbracht sein, daß sich der Impfling in irgendeiner Weise auch mit dem Impfstoff auseinandergesetzt habe, dann würde man dadurch dem Impfgeschädigten gerade den Vollbeweis aufbürden, dessen Führung ihm durch den Anscheinsbeweis erleichtert werden solle. Der durch den typischen Zusammenhang entstandene Anschein könne nur durch den Beweis eines atypischen Hergangs ausgeräumt werden. Dieser Beweis sei hier nach der Feststellung des Berufungsgerichts nicht geführt werden und auch nicht zu führen. - Der Sachverständige selbst habe eine nochmalige Blutuntersuchung für erforderlich gehalten. Dies sei lediglich deshalb unterblieben, weil ihr Vater geäußert habe, er halte eine weitere Untersuchung des Blutes für nicht erforderlich. Damit habe sich das Berufungsgericht nicht zufrieden geben dürfen. Vielmehr habe es dem durch die Äußerung des Sachverständigen deutlich gewordenen Zweifel nachgehen und weitere Blutuntersuchungen anordnen müssen. Davon habe erst dann abgesehen werden können, wenn beide gesetzliche Vertreter sich geweigert hätten, an der Durchführung einer gerichtlichen Beweisanordnung mitzuwirken. Die Klägerin habe vor dem Berufungsgericht ein weiteres Gutachten des Bundesgesundheitsamts, Robert-Koch-Institut in Berlin, beantragt, um nachzuweisen, daß die negativen Untersuchungsergebnisse nach 4 Jahren nicht zwingend schlüssig seien, das heiße, daß eine aktive Auseinandersetzung mit dem Impfstoff nicht auszuschließen sei. Das Berufungsgericht habe diesen Antrag nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, es sei nicht dargetan, daß dem genannten Sachverständigen weitere und bessere Erkenntnisquellen zur Verfügung stehen. Da der vom Berufungsgericht gehörte Sachverständige Prof. Dr. M Kinderfacharzt sei, sei das Berufungsgericht verpflichtet gewesen, für die hier umstrittene serologische Spezialfrage das genannte Fachinstitut zu Rate zu ziehen, dessen Überlegenheit auf diesem Fachgebiet offenkundig sei.

Sie beantragt,

das Urteil des Oberlandesgerichts München vom 3. Oktober 1968 aufzuheben und festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, für die auf die Impfung vom 8. Mai 1962 zurückzuführenden Gesundheitsschäden Entschädigung (Schadenersatz) zu leisten;

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Nachdem der Rechtsstreit aufgrund des Zweiten Gesetzes zur Änderung des BSeuchG (ÄndG) vom 25. August 1971 (BGBl I 1401) auf das Bundessozialgericht (BSG) übergegangen ist, beantragt der Beklagte,

das Urteil des Oberlandesgerichts München vom 3. Oktober 1968 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das nunmehr zuständige Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Er ist der Auffassung, der Sachverhalt sei in tatsächlicher Hinsicht nicht ausreichend aufgeklärt, weil bisher die Frage, ob die bei der Klägerin aufgetretenen Gesundheitsstörungen auch bei nicht angegangener Impfung die Folge des rein technischen Impfvorganges sein könnten, nicht geprüft worden sei. Die Frage, ob durch die Impfwunde Krankheitserreger in den Körper eingedrungen seien und die Gesundheitsstörungen hervorgerufen hätten oder ob durch die Impfung die Abwehrkräfte geschwächt worden seien und als Folge davon die Erkrankung der Klägerin eingetreten sei, könne nur durch ein eingehend wissenschaftlich begründetes Gutachten von einem namhaften Sachkenner beantwortet werden. Eine Kannleistung aufgrund von § 52 Abs. 2 Satz 2 des BSeuchG idF des ÄndG (BSeuchG nF) komme nicht in Betracht, weil über die Ätiologie einer Encephalitis in der medizinischen Wissenschaft keine Ungewißheit bestehe. Ohne Bedeutung sei es, wenn im Einzelfall die eigentliche Ursache, die Art des Krankheitserregers, diagnostisch nicht geklärt werden könne.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig. Die Zulässigkeit richtet sich, da das angefochtene Urteil vor Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung des BSeuchG (ÄndG) vom 25. August 1971 (BGBl I 1401) ergangen ist, nach den Vorschriften der ZPO (Artikel 3 Abs. 2 ÄndG). Die Revision ist statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 15.000,- DM übersteigt (§ 546 Abs. 1 ZPO idF vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Entlastung des BGH vom 15. August 1969 - BGBl I 1141). Die Revision ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 552 - 554 ZPO, § 7 EGZPO). Der Rechtsstreit ist vom BGH auf das BSG als das zuständige Gericht des betreffenden Rechtszugs übergegangen, weil eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt, für die der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben ist (Artikel 3 Abs. 1 ÄndG, §§ 61 Abs. 2, 51 BSeuchG nF). Die Revision ist auch insofern begründet, als der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), das nunmehr das Bayerische Landessozialgericht (LSG) ist (§§ 57, 143 SGG).

Das angefochtene Urteil entspricht nicht dem Recht des BSeuchG nF, das auch im Falle der Rechtshängigkeit anzuwenden ist (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 ÄndG), wenn über einen Antrag auf Gewährung von Entschädigung wegen eines vor dem Inkrafttreten des ÄndG erlittenen Impfschadens zu entscheiden ist (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 ÄndG). Über einen Antrag auf Gewährung von Entschädigung ist auch dann zu entscheiden, wenn, wie hier, nur ein Feststellungsantrag über die Entschädigungsverpflichtung des Beklagten gestellt ist (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Eine Neuformulierung des Antrags im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG - ist nicht erforderlich. Aus dem ÄndG kann nicht entnommen werden, daß vor der Entscheidung rechtshängiger Fälle die jetzt zuständige Versorgungsbehörde (Art. 2 Abs. 6 ÄndG) etwa zunächst einen neuen Bescheid erlassen müßte (aA: Rühl in SGb 1972, 85, 86). Der nach Art. 3 Abs. 1 ÄndG vorgeschriebene Übergang auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit des jeweiligen Rechtszugs, weist vielmehr darauf hin, daß die unter Geltung des früheren Rechts ergangenen Bescheide unter Anwendung des neuen Rechts von den Sozialgerichten zu überprüfen sind.

Der Anspruch ist nun unter entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu beurteilen (§ 51, Abs. 1 BSeuchG nF). Während bisher grundsätzlich (abgesehen von den besonderen Fällen des § 51 Abs. 4 BSeuchG idF des ÄndG vom 23. Januar 1963 - BGBl I 57) zur Begründung eines Impfschadensanspruchs der Nachweis erforderlich war, daß der erlittene Gesundheitsschaden auf die Impfung zurückzuführen ist (§ 51 Abs. 1 BSeuchG aF), genügt jetzt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG nF). Das OLG hat diese Kausalitätsnorm nicht angewendet, so daß die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Impfung und Gesundheitsschaden nicht eindeutig bejaht oder verneint worden ist.

Aus den Urteilsgründen ist allerdings der Schluß zu ziehen, daß das OLG die Ursächlichkeit auch dann verneint hätte, wenn diese nur hätte wahrscheinlich zu sein brauchen. Denn das OLG hat unterstellt, daß sich aus § 51 Abs. 4 BSeuchG aF, der unmittelbar für andere Fälle gilt, ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Inhalts ableiten lasse, daß ein Gesundheitsschaden, der seiner Art nach durch die Impfung verursacht sein kann, nur dann nicht als Impfschaden anzuerkennen ist, wenn festgestellt werden kann, daß der Gesundheitsschaden nach wissenschaftlicher Erkenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tatsächlich nicht durch die Impfung verursacht worden ist. Das OLG hat dementsprechend den Anspruch der Klägerin nicht deshalb abgelehnt, weil der ursächliche Zusammenhang zwischen Gesundheitsschaden und Impfung nicht nachgewiesen war, sondern weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Erkrankung der Klägerin nach wissenschaftlicher Erkenntnis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht durch die Impfung hervorgerufen worden sei (Seite 12/13 des Urteils). Daraus ist zu ersehen, daß das OLG das Ergebnis der Beweisaufnahme für so eindeutig hielt, daß es sogar die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs für ausgeschlossen ansah. Damit hat das OLG - wenn es schon die Möglichkeit verneinte - unausgesprochen auch die Wahrscheinlichkeit für ausgeschlossen gehalten. Diese durch das OLG aus dem Beweisergebnis gewonnene Erkenntnis ist eine tatsächliche Feststellung. An tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ist das BSG gebunden, wenn nicht in bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 SGG). Das BSG ist an die Feststellung der fehlenden Ursächlichkeit auch im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG somit nur dann nicht gebunden, wenn geltend gemacht wird, das Verfahren der Tatsacheninstanz leide an wesentlichen Verfahrensmängeln, die tatsächlich vorliegen (vgl. BSG 1, 150). Nach der § 163 SGG zugrunde liegenden Vorstellung kommen als Mängel nur Verstöße gegen Vorschriften in Betracht, die das sozialgerichtliche Verfahren betreffen. Eine andere Beurteilung ist nicht deshalb möglich, weil das bisherige Verfahren nach zivilprozessualen Vorschriften durchzuführen war. Denn nachdem nun die Vorschriften des BVG entsprechend anzuwenden sind (§ 51 Abs. 1 BSeuchG nF) und der Sozialrechtsweg gegeben ist (§ 61 Abs. 2 aaO), richten sich die noch nicht rechtskräftig beendeten Verfahren nach den Vorschriften des SGG. Die Beurteilung von Verfahrensverstößen durch das BSG hat im übrigen den Sinn, daß sie in einem etwa notwendig werdenden weiteren Verlauf des Rechtsstreits vor der sozialgerichtlichen Tatsacheninstanz vermieden werden. Da somit der Rechtsstreit jetzt ausschließlich nach den Vorschriften des SGG fortzuführen ist, steht die streitige Feststellung unter dem Vorbehalt, daß sie bei Anwendung der für das sozialgerichtliche Verfahren geltenden Vorschriften verfahrensfehlerfrei hätte getroffen werden dürfen. Ob wegen des Übergangs des Verfahrens vom BGH zum BSG nach erfolgter Begründung der Revision der Senat befugt wäre, in teilweiser Abweichung von § 163 SGG auch von Amts wegen zu prüfen, ob Verfahrensmängel vorliegen, oder ob die eingetretene Rechtsänderung die Vorschrift des § 163 SGG u.U. auch in sonstiger Hinsicht einschränkt, kann dahinstehen. Denn die Revisionsbegründung ergibt mit hinreichender Deutlichkeit, daß Mängel im Verfahren des OLG gerügt wurden, die jedenfalls dann als Verfahrensverstöße anzusehen wären, wenn schon in der Tatsacheninstanz die für die Sozialgerichtsbarkeit geltenden Verfahrensvorschriften hätten angewendet werden müssen. Hierauf kommt es hier an.

1.)

Die Klägerin beanstandet, das OLG habe - unter Verstoß gegen §§ 286, 412 ZPO - unterlassen, ihrem Antrag zu entsprechen, ein weiteres Gutachten des Bundesgesundheitsamts, Robert-Koch-Instituts Berlin, zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs einzuholen. Dieses Vorbringen stellt - bezogen auf das sozialgerichtliche Verfahren - eine Rüge der Verletzung des § 103 SGG und insbesondere auch des § 109 SGG dar. Nach § 109 SGG ist einem Antrag des Versorgungsberechtigten, einen bestimmten "Arzt" gutachtlich zu einer für die Entscheidung rechtserheblichen Frage zu hören, zu entsprechen. Der Antrag kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, das Gutachten könne die Entscheidung nicht mehr beeinflussen (BSG im SozR SGG Nr. 1 zu § 109). Die Klägerin hat zwar auf S. 3 ihres Schriftsatzes vom 29. März 1968 zum Beweisantritt keinen bestimmten Arzt namentlich benannt, doch wäre er individuell bestimmbar gewesen (vgl. BSG im SozR SGG Nr. 5 zu § 109). Hätten Zweifel bestanden, ob ein Arzt oder ein anderer Fachmann (etwa Bakteriologe) als Gutachter gemeint war, so wären bei Beachtung des § 109 SGG i.V.m. der Aufklärungspflicht des Vorsitzenden nach § 106 SGG diese Fragen zu klären gewesen. Die Formulierung "ein bestimmter Arzt" in § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG könnte der Anhörung eines bloßen "Bakteriologen", wenn es hierauf entscheidend ankäme, nach dem Sinn und Zweck des § 109 SGG - jedenfalls in Impfschadensfällen - nicht grundsätzlich entgegenstehen. Im übrigen hat die Klägerin auf Seite 2 ihres Schriftsatzes vom 29. März 1968 den Direktor der Seuchenforschungsabteilung dieses Instituts, Prof. Dr. R, namentlich benannt. Sie hat ihren damals gestellten Antrag nicht etwa dadurch verwirkt, daß sie ihn in der mündlichen Verhandlung vom 4. April 1968 nicht ausdrücklich wiederholte (vgl. BSG in SozR SGG Nr. 3 zu § 109). Denn sie hat ihn später, noch vor der Verkündung des Urteils nämlich mit Schreiben vom 3. September 1968 erneut gestellt. Wenn das LSG den Rechtsstreit in der Berufungsinstanz zu entscheiden gehabt hätte, wäre es somit verpflichtet gewesen, dem Antrag auf Einholung eines solchen Gutachtens zu entsprechen.

2.)

Die Klägerin beanstandet, daß das OLG nicht der Anregung des Sachverständigen Prof. Dr. M gefolgt sei, eine nochmalige Blutuntersuchung anzuordnen. Das OLG habe nicht schon deshalb davon absehen dürfen, weil ihr Vater geäußert habe, er halte dies nicht für erforderlich (vgl. OLG-Akte Bl. 199). Bezogen auf das sozialgerichtliche Verfahren stellt sich dieses Vorbringen als hinreichend substantiierte Rüge der Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungspflicht) dar. Die Klägerin bringt zum Ausdruck, daß sich das LSG hätte gedrängt fühlen müssen, der Anregung des Sachverständigen zu folgen. Auch diese Rüge hat Erfolg. Zwar hätte wohl auch im sozialgerichtlichen Verfahren eine Untersuchung der Klägerin gegen den Widerspruch der Erziehungsberechtigten nicht durchgesetzt werden können. Die ablehnende Äußerung des Vaters der Klägerin hätte aber das Berufungsgericht im - kostenfreien - sozialgerichtlichen Verfahren nicht abhalten dürfen, ohne weitere Ermittlung der Gründe für die ablehnende Haltung des Vaters der Klägerin, den von Prof. Dr. M für ratsam gehaltenen Beweis zu erheben. Es ist insbesondere nicht auszuschließen, daß der Vater der Klägerin nur wegen der zu befürchtenden Kosten die nochmalige Untersuchung abgelehnt hat.

3.)

Die Darlegungen der Klägerin in der Revisionsbegründung deuten möglicherweise noch eine weitere Verletzung des § 103 SGG i.V.m. § 128 Abs. 1 SGG (Recht der freien Beweiswürdigung) an. Das OLG ist allerdings zutreffend nicht davon ausgegangen, daß die Krankheitsentwicklung für eine postvakzinale Encephalitis typisch gewesen sei. Die Meinung des OLG konnte sich auf die Äußerungen der Sachverständigen stützen, die übereinstimmend ausführten, daß in allen bekannten Fällen der postvakzinalen Encephalitis der Impfstoff in den Körper des Impflings eingedrungen sei, was bei der Klägerin nicht der Fall gewesen sei. Daher ist nicht ersichtlich, daß die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis schon aufgrund der bisherigen Beweisergebnisse vorgelegen hätten. Auf Seite 5 der Revisionsbegründung trägt die Klägerin aber vor, daß die Impfung ein Vorgang sei, dessen technisches Instrumentarium darauf gerichtet sei, das Vakzinevirus in den Körper des Impflings zu bringen. Damit ist die Zufügung einer äußeren Verletzung im Rahmen des Impfvorgangs angesprochen, die die Frage aufwirft, ob der technische Vorgang der Impfung das Eindringen desjenigen Virus begünstigt hat, der die Krankheit verursachte. Der auffallende zeitliche Zusammenhang mit der Impfung und der äußeren Verletzung legt die Frage nahe, ob nicht bereits durch die Impfwunde eine besondere Ansteckungsgefahr entstanden ist, ob durch den äußeren Impfvorgang Krankheitserreger in den Körper eindrangen oder ob die Abwehrreaktion der Klägerin gegen den Erreger der Encephalitis geschwächt wurde und ob schließlich bei dem öffentlichen Impftermin die Ansteckungsgefahr für eine derartige Erkrankung besonders erhöht war (vgl. hierzu auch Urteil des BGH vom 26. Januar 1970 - III ZR 91/69). Ferner drängt sich die Frage auf, ob der Hausarzt die schwere Hirnentzündung etwa deshalb nicht rechtzeitig erkannt hat, weil zunächst anzunehmen war, daß eine normale Impfreaktion vorläge, die keiner besonderen Behandlung bedürfe. Zu solchen Erwägungen hätte auch die Bemerkung des Sachverständigen Prof. Dr. M Anlaß geben sollen, jeder Kliniker wisse, daß z.B. nach der Poliomyelitis-Schluckimpfung zahlreiche Kinder wegen einer Impfschädigung eingewiesen würden, deren Krankheiten sich aber als auch sonst zu beobachtende Krankheiten herausstellten, die nichts mit der vorhergehenden aktiven Immunisierung zu tun hätten. Es ist naheliegend, daß der Gutachter damals zum Ausdruck bringen wollte, daß es auch nach einer Pockenschutzimpfung zu einer Häufung von Erkrankungen kommen könne, die mit der Immunisierung nicht im Zusammenhang stehen. Da es der Gutachter außerdem für möglich hält, daß sich aus der Mittelohrentzündung die Encephalitis entwickelte, ist ein möglicher Beitrag der Impfung, die mindestens zu einer äußeren Verletzung führte, im Sinne einer wesentlichen Mitursache denkbar. Dies vor allem auch deshalb, weil Prof. Dr. M die Frage, welcher andere Umstand oder welcher andere Erreger die Erkrankung hervorgerufen habe, nicht beantworten konnte. - Da die vorliegenden ärztlichen Gutachten zu diesen Fragen keine Stellung genommen haben, hätte das Berufungsgericht die Beweisergebnisse nicht für ausreichend halten dürfen. Es hätte sich nach § 103 SGG gedrängt fühlen müssen, weitere Beweise durch Beantwortung der offen gebliebenen Fragen zu erheben.

Da nicht auszuschließen ist, daß das angefochtene Urteil zugunsten der Klägerin ausgefallen wäre, wenn insbesondere die beiden zuerst erwähnten, hinreichend substantiierten Verfahrensfehler vermieden worden wären, beruht das Urteil hierauf (§ 162 Abs. 2 SGG). Die Revision ist somit begründet. Da das BSG die erforderlichen Beweise nicht selbst erheben kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das nunmehr zuständige Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Das LSG wird - wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht festgestellt werden kann - zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen des § 52 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG nF vorliegen. Hiernach kann Versorgung in gleicher Weise wie für einen Impfschaden gewährt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht. Die Anwendung dieser Vorschrift kann bei Vorliegen medizinischer Zweifel besondere Bedeutung gewinnen, wenn der zeitliche Zusammenhang zwischen Erstimpfung und Impfencephalitis so eng ist, daß er, wie Prof. Dr. M auf Bl. 135 der OLG-Akten ausführte, einen ursächlichen Zusammenhang "a priori wahrscheinlich macht". Ähnliches hätte zu gelten, wenn - was Prof. Dr. M ebenfalls andeutete - festgestellt werden könnte, daß auch nach Pockenschutzimpfungen Erkrankungen sich häufen, die "nichts mit der vorhergehenden aktiven Immunisierung zu tun haben". Die Ansicht der Beklagten, daß es über die Ursache einer Encephalitis in der medizinischen Wissenschaft keine Ungewißheit gebe, mag zutreffen. Ob das gleiche für den Fall einer Impf-Encephalitis zu gelten hat, wird ggf. im Verfahren vor dem LSG zu prüfen sein. Insoweit wird auch auf den Schlußabsatz des Privatgutachtens von Dr. B (Bl. 128 S. 6 d. OLG-Akten) verwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669132

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