Leitsatz (amtlich)
Solange über eine gegen den ursprünglichen Rentenbescheid erhobene Klage noch nicht rechtskräftig entschieden ist, fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis für eine auf eine Neufeststellung nach AVG § 79 gerichtete Klage.
Normenkette
AVG § 79; SGG § 94 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. April 1973 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 8. Juni 1972 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Durch Bescheid vom 16. August 1968 gewährte die Beklagte dem Kläger Altersruhegeld ab 1. September 1968. Gegen diesen Bescheid wandte sich der Kläger mit Schreiben vom 30. August 1968, eingegangen bei der Beklagten am 2. September 1968, und machte geltend, daß ihm die Zeit vom 1. Juli 1934 bis zum 14. September 1939 zu Unrecht nicht als Ersatzzeit angerechnet worden sei. Darauf erteilte die Beklagte dem Kläger am 5. November 1970 einen neuen Bescheid, mit dem sie den Antrag des Klägers "auf Neuberechnung seiner Rente unter zusätzlicher Berücksichtigung der Zeit vom 1. Juli 1934 bis zum 14. September 1939 als Ersatzzeit gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG" ablehnte. Die gegen den Bescheid erhobene Klage nahm der Kläger am 8. Juni 1972 zurück, nachdem er zuvor im Streitverfahren weiter geltend gemacht hatte, die Beklagte müsse auch die Zeit vom 1. Februar 1931 bis 30. Juni 1934 als Beitragszeit anerkennen. Dieses Vorbringen nahm die Beklagte zum Anlaß, dem Kläger am 16. September 1971 unter Berufung auf § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) einen weiteren Bescheid zu erteilen, in dem sie ausführte, sie habe sich nicht davon überzeugen können, daß das Altersruhegeld zu niedrig festgestellt worden sei. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies sie durch Bescheid vom 21. Januar 1972 zurück.
Im anschließenden Klageverfahren begehrte der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 16. September 1971 und des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 1972 sowie die Verurteilung der Beklagten zur Neuberechnung seines Altersruhegeldes. Das Sozialgericht (SG) Speyer wies die Klage durch Urteil vom 8. Juni 1972 ab, weil nicht nachgewiesen sei, daß für den Kläger in der Zeit von 1931 bis 1934 Beiträge entrichtet seien. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. September 1971 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 1972 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Das Schreiben des Klägers vom 30. August 1968 sei von der Beklagten zu Unrecht nicht als Klage gegen den Bescheid vom 16. August 1968 behandelt worden. Da die Beklagte dem Begehren des Klägers nicht durch die Erteilung eines positiven Bescheides abgeholfen habe, hätte sie das Schreiben dem SG vorlegen müssen. Demgemäß sei der Bescheid vom 16. August 1968 nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht in Bindung erwachsen; damit sei es der Beklagten aber verwehrt gewesen, einen Bescheid nach § 79 AVG zu erteilen. Daraus folge, daß der angefochtene Bescheid vom 16. September 1971 rechtswidrig ergangen und aufzuheben sei. Gegenstand des noch durchzuführenden Klageverfahrens werde auch die Zeit von 1931 bis 1934 sein. Soweit die Beklagte durch Bescheid vom 5. November 1970 über diese Zeit bereits eine Entscheidung getroffen habe, sei diese gegenstandslos, da darüber nicht die Beklagte, sondern das SG zu befinden habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und ausgeführt:
Zu Unrecht habe das LSG das Schreiben des Klägers vom 30. August 1968 als eine Klage gewertet. Aus dem Inhalt dieses Schreibens ergebe sich, daß der Kläger ersichtlich nicht die Überprüfung seines Antrages durch eine andere Stelle als die Beklagte gewünscht habe.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG Speyer vom 8. Juni 1972 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt
Zurückweisung der Revision.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Ergebnis begründet.
Vor dem LSG hat der Kläger nach dem Tatbestand des Berufungsurteils nur die Aufhebung des Bescheides vom 16. September 1971 und des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 1972 verlangt und nur darüber hat das LSG entschieden; es hat nicht dem weitergehenden Begehren auf Verurteilung der Beklagten zur Neuberechnung des Altersruhegeldes stattgegeben. Da nur die Beklagte Revision eingelegt hat, ist im Revisionsverfahren allein zu prüfen, ob das LSG die Bescheide vom 16. September 1971 und 21. Januar 1972 zu Recht aufgehoben hat. Das ist nicht der Fall. Das LSG hat verkannt, daß die Klage aufgrund des festgestellten Sachverhalts wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß das Schreiben des Klägers vom 30. August 1968 als Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 16. August 1968 zu werten war. Diese Annahme läßt keinen Rechtsfehler erkennen. Der Kläger hatte zum Ausdruck gebracht, daß der Bescheid nicht dem Gesetz entspreche, und um "Berichtigung" gebeten. Es mag sein, daß er in erster Linie sein Vorbringen schon durch die Beklagte selbst berücksichtigt sehen wollte. Daraus folgt jedoch nicht, daß er auch auf eine Nachprüfung im Rechtswege hat verzichten wollen. Wenn der Empfänger eines Bescheides dessen Richtigkeit innerhalb der Klagefrist anzweifelt, will er in der Regel nicht lediglich Gegenvorstellung erheben (vgl. hierzu Urteil des 4. Senats vom 31. Januar 1974 - 4 RJ 167/73). Der Kläger hatte zudem keinen Anlaß, seine Bitte um Nachprüfung in diesem Sinne einzuschränken. Auch daraus, daß er um Berichtigung nach Eingang einer Bescheinigung der Wiedergutmachungsbehörde gebeten hat, folgt nichts anderes. Der Kläger hat sich offenbar nur von der Vorstellung leiten lassen, daß es zur weiteren Rechtsverfolgung dieser Bescheinigung bedurfte. Die Beklagte hätte deshalb die "Klageschrift" entsprechend der Vorschrift des § 91 Abs. 2 SGG an das zuständige SG abgeben müssen.
Der mit der "Klage" vom 30. August 1968 eingeleitete Rechtsstreit ist bis jetzt nicht erledigt. Die Beklagte hat diese - erste - Klage durch den Bescheid vom 5. November 1970 nicht erledigen können. Die erste Klage ist auch nicht durch die - zweite - Klage gegen den Bescheid vom 5. November 1970 erledigt worden. Ebensowenig hat die Rücknahme dieser zweiten Klage am 8. Juni 1972 sich auf die erste Klage gegen den Bescheid vom 16. August 1968 auswirken können. Die zweite Klage betraf nämlich einen anderen Streitgegenstand als den der ersten Klage vom 30. August 1968. Die Beklagte hat im Verfügungssatz des Bescheides vom 5. November 1970 ausdrücklich eine "Neuberechnung" der Rente abgelehnt. Dementsprechend ging es im folgenden (zweiten) Klageverfahren nur um solche Neuberechnungsansprüche. Die Klage gegen den Bescheid vom 16. August 1968 war dagegen die nach einem Erstbescheid übliche Anfechtungs- und Leistungsklage und nicht eine Verpflichtungsklage auf Neuberechnung.
Unter diesen Umständen entbehrt die jetzige dritte Klage, mit der eine Anwendung von § 79 AVG erstrebt wird, des Rechtsschutzbedürfnisses (vgl. BSG 3, 135 (140)). Der Kläger kann heute noch das Verfahren der ersten Klage sogar ohne Mitwirkung der Beklagten betreiben; selbst wenn diese das Schreiben vom 30. August 1968 nicht an das SG abgeben würde, hindert ihn das nicht, beim SG unter Hinweis auf das als Klageschrift zu wertende Schreiben die Durchführung des Klageverfahrens zu beantragen. Die Anfechtung des Erstbescheides über die Rente führt dabei zu einer vollen Nachprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht, während eine auf § 79 AVG gestützte Klage, der zudem ein Vorverfahren vorauszugehen hat, nur durchzudringen vermag, wenn die Unrechtmäßigkeit des früheren Bescheides so offensichtlich ist, daß sie der Versicherungsträger hätte erkennen müssen (BSG 19, 38 (44); 26, 89 (93)). Es ist nicht ersichtlich, welches schutzwürdige Interesse ein Rechtsuchender an der Beschreitung des zuletzt genannten Weges sollte haben können, solange ihm die günstigere Möglichkeit, eine umfassende Nachprüfung zu bewirken, noch nicht verschlossen ist. Noch viel weniger besteht ein Rechtsschutzinteresse an einer bloßen Aufhebung des Bescheides vom 16. September 1971 aus den vom LSG angeführten Gründen.
In dem Klageverfahren gegen den Erstbescheid vom 16. August 1968 kann der Kläger im übrigen nicht nur die Anrechnung der dort bereits geltend gemachten Ersatzzeit vom 1. Juli 1934 bis 14. September 1939, sondern - ggf. im Wege der Klageerweiterung - ferner die Anrechnung einer Beitragszeit vom 1. Februar 1931 bis 30. Juni 1934 geltend machen.
Ein Rechtsschutzbedürfnis für die jetzige - dritte - Klage läßt sich demgegenüber nicht damit begründen, daß die hier vorgenommene Bewertung des Schreibens vom 30. August 1968 die Gerichte, die über diese "Klage" zu entscheiden haben, nicht zu binden vermag. Der Senat sieht deswegen auch keinen Anlaß, dem Kläger durch eine zu erwägende Anordnung des Ruhens des jetzigen Verfahrens die Möglichkeit der Durchführung eines Verfahrens nach § 79 AVG offen zu halten, weil dem Kläger diese Möglichkeit immer verbleibt.
Somit kann dahingestellt bleiben, ob die Beklagte Bescheide - hier: negative - in Verfahren nach § 79 AVG nur erlassen darf, wenn der vorausgegangene Erstbescheid bereits bindend geworden ist. Wenn der Erstbescheid noch nicht bindend ist, fehlt jedenfalls für eine Klage gegen Bescheide in Verfahren nach § 79 AVG das Rechtsschutzbedürfnis. Das LSG hätte daher die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückweisen müssen, weil die Klage schon als unzulässig anzusehen war. Mithin war, wie geschehen, in der Sache zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen